varietate fortunae: Die Trennung

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Andreas
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Es kam nicht zum nächsten Ball. Im Sommer hatte ich die Möglichkeit, für ein Jahr zu Mutters Schwester nach Wien zu gehen, ihr Mann benötigte eine Bürohilfe, die sich mit Schweizer Kundschaft auskannte und Französisch konnte. Zudem hatte ich in der Töchternschule ein wenig Steno, Maschinenschreiben und Buchhaltung gelernt und arbeitete seit einem Jahr bei einem Treuhänder, einem Freund von Vater, wusste also schon ein bisschen etwas über das schweizer Finanzrecht, was auch für mich sprach.

Ich hatte den Wiener Onkel noch nie gesehen. Als ich nach der nicht-enden-wollenden Zugfahrt durch ganz Österreich aus dem Zug stieg, hatte ich keine Ahnung, wer und was mich erwartete.

Wien gefiel mir. Das Grossstadtleben, das selbstverdiente Geld, das ich jetzt nicht mehr mit den Eltern teilen musste, da ich ein Zimmer gemietet hatte, die Kultur, die Möglichkeiten. Ich gewöhnte mich schnell daran, behielt aber den Kontakt mit Zuhause. Die ganze Zeit tauschte ich mit meiner Freundin vom Welschlandjahr Briefe. Erlebte mit, wie sie heiratete, zwei Kinder bekam, las von ihren Hausfrauensorgen und erfuhr, wie eine gemeinsame Bekannte nach der anderen, die mich allesamt nicht wirklich interessierten, den selben Weg ging. Nur ich nicht.

In Wien hatte ich eine neue Freundin, mit der ich mich regelmässig traf. Wir hatten uns an einem Samstagvormittag in einem Caffee getroffen, diesen Luxus hatte ich mir von Anfang an gegönnt. Sie war an mein Tisch gekommen, wo noch ein Platz frei war, wir waren schnell ins Plaudern gekommen und hatten uns für nächsten Samstag verabredet. Bald kannten wir einander sehr gut und trafen uns auch an Abenden nach der Arbeit in ihrem oder meinem Zimmer, lasen Meister Eckhart und Hildegard von Bingen, gingen in Konzerte, ins Theater. Sie interessierte sich genauso wenig wie ich für ein klassisches weibliches Leben, aber hier in Wien war das auch egal. Die Stadt zählte.

Im ersten Wienjahr hatte ich einmal einen Traum. Das Bild Andreas', rundum abgerundet wie eine Jasskarte, schwebte über mir. Es war ein bewegtes Bild. Andreas lachend, Andreas schwatzend, Andreas still lächelnd, Andreas sinnierend, Andreas unterhaltsam, geistreich, verliebt-werbend, argumentierend, Andreas von allen Seiten. Wie ein Blatt im leichten Aufwind schwebte die Karte über meinem Bett, drehte sich nach allen Seiten, mal war der Aufwind stärker und die Karte stieg schaukelnd auf, mal liess er nach und die Karte sank wie ein Blatt im Herbst, es hatte keinen Einfluss, das Andreasbild darauf unterhielt sich und mich gekonnt. Andreas als Ballherr, aber auch Bilder, die ich von ihm nie gesehen hatte: mal mit seiner roten Studentenmütze, mal in Uniform, die seinen schlanken Körper übrigens sehr gut zur Geltung brachte, mal mit barem Kopf, mal mit verschwitzt-klebendem, mal mit vom Wind aufgestelltem, mal mit sorgfältig frisiertem Haar, mal auf sein Backel gestützt, mal an ein Geländer gelehnt. Worte hörte ich keine, ein Stummfilm, besser noch: Schnittfetzen von Stummfilmen. Irgendwann kam ein stärkerer Windstoss und trug die Karte mit sich, spiralig drehend, tanzend, scherzend, Abschied winkend flog sie davon. Zurück blieb ich, die Erwachende, glückdurchströmt, dieser kurze Besuch war mir sehr angenehm und willkommen gewesen, ich stand auf und spazierte durch das morgendliche, menschenleere Wien, viel zu früh für die Arbeit, konnte ich mir einen ausgedehnten Spaziergang leisten, begleitet von der Erinnerung an die Karte, die mich den ganzen Tag nicht verliess, immer wieder kamen neue Varianten von Andreasbildern, mal entschwand er, mal kam er plötzlich wieder.

"Träumtest du oft von Andreas?" fragte mich Flora, als ich ihr meine Notizen vorlas. Oft? Ich weiss nicht. Wohl eher nicht. Ich ziehe keine Träume gewollt herbei, ich nehme sie, wie sie kommen. Wenn mir diese tanzende Spielkarte in Erinnerung geblieben ist, und mich dann auch den ganzen Tag begleitete, muss es wohl ein selteneres Ereignis gewesen sein, nicht? Natürlich war Flora nicht zufrieden mit meiner Antwort. Sie wollte von Gefühlen hören, von Leidenschaften. Aber nein, die gab es wirklich nicht.


Nachdem ich mein Wiener Arbeitsverhältnis um ein Jahr verlängert hatte, musste ich zurückkehren, der Krieg.

Ich ging nicht zu meinen Eltern zurück, das Städtchen war mir jetzt zu provinziell, sondern nahm ein Zimmer in Zürich und arbeitete weiter im Büro. Meine Wiener Freundin heiratete, die Briefe wurden seltener, sie fehlte mir sehr.

