varietate fortunae: Kartentraum

Bitte Kapitel wählen!


zur Übersicht varietate fortunae


Andreas
Ball
Trennung
Stelle
Tief
Turm,Brunnen

Kartentraum
Wolfgang
Schweigen
Kind
Dossier
Baumgruppe
Über-Fahrt
Schluss jetzt
Friedemann?
Ende


zur Rinaku-Seite

Irgendwann in jener Zeit der vollständigen Isolation, in der sich mein Körper verselbständigt hatte, und ich kaum mehr einen Bezug zur mich umgebenden Welt fand, fiel mir ein Traum in den Schoss. Seine Bilder waren so stark, dass ich mich tagelang mir ihnen auseinandersetzen musste, und dass ich mich noch heute deutlich an Teile daraus erinnere. Ich erinnere mich auch noch deutlich daran, dass ich schon während des Traums mit einer Deutung des Traums, mit einer Interpretation der Bilder begann. Gehörte die Interpretation zum Traum oder war sie Teil einer Aufwachphase zwischen Traum und Erwachen?

Ich war an im Theater. Eine nicht allzugute Inszenierung eines Klassikers mit leicht surrealistischen Einlagen, die ich nicht verstand, die meines Erachtens auch nicht zum Stück passten. Ganz am Schluss schwebten zwei Schattenfiguren von den Bühnenseiten aus dem Dunkel auf den Lichtkegel in der Mitte, aufeinander zu.

Rechts eine männliche, gross, aufrecht und vor Kälte bebend. All seine Anstalten, sich aufzuwärmen, waren vergeblich. Links eine weibliche Figur, etwas kleiner, molliger, sinnlicher, beschwingter, mit tänzelndem, leichtem Schritt. Sie bewegten sich aufeinander zu, zögerten erst einen Moment voreinander, eine Art gegenseitigen Beschnupperns, wurden dann aber doch zu stark voneinander angezogen, betraten den Lichtkegel, stiessen aneinander und an eine unsichtbare Wand und fielen, jeder Hoffnung auf Vereinigung, jeglicher Gestalthaftigkeit entledigt, als leere Tücher zu Boden, wo sie als das elende Häufchen ihrer Kleider ankamen und als Karten liegenblieben

Nach ein paar Momenten fiel der Vorhang und schweigend, ohne Applaus, erhoben sich die Zuschauer und verliessen den Raum. Ich erhob mich mit ihnen, löste mich dann aus der Zuschauermenge und ging nach vorne. Zögernd stieg ich auf die Bühne, arbeitete mich durch den Vorhang hindurch und trat selbst in den immer noch flutenden Lichtkegel.

Am Boden lagen zwei Karten. Aquarellskizzen in brauner, mit leichtem Pinselstrich rasch aufgetragener, wasserreichen Tinte, teilweise mit Feder in etwas dunklerer Tönung derselben Tinte ergänzt. Die Bilder waren fast identisch aufgebaut, aber dennoch sehr unterschiedlich. Deutlich war erkennbar, welches sein, welches ihr Bild war.

Seines: Ein Vogel auf einem Hügel, der sich in dieser kühlen Distanz vor einer von staubiger Luft erfüllten Stadt mit Minaretten schützte, die ihn zu fressen drohte. Ihres: Zwei Figuren am Fusse eines ausbrechenden Vulkans: eine in einem Glashaus stehende Königin mit runder Krone links, rechts ein ihr zugewandter Harfenspieler in ekstatischem Spiel unter einer ägptisierenden Pergola.

Der Berg, auf seiner Karte Garantie für Schutz und Distanz, brachte auf ihrer Karte Poesie und Eruption zugleich. Durch Glashaus und Pergola vor der destruktiven Naturkraft geschützt, hatten beide, Königin und Harfenspieler, die Chance, dem Naturschauspiel in abgeschwächter, harmloser Form beiwohnen. Sein Berg, der Berg des Vogels, hatte bei näherer Betrachtung die Form ihrer Brust. So war es letztlich ihre Brust, die ihm die schützende Distanz vor der Stadt garantierte. Das verband die beiden Bilder: hie Poesie und Eruption im Schutze des Daches, dort an ihrer Brust Schutz vor dem Chaos der Umgebung.

