varietate fortunae: Das Kind

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In Bingen geschah es. Nichts spektakuläres, wie alles mit Wolfgang, es ergab sich. Ob ich ihn heiraten wolle, fragte er, Wir lagen zusammen im Ufergras am Rhein, die Sonne war längst untergegangen, es wurde kalt und klamm, wir kuschelten uns aneinander. Mir kam keine andere Antwort als ja in den Sinn. Ja, wieso eigentlich nicht? Was hatte ich mich eigentlich bisher so dagegen gesträubt? Seine Reaktion erstaunte mich eher. Er strahlte, als hätte er einen Lottogewinn erzielt. Seltsam mutete es mich zwar an, denn wer war ich schon, dass ich solches auslöste. Er hingegen konnte es kaum fassen. Umarmte mich wieder und wieder, nannte mich mit einemmal "meine Frau", Frouwe mîn, mîn Wîp, erging sich in höfischmittelalterlicher Dichtung, mir schien es, er hätte sie für diesen Moment auswendiggelernt, aufgespart. Begann zu rezitieren:

"Swenne ir liehten ougen sô verkêren sich / daz si mir aldurch mîn herze sên, / swer da 'nzwischen danne stêt und irret mich, / dem müeze al sîn wunne gar zergên. / wan ich danne stên und warte der frouwen mîn / rehte alsô des tages diu kleinen vogellîn: / wenne sol mir iemer liep geschên?"

Theatralisch, ich kannte ihn kaum. Wie im Rausch.

Ich kann nicht anders. Wenn ein Mann eine Frau sein eigen nennt (oder umgekehrt), wird mir ungemütlich zumute. Ist eine Vermählung ein Eigentumswechsel? Gibt es doch noch so etwas wie Leibeigenschaft? Oder sollte man einem Heiratswilligen vielleicht ein Plüschtier schenken, damit er etwas hat, etwas Handfestes, an dem er sich festhalten kann? Nun gut, bei Wolfgang war mein Unbehagen nicht ganz so gross. Ich hatte mit meinem "Ja" wohl den Schlüssel zu einer Kammer in seinem Keller gedreht, doch schien mir die Kammer wenigstens nicht abgrundtief und nicht unüberschaubar gross. Das Risiko war für mich von einigermassen abschätzbarer Höhe. Und für ihn?

Als wäre es gestern gewesen, kann ich mich an mein Schlucken erinnern. Wer war ich, dass er sich so freute? Was hatte ich ihm zu bieten? Wie würde es weitergehen, wenn er sich jetzt so in seine Gefühle steigerte? Konnte ich auf die Dauer seinem Bild von mir entsprechen? Distanziert schaute ich seinem Ausbruch zu. Für mich war die Entscheidung eher praktischer Natur: die Aussicht auf ein Abonnement auf seine Hände, auf seine Haut. Waren wir nicht beide Einsiedlerkrebse? Wir konnten es uns doch in einer gemeinsamen Muschel bequem machen. Ein gemeinsames Schlafzimmer. Mehr Zeit füreinander, weniger Hektik, weniger Angst, ertappt zu werden. Obwohl gerade diese das eigentlich erregende Element des Zusammenseins gewesen war. Und letztlich ... wieso eigentlich nicht? ... wer weiss, vielleicht eine Frucht unserer Liebe. Wir waren zwar nicht mehr die jüngsten, aber hatte es nicht schon ältere Paare gegeben, denen dies beschert worden war? Mein Leben begann sich von einer ganz neuen Seite zu zeigen. Plötzlich waren Gedanken da, von denen ich nie gedacht hatte, dass ich sie jemals denken konnte. Die irgendwie zu meinen Brieffreundinnen gehörten, nicht zu mir.

***

Es kam, wie es kommen musste: kaum wurde meine Schwangerschaft wirklich sichtbar, traf ich Andreas. Zum ersten Mal spürte ich, dass da etwas zwischen uns war, eine Art unteschwelliger Verbindung. Fühlte mich schuldig, dass ich ihn nicht unterrichtet hatte. Wir trafen uns auf dem Bahnhof. Er blickte mich kurz an, mein umständehalber aufgedunsenes Gesicht, dann, abschätzend, abschätzig, meinen Bauch. "Soso, jetzt noch." Das war alles. Keine Frage nach dem Vater, keine nach meinem Befinden.

"Soso, jetzt noch", träumte ich nächtelang, hallte es in mir wider. "Soso, jetzt noch", wurde zu so etwas wie dem Namen für das Ungeborene. Andreas brauchte offenbar nur drei Worte, um in mein Leben einzubrechen.

"Soso, jetzt noch" rundete meinen Bauch, wurde schwer und gross, lag immer irgendwie quer und zunehmend ungünstig, boxte mit scheinbar siebzig Fäusten und Füssen an all meine inneren Organe, bereitete mir vor allem am Ende Übelkeit und grenzenlose Trägheit und wollte schliesslich hinaus. Drängte sich ohne Rücksicht auf meine Schmerzen zum engen und gewinkelten Ausgang.

Die Hebamme kam gerade rechtzeitig, um ihn entgegenzunehmen, und um Wolfgang zu beruhigen, der mir abnehmen wollte, was er nicht konnte und in seiner rührenden Hilfsbereitschaft überall im Wege stand. Ein Bübchen war es, "Soso, jetzt noch" wurde mit seinem ersten Schrei zu Roland, das sagte ich noch, dann schlief ich ermattet ein.

Vom angeblichen Hormonschub und Glücksgefühl, wenn einer Mutter zum ersten Mal das Kind auf den Bauch gelegt wird, spürte ich nichts, ich weiss nicht einmal mehr, ob mir die Hebamme das Büblein gab, ich nehme an, Wolfgang nahm es an sich und summte ihm aus dem Rolandslied vor, wie er es in unzähligen Nächten danach tat.

Gegen die hispanischen Mauren hatte einst Karls gekämpft / hatte gesiegt und war auf dem Heimweg / da stand der Hispannenkönig noch einmal auf / bäumte sich gegen die Nachhut.

Es kämpft sein Neffe Roland / Heldenblut entfacht er in den Jünglingen / doch überwältigt vom nur zum Schein Besiegten / fällt er im schatt'gen Tal von Ronceval / und bläst den Olifanten / und bläst den Olifanten

Ich weiss nicht, woher er das Lied hatte. Vielleicht selbst gedichtet, vielleicht von einem mir unbekannten Sänger. Er sang es sehr oft. Wollte er dem Büblein damit Abwehrkräfte einflössen?

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