varietate fortunae: Das Tief

Bitte Kapitel wählen!


zur Übersicht varietate fortunae


Andreas
Ball
Trennung
Stelle

Tief
Turm,Brunnen
Kartentraum
Wolfgang
Schweigen
Kind
Dossier
Baumgruppe
Über-Fahrt
Schluss jetzt
Friedemann?
Ende


zur Rinaku-Seite

Nach der Absage kam der Boden, auf dem ich stand, ins Rutschen, und ich konnte den Prozess nicht stoppen. Weitere Vorstellungtermine erhielt ich nicht mehr. Diejenigen, die ich vornotiert hatte, wurden abgesagt. Mein Vorgesetzter rief mich zu sich, um mit mitzuteilen, dass meine Mitarbeit nicht mehr benötigt werde. Ich habe genügend Zeit gehabt, mich nach einer Alternative umzusehen.

Die Absage warf mich ins tiefste Loch meines Lebens. Vor allem verunsicherte sie mich zutiefst. Wieso hatte Andreas diese Unwahrheiten in diesem offenbar für mich so wichtigen Moment gesagt? Wieso hatte jener ihm geglaubt? Was war da genau geschehen? Wie hatten sie sich so schnell herumsprechen können? Ist es so einfach, einen Menschen zu verteufeln? Wie lange würde man noch im Voraus Sachen über mich wissen, die ich nicht einmal zu widerlegen das Recht hatte? Wie lange würde ich arbeitslos bleiben? Würde ich die Zeit finanziell überbrücken können? Was rundherum über die neue Arbeitslosigkeit gesagt und geschrieben wurde, war nun plötzlich auch für mich aktuell. Aktueller vielleicht als für andere. Jedenfalls, solange diese Sache in der Luft blieb.

Einige Monate war ich ohne Stelle, wurde bei Bewerbungsgesprächen mit auffallender Skepsis betrachtet - oder kam es mir nur so vor? - las zuhause, ging wandern, besuchte Wien. "Mein" Wien, das längst nicht mehr meines war. Schrieb dutzende von Briefen an alte Freundinnen, zu denen der Kontakt eingeschlafen war. Die meisten blieben unbeantwortet. Ich schrieb weiter, schrieb gegen das Vergessenwerden, sinnlose Versuche, gegen Zeit und Gräben anzuschreiben. Wenn Antworten kamen, drifteten sie an der Oberfläche, Höflichkeitsfloskeln, Allerweltssätze, kaum einmal Tiefergehendes. Stärker als jemals zuvor spürte ich, dass ich eine andern Sprache sprach, in einer anderen Welt lebte.

Um diesem Ausgeschlossensein zu entgehen, nahm ich die einzige Stelle an, die sich mir bot. Aber auch hier war alles anders. Mit der Selbständigkeit war es vorbei. Das "Wir" war gefragt. Das Büro war im neuen Stil gebaut, hell, gross, luftig, gigantische Fensterfronten, die Arbeitskollegen machten auf Amerikanisch, nett, alle so nett und per Du, tauschten Höflichkeiten aus, pflegten Standardhobbies, ein ausgezeichnetes Klima, nur betraf es mich nicht, prallte an mir ab. Meine Freundinnen von früher freuten, ärgerten und plagten sich mit ihren Männern und Kindern, teilten oder teilten nicht die Erziehungsprinzipien der Lehrer ihrer Kinder und fanden eine aufmerksame Briefeleserin in mir, die sich in Anteilnahme und Mitgefühl versuchte. Aber in Wirklichkeit war mir alles so fern, so fern.

