varietate fortunae: Der Turm, der Brunnen

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Schneckenhausbiographie? Wüstenkaktusexistenz? Auch, aber nicht nur.

Seit meiner frühen Kindheit habe ich das Gefühl, in einem Turm zu wohnen. Ein enger Turm runden Grundrisses aus groben Steinquadern, pro Stockwerk ein Zimmerchen, die Zimmerchen mittels Leitern und Luken verbunden. Nur sind während der Jahre die Leitern umgefallen, zerbrochen und verrottet, die Luke meines Kämmerchens im obersten Geschoss ist verklemmt, ihr Schloss eingerostet. Mein Turm steht im Wald, kein Weg führt zu ihm hin, keiner an ihm vorbei, kein Mensch weiss von ihm.

Aber mein Turm erhebt sich über die Wipfel der Bäume, mein Blick aus den hohen, schmalen Fenstern reicht weit über das Land. Jahreszeiten ziehen an mir vorüber, manchmal kommen mich Vögel besuchen, ansonsten ist es stille.

Rapunzelromantik? Aber mich hat niemand eingesperrt, meine Mutter ist keine böse Stiefmutter, sondern eine verstehende Frau, die viel Gutes für ihre drei Töchter getan hat. Sie hat sich mit keinem Zauberer, keiner Hexe eingelassen, hat die Seele keiner ihrer Töchter verkauft, erst recht nicht meine. Mein Turm ist ein Teil von mir, bereits in meinem Erbgut vorbestimmt. Niemand hat ihn gebaut, auch ich nicht, er ist einfach mit mir gewachsen, ich kann nichts gegen ihn unternehmen.

Rapunzelromantik? Der Traum vom Prinzen, der nach Aufstieg und Einlass begehrt? Nein. Prinzen gibt es nicht, und wenn, wie sollte einer von meinem Turm wissen, der auf keiner Karte verzeichnet ist. Mein Haar will nicht wachsen, nicht richtig fest werden. Ich vermöchte keinem Einlass zu geben.

Als knapp Fünfzehnjährige hatte ich einen Traum, der mich über Wochen verfolgte: ich sass in einem Brunnenschacht, als wäre mein Turm von der Höhe in die Tiefe gesunken, dem Grundwasser entgegen. Eine glitschige, schlammige Angelegenheit: tropfende Wände, an denen Schnecken herumkrochen, verrottetes Laub, Schlamm und Krötengetier am Boden, wo ich sass und hinaufblickte. Hoch oben, im Rund der Brunnenöffnung war Mondlicht zu erkennen. Ich schauderte, ekelte mich, fürchtete mich, fror, wollte hinaus, an die Luft, in die Freiheit, an die Trockenheit.

Tatsächlich bemerkte ich nach einiger Zeit ein vom Brunnenrand herabhängendes Seil, an dem ich hinaufklettern konnte, allerdings ohne Aussicht auf eine Zuhilfenahme kletternder Füsse an den glitschigen Wänden des Brunnenschachtes, an denen ich nur ausrutschte. Es blieb mir nur das Klettern. So arbeitete ich mich denn mühsam hoch, kam tatsächlich bis auf etwa einen Meter an den Brunnenrand heran. Doch dann wurde das Seil trocken, wies rundum Abnützungsspuren auf, war ein paar Handbreit unter der ersehnten Öffnung beinahe ganz durchgeschabt, spröde, eingerissen.

Erst hier oben wurde mir klar: mit jeder meiner Bewegung riss das Seil weiter ein, nur noch wenige Fäden blieben, eine Bewegung meinerseits, ein weiterer Faden riss, eine weitere Bewegung, ein zweitletzter Faden und kurz darauf ein letzter. Ich fiel in die Tiefe, zurück in den Schlamm, erwachte schlammgebadet inmitten der Kröten, Schnecken und Würmer, konnte vor Übelkeit und Ekel kaum wieder einschlafen, wälzte mich eine Ewigkeit im Bett, konnte nicht aufstehen im Schlafsaal, durfte keinen Lärm machen, durfte die andern Mädchen nicht wecken, lauschte ihrem Atem, verfluchte mein Krötendasein, suchte mit erfreulichen Bildern die Feuchtigkeit und das Getier zu vertreiben, suchte neuen Schlummer, fand endlich Erlösung in einem tiefen, traumlosen Schlaf, erwachte wie gerädert am Morgen, quälte mich durch den Schultag und täumte in der folgenden Nacht denselben Traum.