Das Frieren der männlichen Schattengestalt, seine vergeblichen Versuche, sich aufzuwärmen, waren also Ausdruck einer existentiellen Kälte, waren sein Schrei nach der Wärme der ausbrechenden Energie des Vulkans, die zwischen Harfenspieler und Königin aus der Erde schoss. War es sein Harfenspiel, das den Vulkan zum Ausbrechen gebracht hatte? War seine Karte die Rückseite der ihren, war das erotische zwischenmenschliche Spiel der Garant für die Ruhe und Distanz - und Überlebensfähigkeit - vor der ihn bedrohenden Stadt?

Und wieso stand die Königin in einem Glashaus, während dem ekstatischen Harfenspieler eine Pergola genügte? War es nur Ausdruck der Tatsache, dass er mehr Wärme als sie benötigte? Eine Pergola zeugt von einer wärmeren Region. Sie lässt mehr Wärme durch, an ihr reifen Früchte. Vielleicht genügte ihm und schützte ihn seine Ekstase. Ihr Glashaus hingegen, hoch und schmal, kaum Bewegungsfreiheit bietend, erinnerte mich an meinen Turm, mein Eingeschlossensein, meine Isolation, weckte seltsam vertraute Gefühle in mir. Auch sein Vogel, das einzige Lebewesen auf seinem Bild. Waren nicht Vögel die einzigen Lebewesen, die mich in meinen Turm-Träumen besuchen kamen? Aber im Unterschied zu meinem Turm war ihr Glashaus transparent, erlaubte eine Beziehung, eine Interaktion zwischen den beiden Schattenfiguren, die als Karten dalagen. Das Glashaus stand nicht allen Blicken und Karten verborgen in einem Wald, sondern in einer gemeinsamen Sphäre mit dem Harfenspieler. Es geschah etwas, ihr Leben war nicht ein Beobachterpostenleben wie meines. Sie bewegte und wurde bewegt und gemeinsam bewegten sie die Erde. So sehr, dass sich diese feurig ergoss.

Bewegt nahm ich die Karten auf, um sie mit nach Hause zu nehmen, und erst jetzt bemerkte ich, dass sie nur die obersten von zwei Stapeln waren. Unter ihrem Bild lag eine Karte, in der nur die Königin abgebildet war: einmal sitzend in einem offensichtlich mir ihr gewachsenen Glashaus, und einmal ohne Glashaus, weit ausschreitend. Unter seinem Bild lag eine schwarze Karte ganz ohne Strukturen. Ein deutlicher Ausdruck seiner Angst und Kälte. Oder einer Weigerung seinerseits? Das Zögern der beiden Schattenfiguren, sich im Lichtkegel zu begegnen, dachte ich.

Ich nahm ihre zweite Karte in die Hand und fand darunter ein Bild mit einem rauchenden Vulkan. Der linke Vulkanfuss, wo auf ihrem ersten Bild die Königin gestanden war, war leer und verlassen. Am rechten standen zwei Gebäude: eine Pyramide und eine ägyptisierender Tempelpylon. Eine Pyramide, sinnierte ich, ist ein Grabmal. Irgend etwas, sein Zögern scheint den Tod einer Person - vielleicht des Harfenspielers - ausgelöst zu haben. Ein Pylon ist Teil eines Tempels, irgend jemand, irgend etwas wurde einer höheren Macht geopfert. Eine Zweiteilung des Harfenspielers? Seine Komponenten: Körper, Harfe, Ekstase, Pergola. Was davon wurde geopfert, was begraben? War sein schwarzes Bild Ausdruck eines inneren Todes? Eines teilweisen Todes? Folgte auf diesen ein Neuanfang, ein neues Leben? Gab es etwas, das überlebte?

Gebannt nahm ich seine schwarze Karte auf und fand darunter ein weiteres, letztes Bild. Auf einem schwarzen, schlammartgen Gewässer zog eine Barke dahin, auf der drei Personen sassen: unter einer ägyptisierenden Pergola - ähnlich derer des Harfenspielers auf ihrem ersten Bild - sassen sich zwei Männer gegenüber, von denen einer einen Turban trug. Hinter diesem, ausserhalb der Pergola sass ein König, der die Barke mit seinem Willen zu steuern schien. Vor der Barke war eine Figur im Schlamm, ein Mann, der im Schlamm zu versinken schien - gänzlich unbemerkt von den drei Männer im Boot.

