varietate fortunae: Ende

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Während er so vor mir lag, wehrlos, bereits unterwegs weg in eine andere Welt, während die Stationen unserer Leben so an meinem inneren Auge vorbeizogen, machte ich Schritt für Schritt die Rechnung. Erstaunlich, aber nun, mit dieser unserer letzten gemeinsamen Station ging sie auf. Es war gerecht. Wo das Leben selbst keinen Ausgleich zwischen uns geschaffen hatte, hatten wir nachgeholfen, immer derjenige, der gerade am längeren Hebel sass. Auch hier waren wir gleichberechtigt gewesen. Gleich stark. Gleich hartnäckig. Irgendwie während all der Jahre in demselben stillen Einverständnis, in dem wir uns während der letzten dreissig Monate hier gefunden hatten: einander beobachtend, Unstimmigkeiten registrierend, Unterschiede ausgleichend, nach aussen hin gemeinsam, in Wirklichkeit aber gegeneinander kämpfend, nicht verbittert oder leidenschaftlich, sondern ganz ruhig, kalkulierend. Wie Bausteine eines Atoms. Anziehungs- und Abstossungskräfte. Entscheidend war lediglich das eine: Distanz wahren. Und den andern nicht zu stark werden lassen. In der richtigen Distanz ist uns eine Koexistenz möglich. Solange keiner wesentlich stärker wird als der andere.

Ich blickte auf sein Gesicht, die durchfurchte Haut, sonnengegerbt, lebenssatt und müde. Falten der Strenge, Falten der Milde, Falten der Lebenssattheit, daneben wenige Falten von Humor. Versuchte, den smarten, hölzernen Ballherrn von einst darin zu erkennen, den kraftstrotzenden Büroherrscher, den Todesfahrer, den verzweifelnden Vater, den triumphierenden Sieger, den schützenden, gleichrangigen Alten. Die Szenen unserer Leben, die gemeinsamen und die getrenntgemeinsamen, zogen an mir vorüber, Gefühle unterschiedlichster Art. Während er kämpfte, nach Luft rang, nach Bewusstsein, während er in der Entscheidung zwischen sich-Fallenlassen und wieder-zum-Leben-Finden war, während er auf meine Hilfe hoffte, flehte, mir seinen Kampf mitzuteilen versuchte, blickte ich auf sein Gesicht und erlebte in homöopatischen Dosen die Stationen unserer Leben nochmals durch.

Ich machte die Rechnung, zog Bilanz. Als romantischer Abend hatte alles begonnen, als Spiel hatte es eine Fortsetzung gefunden, doch bald hatten wir den Kitzel entdeckt, einander in den schwachsten Momenten an den empfindlichsten Stellen zu treffen. Oftmals hatte der jeweils stärkere sehr präzise getroffen, um das Leiden des anderen aus nächster Nähe auskosten zu können. Noch waren wir nicht ganz quitt. Einmal noch wollte ich ihn treffen, einmal noch stärker sein, diesmal endgültig, sozusagen das letzte Wort haben. Und dies hier war meine Gelegenheit. Ich stellte mich seinem Flehen blind, taub und stumm, wartete ruhig ab. Ich wollte ihn überleben und damit endgültig besiegen, genoss es gleichzeitig, dass nur wir beide wussten, dass sein Leben in meiner Hand lag, aus meiner Hand heraus zuende gehen würde. Beobachtete ihn still. Rührte mich nicht. Kostete seinen Kampf aus, meine Überlegenheit. Half nicht. Rief keine Hilfe, verweigerte Erleichterung und drückte ihm, als ich sein endgültiges Ende nahen spürte, sein verschwitztes Kissen aufs Gesicht.

Am Schluss blieb das Gleichgewicht. Ich atmete auf. Schritte waren auf dem Korridor zu hören, gingen an seiner Zimmertür vorbei, niemand störte uns. Niemand störte, während ich neben ihm hockte, seine Hand hielt, seinem letzten Kampf beiwohnte. Die längste Berührung unserer beider Körper, seit wir uns kennengelernt hatten. Als er seinen müden, kurzen Kampf gegen das Kissen verloren und mit einem letzten Aufbäumen seines Körpers den letzten Atemzug in dessen Federn gehaucht hatte, stand ich auf, durchkühlt, steife Glieder, ging zum Telefon und rief den Hausarzt. Sollte er mir etwa nicht glauben, dass ich nichts mehr hatte tun können? Dass ich ihm in seinen letzten Minuten liebend beigestanden hatte? Schliesslich war das ganze Altersheim Zeuge von unserer tiefen Verbundenheit. Von unserer unserer romantischen späten Liebesbeziehung. Sollte man all ihnen etwa nicht glauben?

Ende.

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