varietate fortunae: Schluss jetzt

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Am leeren Kinderbettchen stehend fühlte ich mich wie in einen Wattebausch gehüllt. Alles entfernte sich von mir, war auf einmal weit weg. Was hatte ich eigentlich verloren hier, in dieser fremden Wohnung, bei diesem fremden Mann, in diesem fremden Leben? Es war, als erwachte ich aus einem Mädchentraum hoch oben im Turm. Wieder allein, endlos allein, aber wenigstens bei mir selbst.

Ich handelte. Suchte mir eine eigene Wohnung, zum ersten Mal wirklich in einem Turm, in einem der drei Türme am Rande Albisriedens, suchte eine neue Stelle, fand erstaunlich schnell eine in einer kleinen Versicherungsagentur derselben Überbauung. Die Trennung von Wolfgang wurde beschleunigt durch die Tatsache, dass es uns nach Rolands Tod nicht mehr gelang, einander in die Augen zu blicken.

Wie weit ich vom Tagesgeschehen weggedriftet war, zeigten mir Briefe der Welschlandfreundin, von der Wiener Freundin, von Frauen aller Art, die von dieser neuen Revolte ihrer Kinder erzählten. Von deren Unwillen, sich schön zu machen, einen anständigen Beruf zu finden, ihr Leben positiv zu gestalten. Von Streit und Zank und schmerzhafter Ablösung.

In Zürich begann die Auseinandersetzung, die in den Globuskravallen eskalierte. Ein junger Mann arbeitete bei uns in der Filiale, der engagiert mit seinen Altersgenossen mitfieberte, auch wenn sie, wie er sich ausdrückte, "manchmal etwas weit gingen".

Bezeichnenderweise verlagerte sich denn im endlich realen Turm mein LektüreInteresse von Hildegard wieder mehr auf Aristoteles. Noch immer gab es weite Teile im Aristoteles Latinus, die ich nicht kannte. Seine Logik begann mich zu fesseln, seine Rhetorik. Mit dem globuskravallmitfiebernden Jüngling von der Arbeit, mit dem ich oft die Mittagspausen verbrachte, dem ich daraus erzählt und einzelne Seiten mitgebracht hatte, analysierte ich Politikerreden und Pamphlete auf rhetorische Figuren und Stereotypen, oft lachten wir über das beidseitige Bemühen um gute, treffende oder nichtssagende Formulierungen, hinter denen die eigentliche Mitteilung verschwand.

Was dieser Jüngling für mich gewesen sei, hörte ich Flora fragen. In Gedanken. Denn von ihm hatte ich ihr nie erzählt. Die Antwort ging über Roland. Ich hatte Roland veloren und mit ihm Wolfgang, und hatte so schnell wie möglich alle Erinnerung an die beiden verdrängt. Hier hatte ich eine Art Ersatz gefunden, einen Sohn, der altersmässig weit genug von Roland entfernt war, einen Gesprächspartner, der mir nicht annähernd so nahe wie Wolfgang kam. Eine angenehme schmerzfreie Distanz. Eine neue Art von Isolation lebte ich in meinem Albisrieder Turm: das Leben in einer schmerzisolierenden Wattewolke.

Vieles war für mich vorbei. Das Leiden an der Heiterkeit der amerikanisierenden Büroatmosphäre, die Pseudolösung mit Wolfgang, aber irgendwo gefühlsmässig auch der Treuebruch gegenüber Andreas, den das Kind dargestellt hatte.

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