Begann während dieser Arbeitsphase mein innerer Rückzug, oder waren die vorherige und die Wiener Zeit Intermezzi einer seit der Kindheit vordefinierten Schneckenhäuschenbiographie gewesen? Auf jeden Fall traf mich diese Zeit stärker. Ich hatte anderes gekannt. Hatte hoffen können, endlich einen Weg heraus zu finden. Hatte mich respektiert, mehr noch angenommen gefühlt. Jetzt, in der heiteren, hellen Bauhaus-Oberflächlichkeit, spürte ich ganz deutlich den Sog der Bodenlosigkeit. Das Licht-Luft-Heiterkeit-Getue konnte mich nicht anstecken, vielleicht sogar im Gegenteil: je heller, luftiger und kameradschaftlicher die Welt um mich war, desto mehr fühlte ich mich als Gegenpol, als Schatten. Ich versuchte mich einmal mehr in Hildegards Schriften, suchte Trost in ihrer ganzheitlichen Weltsicht, fragte mich, quälte mich, wieso das Lichtige, Luftige, Helle des neuen Büroklimas für mich nicht Lebensmittel, Grünkraft sei, konnte aber keine Antwort finden, als: das Spiel kann die Realität nicht ersetzen. Wahrscheinlich war es das Divergieren von Spiel und Gespieltem, das mich störte und auf das ich nur mit der Flucht ins Schattendasein antworten konnte.

Irgendwann kam ich zum Schluss, dass es keinen Platz mehr für mich gab und zog für mich die Bilanz. Gedanklich. Eines Morgens nahm ich mir vor: heute. "Es" heute zu tun, "heute schwimmen zu gehen", endlich konsequent zu sein, kaufte mir einen Badeazug, "den letzten Schrei" nannte ich ihn, für mich allein natürlich, ich hätte niemandem davon erzählt, strich in der Mittagspause und nach der Arbeit durch die Strassen der Altstadt Zürichs. Konnte aber nicht. Verschob "es" auf morgen.

Morgen dasselbe. Vorsatz, Unfähigkeit, verschieben, herumstreunen, um Mut ringen. Auch übermorgen und die Tage danach. Oft war es die selbe Runde, vom Paradeplatz zum St. Peter, über die Lindenhofstatt, hinunter zur Schipfe, die Rudolf Brun Brücke, das Niederdorf hinauf, am Grossmünster vorbei, via Bellevue und Bürkliplatz zum Paradeplatz zurück, blickte an Häuserfassaden hoch, scheinbar an architektonischen Details interessiert, studierte farbige Erker, die wie angeklebte Fremdkörper an den Fassaden klebten, ergötzte mich an den Osirispfeilern es Savoy-Hotels und an den Löwendarstellungen der Bank-Leu-Fassade. In Wirklichkeit aber nur Tränen verbergend. Tränen rollen lieber nach unten als dass sie nach oben quellen.Spazierte dem See entlang, suchte Brücken, um auf die Wasseroberfläche zu blicken, betrachtete gedankenleer den Spiegel des leeren Himmels, kroch, wenn es regnete, zum gedeckten Brüggli und hörte dem Trommeln der Tropfen auf die Holzbohlen zu... und kam am Abend dennoch heim, hatte es nicht getan, wieder nicht, verstand die Welt nicht mehr, verstand mich selbst nicht mehr, diesen verdammten Lebenstrieb. Wieso eigentlich hatte ich "es" diesmal nicht getan? Wieso heute wieder nicht?

Die Antworten waren ernüchternd. Eine Sitzung morgen. Einen fertigzuschreibenden Bericht. Ein bevorstehender Theaterbesuch. Eine Spiegelung des Lichtes im Wasser. Ein Kinderlachen. Irgend eine Bagatelle. Das Beobachten der um die Wette gegen die Strömung ankämpfenden Haubentaucher in der Limmat, die zwar allesamt nicht vorwärtskamen, aber eifrigst ihre Positionen verteidigten. Unnütz zu sagen, dass ich meine Arbeitskollegen in ihnen erkannte. Und bloss deshalb wartete am nächsten Morgen wieder ein neuer Tag auf mich? Und danach noch einer? Und noch einer? Eine endlose, einfach nicht abbrechbare Kette von Tagen. Verflucht. Nicht abbrechbar. Ich hatte versagt. Jeden Tag versagt. Jeden Tag aufs neue. Versagt, den Vorsatz nicht ausgeführt zu haben. Versagt. Unfähig. Unfähig war ich. Unfähig, "es" zu tun, obwohl ich nichts anderes mehr wünschte. Unerträglich.