So fiel ich Nacht um Nacht in den Schlamm, in die Dunkelheit, ins Krötendasein am glitschigen Brunnenboden zurück, erlebte Nacht um Nacht im Zeitlupentempo das Reissen des zweitletzten und des letzten Fadens mit und überlegte mir tagsüber, wie ich die defekte Stelle überwinden könne. Es lag an mir, ich musste handeln. Irgend etwas musste ich tun. So nahm ich in einer Nacht mein Nachthemd, in der andern das Leintuch mit in den Traum. In einer weiteren Nacht - diesmal nur gedanklich - war es ein Seil. Es half alles nichts, kein Material liess sich mit dem Seil verknüpfen, um die defekte Stelle zu verstärken, damit der kurze Rest des Aufstiegs gelänge.

Irgendwann begann ich zu ahnen: es musste ein Material von meinem eigenen Ich, von meinem eigenen Körper sein. Ich liess mir die Haare wachsen, ich war im Welschland und in unserer Mädchengruppe wetteiferten eh alle um ein möglichst "natürliches", weibliches Aussehen, es fiel nicht auf. Vor dem Einschlafen stellte ich mir das Haar dann um ein Mehrfaches länger vor, nahm eine Schere mit, kletterte im unweigerlich wiederkommenden Traum bis zur defekten Stelle - meine Kletterkünste verbesserten sich zunehmend - schnitt mein Haar ab, natürlich reichte es noch nicht, fand eine Mauernische, deponierte es darin, und schon riss das Seil wieder.

Am nächsten Morgen war mein Haar natürlich genauso lang wie am Abend zuvor, weshalb ich in der nächsten Nacht ein genauso langes Stück abschneiden und deponieren konnte. Wieso ich mir Nacht für Nacht die Mühe nahm, hochzuklettern und zu fallen, wo ich das Haar auch unten hätte abschneiden können? Ich weiss es nicht. Es zog mich nach oben. Ich empfand es als richtig so. Vielleicht wäre es unten im Schlamm verlorengegangen oder verrottet. Als die Nische nach vielen Nächten gefüllt war, begann ich das Haar in den Träumen, immer wieder an der defekten Stelle angelangt, zu verspinnen, zu drehen und mit dem defekten Seil zu verweben, bis es nach Ablauf mehrerer Monate endlich durch ein körpereigenes Stück verstärkt war. Endlich konnte ich weiterklettern, entkam dem Schacht und blinzelte in die frische Luft.

Angeekelt entfloh ich dem Ort des Grauens. Suchte lichtere, wärmere, trockenere Orte. Der Traum kam nicht wieder. Aber wahrscheinlich war ich im Traum zu hoch hinaufgeklettert, hatte zu viel Energie auf den Auf- und Ausstieg verwendet. Jedenfalls, nach ein paar Jahren, ich war bereits aus Wien zurück, als ich in meinen Träumen wieder in den besagten Wald gelangte, stand auf den Fundamenten des Brunnenschachtes der Turm meiner frühen Kindheit wieder, ich betrat ihn neugierig, kletterte Treppe um Treppe, Leiter um Leiter hinauf, erste Sprossen zerbrachen unter meinen Füssen, ich kletterte weiter, wollte nicht fallen, und war mit einemmal im Dachkämmerchen gefangen, als wäre ich nie woanders gewesen. Vom Brunnen keine Spur mehr. Auch nicht von Kälte, von Feuchtigkeit, von Getier, im Gegenteil, es war ein angenehmer Ort, ich hatte das Gefühl, heimgekommen zu sein, richtete mich im hellen Raum wohnlich ein, erhielt irgendwoher alle Sachen geschenkt, die ich mir wünschte, Essen, Kleidung, Lektüre, nur Leitern nicht. Verdammt zum Alleinsein.

Rapunzelromantik? Ich hatte in meiner Kindheit und Jugend sehr sträniges, schütteres Haar, es wuchs nicht richtig, war spröde, dünn und bröcklig, vermochte kaum die Kopfhaut zu decken. Ein Rapunzel wäre ich nie geworden. Mein Haar reichte knapp, um mich selbst aus dem Schlamm hochzuziehen, eine fremde Person konnte es nicht zusätzlich tragen. Auch hatte keine weitere Person in meinem Lebenskämmerchen Platz.

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