varietate fortunae: Wolfgang

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Wie lange dauerte mein Tief? Dreissig Monate? Vier Jahre? Ich weiss es nicht. Wann ist der Anfangspunkt wann das Ende zu setzen?

Nicht ich räppelte mich auf. Wolfgang war es. Ein Arbeitskollege, scheu, suizidär und zurückgezogen wie ich. Ein unscheinbarer Prokurist im Firmenarchiv, kaum grösser als ich, mit sehr dünnem, spärlichem Haupthaar und rundlichem Kopf, in dem grosse, rehbraune Augen und ein überbetont sinnlicher Mund in einer seltsamen Disharmonie steckten, an dessen Mittagstisch ich irgendwann zufällig geraten war. Rollkragenpulloverträger. Kakteensammler. Wusste mit stacheligen Dingen besser umzugehen als mit glatten. Und hatte doch so feine, zarte, langgliedrige Hände, einen durchtrainiert erscheinenden, scharf geschnittenen und fast fettlosen Torso, lange, stark behaarte Beine und erstaunlich kleine, zartgliedrige Füsse. Begann vom ersten Moment an zu werben, unaufdringlich, beharrlich, scheu. Hörte mehr zu und schwieg, statt zu erzählen. Und wenn auch ich schwieg, schwiegen wir eben beide. Konnten gemeinsam schweigen. Er verstand viel. Kannte ohne zu fragen den Kreislauf von Vorsatz, Nichtvollziehenkönnen und Versagen, und griff ohne grosse Fragerei ein.

So meine ich es. Er griff ein. Mauern, Schranken und Stacheln, die ich zum Schutz gegen die Umwelt um mich herumgebaut hatte - oder die mit mir gewachsen waren - interessierten ihn nicht, er übersah sie, griff direkt an ihnen vorbei, wie wenn sie nicht existierten. Griff an ihnen vorbei, direkt an meine Haut. Liess seine Hände auf meinem Körper wie auf einem vergessenen Instrument spielen und brachte mich zum Schwingen und zum Klingen. Klang selber dabei, sang sein eigenes Lied. Unsere Lieder waren stets zweistimmig, er verkrampfte sich nicht auf eine Suche nach Harmonie. Das gefiel mir. Ich spürte seine Hände noch Stunden nach der Begegnung an meinem Körper, wie ein passendes Kleidungsstück schmiegte sich das Nachgefühl an meine Haut, von der er zu schwärmen nicht nachliess, wie erstaunlich zart und weich sie sei. Ob sie es wirklich war? Ob es eine Frau gibt, deren Haut nicht zart ist? Unwichtig. Es ist unwichtig, was wir einander im Verlangen zuflüstern, wichtig nur, dass wir es tun. Poesie der Expiration. Ausatmen. Welterschaffen durch Ausatmen. Rausatmen, innen Platz lassen für Neues, Heiles, Aufbauends. Erstaunlich war auch für mich dieses Aufblühen meines Körpers, ausgerechnet oder gerade in dieser sonst so kargen Zeit.

Wie die Geschichte zwischen Wolfgang und mir begann? Keiner von uns beiden erinnerte sich später daran. Es war einfach irgendwann da. Das gemeinsam-Mittagessen ergab sich schnell, irgendwann kam unser erster gemeinsamer Ausgang, der zweite, der dritte, irgendwann war das gemeinsam-Ausgehen selbstverständlich, dann kam seine tastende, fragende Hand, wie zufällig, wurde es schwieriger, einander anzublicken, verselbständigten sich die Hände, irgendwann standen wir eng nebeneinander und streichelten unsere ausgehungerten Körper. Die Hände weckten Tieferliegendes. Zitterndes Verlangen, das bei der geringsten Berührung zu lodern begann. Waren wir getrennt, bebten unsere Körper, riefen nach Wiederbegegnung. Waren wir zusammen, begleitete uns ein fast unstillbares Verlangen nach mehr, das kurz nach dem Akt wieder da war. Ein unendliches Rad. Als gäbe es keine Dornen. Als trügen wir keine Stacheln. Wir trafen uns, liebten uns, trennten uns wieder, begannen unmittelbar nach der Trennung vom Körper des anderen zu träumen. Was wusste ich schon von ihm. Genausowenig wie er von mir. Sprechen? Die Zeit war uns zu schade für lange Dialoge und Philosophieren lag irgendwo fern, war jetzt unpassend. Neugierde aufeinander? Wofür auch. Wir tauschten Worte, die überlegt waren. Worte, die sassen. Selten Sätze. Dafür aber Berührungen. Bebende Haut-an-Haut-Dialoge. Das Gefühl, die Seele direkt zu streicheln, an der Seele direkt gestreichelt zu werden. Aufgehen im Hautkontakt.