Dumuzi, durchzuckte es mch, der sterbliche Geliebte der Liebesgöttin Innana, der alljährlich in die Unterwelt versank und von ihr auf die Erde zurückgeholt werden musste, um diese fruchtbar machen zu können! Aber auf dem Bild war weit und breit keine Innana zu sehen, niemand half ihm in seinem Kampf. Wo war der schützende Brust-Berg seines ersten Bildes geblieben? War das schwarze Bild, Ausdruck seiner Weigerung, schuld an seinem unbemerkten Versinken? Oder war Dumuzi, der mesopotamische Liebesgott im bisherigen eher ägyptischen Umfeld seiner Karten fehl am Platz und daher wirkungslos, wirk-unfähig? Und wie ging es weiter? Hatte er eine Überlebensmöglichkeit? da sie Pergola immer noch existierte, blieben der Körper, die Harfe und die Ekstase des Harfenspielers, von denen ein Element gestorben, eines einer höheren Instanz geopfert worden war. Welches hatte überlebt?

Ich suchte nach einer Antwort unter ihrer dritten Karte und fand dort eine letzte, im Grundaufbau sehr ähnlich seiner ersten, auf der zwischen zwei Hügeln von der Form ihrer Brust, die staubige Stadt mit Minaretten gewesen war. Auf ihrem vor mir liegenden vierten Bild befand sich zwischen den beiden Hügeln aber keine Stadt, sondern eine weite, leere Landschaft mit hohem, flachen Horizont. Auf dem Hügel, der bei ihm leer gewesen war, stand nun die bekannte die Königin mit der runden Krone. Hinter ihr hockte ein zotteliges Tier, das erschreckt zurückblickte. Auf dem andern Hügel sass anstelle des Vogels ein trauernder Mann unter derselben ägyptisierenden, hier aber von unzähligen dicken Ranken überwachsenen Pergola, in der auf ihrem ersten Bild der Harfenspieler mit seinem ekstatischen Spiel den Vulkan zum ergiessen gebracht hatte. Den Kopf in die Hand gestützt und den Rücken ihr zugewandt, war er ganz seiner Trauer ergeben. Sie blickte zu ihm, konnte ihn wegen der Distanz aber nicht aus seinen Dornenranken befreien, unternahm allerdings auch keine Anstalten dazu.

Sieben Karten, mehr gab es nicht. Dreimal war die ägyptisierende Pergola abgebildet, zweimal der Vulkan, zweimal die beiden Hügel. Abgesehen von ihren beiden ersten Bildern dominierten Trauer und ägyptische Motive die Szenen. Wo war die Hoffnung, das erotische Spiel des Anfangs geblieben? War es ihr, der Königin, die sich selbst aus ihrem Glashaus befreit hatte, nicht möglich, ihn mit ihrer Hoffnung mit zu befreien? Offensichtlich nicht, denn mehr Karten waren nicht zu finden.

Welcher Teil des Harfenspielers hatte nun überlebt? Intuitiv antwortete ich: die Harfe, Ausdrucksmittel seiner Poesie, war gestorben. Die Ekstase, die ausgedrückte Poesie, war verhallt, war in den Lüften aufgegangen und damit wie ein Rauchopfer einer höheren Instanz dargebracht. Also blieb der leere Körper, der unter der dornenumrankten Pergola trauerte und zu dem die Königin keinen Zugang mehr fahd. Die Leere seines der Poesie und Ekstase beraubten Körpers fand Ausdruck in der Leere der stadtlosen Ebene zwischen den beiden Figuren. War diese Entleerung der Prozess, auf den das zottelige Tier hinter der Königin erschreckt zurückblickte? War er es, den der Mann unter der von Dornenranken eingewachsenen Pergola betrauerte? Dann allerdings gab es tatäschlich keine Hoffnung.

Ich legte, immer noch im Traum, die Karten wieder hin und verliess schweigend das Theater, irgendwie zufrieden, als hätte ich eine komplizierte Rechenaufgabe gelöst.

An den Kapitelanfang