So kam ich am Abend heim. Zog mich aus. Legte mich aufs Bett. Versuchte zu lesen. Konnte es nicht. Versuchte zu essen. Konnte es nicht. Versuchte, Radio zu hören, die Stimmen gingen an mir vorbei, Musik nervte mich. Starrte an die Decke, zermürbte mich. "Hadern" nannte ich diesen Zustand, "Kampf mit den realen Gegebenheiten". Wollte mein Jetzt nicht akzeptieren. Fühlte mich so nutzlos, unterfordert, an die Seite gedrängt, für dumm verkauft. In eine unpassende Rolle, aus der ich nicht herausfand.

Schwierig war vor allem, in den Spiegel zu blicken. Wem sollte ich entgegenblicken? Meiner potentiellen, aber unfähigen Mörderin oder der Versagerin, die meinen einzigen Wunsch zwar kannte und zu erfüllen trachtete, aber den Vollzug nicht schaffte? Wenn ich nach langem Hadern endlich einschlief, zog über mir die Wasseroberfläche der Limmat dahin. Im Frühjahr schwammen Blütenblätter, im Herbst Blätter, im Winter Schneeflocken darauf. Manchmal auch Schwänefüsse, Entenflossen, Haubentaucherkrallen. Hie und da, sehr selten, der blosse Bauch eines menschlichen Schwimmers.

Und am Morgen, nach dem in dieser Zeit tiefen Schlaf, war es nicht besser. Das schwere Erwachen. Die dunklen Gedanken, die Aussichtslosigkeit. Der erneute Vorsatz. Heute. Kleiderwahl. Morgentoilette. Sollte ich den leeren Ausdruck meiner Augen überschminken oder das Beschönigen lassen? Lippenstift mochte ich nicht. Kein Parfüm wollte mir passen. Wieso auch, am letzten Tag. Zog mich an. Drehte mich einmal vor dem Spiegel. Zupfte vielleicht etwas zurecht. Stellte vielleicht fest, dass das Kleid sass. Es war keine hässliche Frau, die mir da entgegenblickte. Nur eine, die im falschen Leben war. Nur eine, die keinen Ausweg aus diesem falschen Leben finden konnte. Nur diese Leere.

Natürlich suchte ich auch Auswege. Versuchte mich mit Kochen von speziell leckeren Sachen aus meiner Melancholie zu ziehen, mir in Hildegads Sinn Bausteine zuzuführen, die mir offensichtlich fehlten, es half nichts. Mein Zustand war nicht ein Mangel an Bausteinen, sondern verinnerlichter Ausdruck der Leere meiner Umwelt.

Andere Male ging ich zum Frisör, zur Maniküre, zur Kosmetikerin. Liess ich beraten, mehr aus meinem Typ zu machen, liess mir den Rat geben, mehr Zeit für mein Äusseres zu verwenden. Modischeres zu wagen. Farben, die zu meinem Typ passten, wenig Schmuck, aber effektiv plaziert; der schönste Schmuck einer Frau sei sie selbst etc. Liess die Worte an mir abprallen. Mechanisch. Wusste auch dort nicht wieso. Es ging offensichtlich um eine mir fremde Person, ein Sorgenkind, das ich kaum vom Hörensagen kannte. Mein Ich war weit weg, unerreichbar für die Interessen dieser Frauen.