Bezeichnend waren auch meine Versprecher. Ganz in unserer Anfangszeit wollte ich ihm von einer Postkarte erzählen, einer Nachtaufnahme. Aber in meinem nicht versiegenden, unstillbaren Verlangen nach seinen Händen war ich nicht fähig, ein anderes Wort als "Nacktaufnahme" über die Lippen zu bringen, wenngleich ich mich mehrfach zu korrigieren versuchte.

Nicht, dass ich nun auf einmal froh war, "es" nicht getan zu haben. Nicht, dass ich vor meinen Arbeitskollegen innerlich den Blick wieder heben konnte. Aber ich hörte nach und nach mit dem täglichen Vorsatz auf. Er hatte an Sinn verloren. Gab meinen nie benutzten Badeanzug zur Altkleidersammlung und tauschte ihn gegen praktischere Unterwäsche ein. Traf mich mit ihm in der Mittagszeit in leerstehenden Büros, im Archiv im Keller, wo es sich eben gerade ergab. Manchmal in seiner Wohnung, Dann öffneten wir vorher oder nachher oder zwischenhinein eine Flasche Wein und er erzählte ein wenig von den verschiedenen Kakteenarten, die er züchtete. Wortkarge Monologe eines Einzelgängers. Erzählte von Thomas Mann, und was "der kleine Herr Friedemann" über den Epikurismus von Kakteenmenschen lehrte. Dass keiner das Wesen der Kakteen besser begriffen habe: Wassertänke in der Wüste. Das langfristige ruhige vor sich hin Leben höher bewerten als ein kurzes Blühen. Dass die eigentlich schwierige Lebensaufgabe die Kombination der beiden sei. Die bedachte Verlängerung der Blütezeit durch diszipliniertes Energiesparen.

Seltsam, diese Theorien. Denn sobald unsere Körper sich berührten, war seine Kaktusexistenz fort, wurde er zur Mangrove, stiess seine Luftwurzeln in alle Richtungen, nur, um zu mehr Kontakt zu kommen. Energiesparen? Nichts lag seiner liebenden Natur ferner. Was blieb denn noch an ihm, das kaktusartig war? Vielleicht das Wassertankartige: das süsse Nass in ihm, das bei Berührung hervorsprudeln konnte? Die süssen Früchte, deren Schale feine Dornen in der Haut hinterlassen konnten? Oder der extreme Temperaturunterschied zwischen Tag und Nacht. Das Ertragen von extremen Temperaturschwankungen. Dass er dennoch dem Stoizismus und der Askese widerstand.

Manchmal trafen wir uns auch bei mir, ich braute einen Tee, buk Kuchen, erzählte von Hildegard. Hildegard schien ihn zu interessieren. Ihr Garten, ihre Heilkunde, ihre Anthropologie, ihre Heilslehre. Er wollte sie sehen.

Wir reisten zusammen nach Bingen. Die schwere, rheinische Architektur, mittelalterlich, unzerstörbar. Schauten uns die basilica minor St. Martin an, die Hildegardsstatue konnte uns nicht so sehr begeistern, diejenige in der Pfarrkirche Bingerbrück schon eher, vor allem vor den Darstellungen der Glasfenster blieben wir lange stehen und rätselten. Aus den Tafeln in der Rochuskapelle suchten wir die Stationen ihrer Vita zu rekonstruieren.

Dann aber mussten wir immer wieder hinaus an den Rhein, ins Grüne. Liebten uns auf Spaziergängen, begleitet vom Rauschen des Wassers und vom Gezanke der Schwäne.

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