varietate fortunae: Andreas

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Es war kein Zufall, dass ich es war, die ihn fand. Wir trafen uns mittlerweile fast täglich, zum Kartenspiel. Besonders gut war er zwar nicht, die Karten standen unsicher in seiner zitternden, altersfleckenbedeckten Hand und manchmal griff er auch daneben, wenn er eine herauszog. Untertrumpfte oder gab die Farbe nicht an, obwohl ich genau wusste, dass er noch Karten hatte. Manchmal bemerkten es auch die anderen Mitspieler. Ich hatte von Anfang an über solche Details hinweggesehen. Flora war es, die ihn zu belehren versuchte. Die sich immer alle Mühe gab, ihn auf seine Fehler aufmerksam zu machen. In ihrer schulmeisterlichen Art, die einem fast die liebenswürdige Mütterlichkeit vergessen macht, die dahintersteckt, verbessert sie ihre Umwelt. Sie glaubt an das Bessere im Menschen, an seine Verbesserungsfähigkeit, wenn er sich nur entsprechende Mühe gäbe. Selbst jetzt im Alter glaubt sie noch daran und leitet daraus für sich die Pflicht ab, überall Fehler und Schwachstellen aufzuzeigen. Allen. Ausser mir. Mich hat Flora zu verbessern längst aufgegeben. Ich verstehe es, mich dumm zu stellen. Vielleicht hält sie mich für unverbesserlich und stur. Vielleicht auch für senil. Na und? Bin ich etwa zu jung, um senil sein zu dürfen? Muss ich meinen nächsten, den achzigsten Geburtstag abwarten, bis ich ein Recht darauf habe?

Nicht nur zum Kartenspiel trafen wir uns, auch zu Spaziergängen. Er war schlanker geblieben als ich. Eine zähe, drahtige Gestalt. Hatte mehr Ausdauer, mehr Ehrgeiz, gab sich nicht mit einer Stunde täglich zufrieden und mit asphaltierten Wegen. Wald- und Wanderwege mussten es sein, über den Hügel zur nächsten Bus-Endstation. Oder zum See. Oder von da zurück. Oder zu einem der vielen Teiche und Tümpel der Umgebung. Immer wieder etwas anderes. Nie denselben Weg zurück, auf dem wir gekommen waren. Prinzipiell nicht. Auch Pausen mochte er nicht. Ständig trieb er mich an. Ständig war da sein abschätziger Blick. Besonders, wenn ich ausser Atem kam. Schwächen mochte er nicht. "Musst halt nicht so viel essen", murrte er, wenn ich stehen bleiben musste, damit sich mein Herz beruhigte. Berggang liegt mir nicht besonders. Und ich trage, das brauche ich nicht verbergen zu wollen, tatsächlich ein paar Pfunde mehr mit mir herum. Trotzdem kehrte er nach unserem täglichen Spaziergang ein, einen Kaffee für ihn, ein Stück Kuchen für mich, er gönnte sich eine Zigarre dazu. "Hör auf mit diesem Zucker, er ist Gift für dich", zischte er manchmal unvermittelt neben der Zigarre durch. Wie ein lange eingespieltes Paar waren wir täglich unterwegs, sprachen kaum, was gab's schon zu sagen? Wir hatten uns nichts mehr zu erzählen, nichts mehr vorzumachen, kannten einander zu gut dafür. Das Schwelgen im Gestern überliessen wir den andern, wir hatten gelebt, lebten noch, täglich.

Auch bei Tisch sassen wir beieinander. "Zum Schutz gegen das Gerede während der Mahlzeiten", hatte er mir erklärt. Er sprach überhaupt selten in ganzen Sätzen. In den ersten Tagen meiner Altersheimzeit hatte er mich vom Gästetisch an seinen Vierertisch geholt. Die vertriebene Dame zischt mich heute noch an dafür. Hatte mich an seinen Tisch geholt und von da an meinen Platz verteidigt. War ich ein paar Tage nicht da, musste der Platz frei bleiben, er holte meine Serviette aus dem Schrank, meine Flasche Mineralwasser oder Wein, wie wenn ich da wäre, niemand konnte ihm dies austreiben. So war ich an seinem Tisch gelandet und blieb auch in meiner Abwesenheit dort, bald schon hatten wir die Spaziergänge zu teilen begonnen, auch dort durfte mich niemand ersetzen, genausowenig wie beim Kartenspiel. Schweigend. Lauernd. Murrend. Er verteidigte mich gegen alle und alles, nahm mich in Schutz, auch wenn ich dessen nicht bedurfte und sogar, wenn ich offensichtlich im Unrecht war. Kam mir jemand zu nahe, schritt er sofort ein. Manchmal in meinem Interesse, manchmal nicht. Gab sich jemand zu lange mit mir ab, verteidigte er sein Revier. Ich gehörte niemandem ausser ihm. Offen gestanden, mir gefiel dieses Spiel, ich zahlte in der selben Währung zurück.

Unsere Tage verbrachten wir schweigend. Worte mochten wir nicht. Worte führten nur zu Missverständnis und Streit. Wir hatten genug gesprochen während der Jahre davor. Meist genügte ein Blick, ein Murren, ein Laut der Missbilligung, der Anerkennung, ein Wort an Dritte. So verbrachten wir fast unsere ganze Zeit miteinander und spürten doch kaum etwas voneinander. Die Bemerkungen der anderen Heimbewohner über unseren "dritten Frühling" hatten wir über uns ergehen lassen, sie waren irgendwann verstummt, man hatte die Tatsache lächelnd akzeptiert. Nicht die reale Tatsache, sondern die, die sie sich dachten. Was ich an ihm schätzte: dass er Distanz einzuhalten verstand. Er wollte nicht mehr sein und haben als ein Schutzschild, ich auch nicht. So waren wir einander nützlich, ohne allzuviel dafür bezahlen zu müssen.

Es konnte vorkommen, wenn jemand klagte, wie schlecht die Welt, wie unhöflich die Jugend, wie teuer das Leben geworden sei, wie kalt der diesjährige Sommer, wie regnerisch der hiesige Winter, dass wir uns wortlos abwandten und uns "auf ein paar Schritte" draussen im Garten wiederfanden. Im stillen Einverständnis. Bloss weg vom hirnlosen Geschwatze.

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