Zürich war nicht Wien. Aber das Kleinstädtchen und das Elternhaus waren um Welten weiter entfernt davon. Sowenig ich in Wien Affären gehabt hatte, so wenig in Zürich, die Arbeit interessierte mich mehr. Meine beiden älteren Schwestern wetteiferten um Kinderreichtum und auch meine Welschlandfreundin schrieb von einem dritten und vierten Kind. Die Wiener Freundin hatte neue Sorgen, ihr Mann wurde eingezogen. Ich hingegen blieb in meiner eigenen Welt. Meine Bibliothek wuchs, und ich konnte mir eine bescheidene Plattensammlung leisten, und damit ein Stücklein Wien und Berlin nach Zürich holen. Die Katastrophenmeldungen aus dem Ausland und die Lebensmittelrationierung machten mir weniger zu schaffen als die abgebrochenen Kontakte zur Welt.

Andreas hatte ich längst vergessen. Er war lange Zeit an der Grenze, auch mein Vater hatte ihn aus den Augen verloren. Irgendwann musste er sein Studium abgeschlossen haben, wahrscheinlich noch vor dem Krieg.

Im Frühjahr nach dem kalten Winter 1944/45 starb mein Vater an einer Grippe; an seiner Beerdigung sah ich Andreas wieder, ganz kurz, eine Frau an seiner Seite, kein Kind. Ich kam mit ihnen ins Gespräch, sie schien nicht ganz ungebildet zu sein, aber auch nicht gebildeter als er erlaubte, auch sie arbeitete in einem Büro, beide überzeugte Patrioten und beide zutiefst überzeugt davon, dass uns Schweizern nichts Schlimmes passieren könne, solange wir auf die Wehrkraft der Aktivdienstler setzten. Der Feind würde nicht einfallen können, solange wir Schweizer stark, einig seien. In der Anbauschlacht liege unser Sieg, konsequente Autarkie sei die ideale Ergänzung zur Wehrhaftigkeit an der Grenze und das Reduit sei unsere Burg, unsere letzte Absicherung. Die Schweiz sei ein reiches Land.

Ich dachte an meine Firma, an unsere ausländische Kundschaft, deren Vermögen ausserhalb der alpinen Trutz lag und zu unserem Schweizer Reichtum nicht unwesentlich beitrug und schluckte. Etwas enttäuscht liess ich Andreas nun gänzlich hinter mir, ein smarter Ballherr zwar, aber offensichtlich nicht viel mehr. Ich nahm an, dass ich ihn nicht wieder treffen würde. Wieso und wo auch?

Nach der Beerdigung fuhr ich eine Weile lang ein- bis zweimal wöchentlich mit dem Fahrrad ins Städtlein zu Mutter, um sie in ihrer frühen Witwenzeit nicht allein zu lassen, doch schon nach wenigen Monaten sahen wir ein, dass wir einander kaum etwas zu sagen hatten.

Der Krieg ging zu Ende und meine Stelle, in der ich bisher so unverzichtbar gewesen war, kam ins Wanken, schliesslich waren nun Familienväter zurück, die man prioritär berücksichtigen musste. Ich musste mich mehr einsetzen, wenn ich sie behalten wollte. Für eine Auseinandersetzung mit Mutter und das Finden einer neuen richtigen Distanz zueinander blieb immer weniger Zeit. Ich begann endlich, in Zürich Fuss zu fassen. Meine Arbeit, meine Wohnung. Mit Mutter begann ich einen brieflichen Kontakt, erzählte ihr vom Ruf nach einer freien Limmat, von der Volksabstimmung, von der Forderung nach Abbruch des unteren Mühlestegs , wenig von meiner Arbeit, von mir. Meine Wiener Freundin schrieb von den Nachkriegsschwierigkeiten ihres Mannes, von den Bemühungen, "ein Kind zu empfangen in dieser dunklen Zeit", meine Welschlandfreundin schrieb von einem fünften Kind, und erst dann endlich von Unterbindung.

Irgendwann schneite ein erfreulicher Brief herein; die Schwester Bibliothekarin aus dem Welschland erkundigte sich, ob ich mich immer noch für Aristoteles interessiere, falls ja, sollte ich mir die Neuerscheinung des Aristoteles latinus anschauen gehen, eine wirklich gute Sache. Zögernd, ich war mir nicht sicher, ob ich nach Hildegard wieder zu meiner lateinischen Erstbegeisterung zurückkehren wollte. Ich folgte ich dem Hinweis, liess mir im von Rohr den ersten Band zeigen, stand manchmal nach der Arbeit noch stundenlang im Laden und blätterte darin, fand viel Grundlagen des Hildegardschen Gesamtheitsdenkens darin, tat, als könne ich mir diesen Schunken leisten, könne mich aber noch nicht zu einem Kauf entscheiden. Erst als der zweite Band erschien, änderte ich meine Rolle. Ich hatte Monat für Monat gespart, es reichte inzwischen für einen der Bände. Die Kundin, die ich im von Rohr spielte, konnte sich erwärmen, erkannte den Wert der Neuerscheinung als Möglichkeit zur Parallellektüre, konnte sich zur Anschaffung überwinden.

Während der ganzen Entscheidungszeit stand ich mit der Schwester Bibliothekarin im Briefkontakt, erwähnte auch meine Wiener Hildegardentdeckung. Auch sie schätzte die hochmittelalterliche Klosterfrau und Mitschwester, nicht so begeistert wie ich, aber immerhin, gab mir ein paar Hinweise auf Sekundärliteratur. Von Artikeln, die ich nicht fand, schickte sie mir eine Zusammenfassung in verschnörkelter, altdeutscher Handschrift, offensichtlich aus ihrer Jugendzeit.

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