Meine Freundinnen? Ha. Sie hatten keine Ahnung, wie sehr ich litt. Sie baute ich auf. Half ihnen auf die Beine, entwirrte die Durcheinander, über die sie gestrauchelt waren, ihre eigenen, selbstgebauten kleinen Durcheinander. Bagatellen, zum Teil, resultierend aus Überschätzung des Partners, aus Unterschätzung der eigenen Kräfte, aus Überschätzung der Lern- und Anpassungsfähigkeit ihrer Kinder. Aus der Sehnsucht nach dem perfekten System, in dem sie doch bloss dienende Funktion hatten. Lächerlich, irgendwo. Gleichzeitig ihre Suche nach materiellem Gewinn, nach Beneidetwerden, nach Zerstreuung, nach Abwechslung, nach Dazugehören. War auch dies Ausdruck einer Leere?

Meine Arbeitskollegen? Vor ihnen schämte ich mich am meisten mit meinem täglichen Versagen. Die Scham. Jahrelang hatte ich das Gefühl, nur mit gesenktem Blick mit ihnen reden zu können. Jahrelang glaubte ich, jedem Mann, dem ich begegnete, erst das Versprechen geben zu müssen, nicht mit ihm schlafen zu wollen, bevor er mir erlaubte, meinen Blick zu heben. Ich spürte förmlich ihre Angst vor meiner Stärke. Vor meiner Stärke? Vor der, die ich trotz oder wegen meines Dilemmas ausstrahlte? Vor der Energie, die ich aufbrachte, mühsam aufbrachte nota bene, aber das schien niemand zu bemerken, um nach aussen trotzdem als aufrechter, geradeausblickender Mensch aufzutreten? Farce. Maske. Aber was konnten sie denn von mir wissen? Von meinen Ängsten, von meinen Vorsätzen, von meinem täglichen Versagen.

Schlimm war auch der Sexualtrieb. Das Verlangen nach körperlicher Nähe, der brennende Körper beim gleichzeitigen Bewusstsein der eigenen Isolation. Wenn ich nicht tief und traumlos schlief, prägte ganz anderes die Nächte. Das Blühen eines Kaktus in der Wüste, wie ich einige Zeit später begriff. Je mehr mein Körper aufblühte, desto stärker wurde ich mir der Distanz zu meinen Mitmenschen bewusst, je stärker das Bewusstsein meiner eigenen Isolation war, desto stärker blühte mein Körper. Etwas wie ein Bann lag auf mir, ein Fluch. Je stärker mein Körper blühte, desto stärker spürte ich die Angst, die ich in meinen Gegenübern weckte, desto mehr hatte ich das Gefühl, mich für jeden Blick rechtfertigen zu müssen, desto stärker wurde der Druck, den Blick zu senken, die Hände an mich zu halten, zu schweigen, zu leiden. Ich konnte nichts unternehmen gegen dieses Aufblühen, wieso auch. Andererseits war es zu schön mitzuerleben, wie mein Körper in den Nächten von Höhepunkt zu Höhepunkt taumelte. Lange, manchmal kaum enden wollende Höhepunkte, kaum Zeit, dazwischen zu atmen, Schnappen nah Luft, fassungsloses Staunen über das Geschenkte, über die Verselbständigung meines Körpers. Wie als Ausgleich zu den Tagen, wo ich mich ausgegrenzt fühlte, an den Rand gedrängt, gedemütigt.

Höhepunkte sage ich. Körperlich äusserst lustvoll, aber wessen Körper war es. Meiner? So fern schien er mir, mein Traum-Körper. Traum-Körper? War er real oder nicht? Real, natürlich, schweissgebadet, wie ich am Morgen aufwachte und matt und glücklich. Und dennoch. Wer verursachte die Höhepunkte? Träume? Ein Unterbewusstes? Eine höhere Instanz? Jupiterbesuch? Sterntalerwiedergutmachung?

Von neuer Grünkraft erfüllt ging ich an den Tagen danach an den Arbeitsplatz, doch bereits nach wenigen Minuten war sie wieder da, die Leere, die Distanz, die stille Verzweiflung, das Schattendasein am Rande der heiteren Gesellschaft.

An den Kapitelanfang