varietate fortunae: Der Ball

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Andreas

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Nicht, dass wir uns seit der Schulzeit gekannt hatten. Aber beinahe. Vater hatte es damals arrangiert. Ein Ball seiner Studentenverbindung. Ein junger Fux, Student der Rechte und bereits am Abverdienen seines Offiziers, aus gutem Hause, erfolgversprechende Partie. Vater hatte ihn an einem Altherrenanlass für sich entdeckt, festgestellt, dass er noch ohne Bindung sei und die Chance für seine jüngste Tochter gesehen. Für das Problemkind. Im Gegensatz zu meinen beiden älteren Schwestern tanzte ich nicht gern. Mochte Feste nicht und Geselligkeit langweilte mich. Deshalb war ich bis dahin auch übriggeblieben. Ich las lieber, zu Vaters Unglück. Wie bringt man ein lesendes Mädchen unter die Haube? jammerte er Mutter vor. Als er wirklich unerträglich wurde, lernte ich die paar nötigsten Schritte. Nein, ganz unbegabt sei ich nicht, frohlockte Mutter. Aber das Interesse fehle, kam Vaters Seufzer. Meine beiden älteren Schwestern hatten mein Nachgeben als erstes Aufbrechen meiner Knospen gedeutet und mehrere Versuche unternommen, mir zu meinem Glück zu verhelfen. Hatten jüngere Brüder ihrer Gatten angeschleppt oder ledige Freunde, ich hatte mich wirklich brav auf ein paar mehr oder weniger anregende Gespräche eingelassen, es aber dann verstanden, mich uninteressant genug zu machen, um in Ruhe gelassen zu werden. Im Zweifelsfall genügte es, dem Tanzpartner im richtigen Moment auf die Füsse zu treten. Oder in einem ungünstigen Moment zu husten. "Machst du das eigentlich absichtlich?", hatte meine Mutter zu meinem Schrecken zu argwöhnen begonnen, als die eine Schwester wieder einmal ausgepackt und in allen Einzelheiten erzählt hatte, was vorgefallen war. Aber ein dummer Blick meinerseits hatte mich vor ihrem Weiterbohren bewahrt.

Andreas war ganz nett, an jenem Abend. War rechtzeitig bei uns angekommen, um mich abzuholen, dunkelblauer Smoking, weisse Handschuhe, eine tiefrote Rose für mich. Etwas steif vielleicht, etwas auf liebenswürdige Weise Holzpflockhaftes, aber tadellose Umgangsformen. Auf meinen Wunsch hin hatten wir uns an einen anderen Tisch gesetzt, nicht zu meinen Eltern, sondern in der andern Ecke des Saales, ausser Sichtweite, zu Gleichaltrigen. Hatten zwei, drei Pflichttänzchen absolviert, er war genau so hölzern wie ich, und uns daneben einen Abend lang über Literatur, Kultur, Philosophie unterhalten. Aristoteles war damals mein Favorit gewesen, ich hatte halbe Nächte damit verbracht, mich durch die lateinische Sprache zu ihm vorzutasten. Ja, Latein, Griechisch hatte ich nicht lernen können. Einiges glaubte ich schon zu verstehen. Auch Andreas mochte Aristoteles, vermochte es zumindest an jenem Abend glaubhaft vorzugeben, so unterhielten wir uns doch nicht ganz so schlecht, besonders nach dem Festessen. Während die Geschwister Schmid in schweizerdeutsch swingten, während der Saal vor Begeisterung ins Schwingen geriet und unsere Tischgenossen länger und länger auf der Tanzfläche blieben, bahnte sich zwischen uns so etwas wie eine zaghafte Freundschaft zweier Gefangener an. Er gefangen zwischen Studium, Militär und Zwang zur Musterkarriere, ich gefangen in meiner eigenen Welt, eingeklemmt im winzigen Bereich zwischen dem, was ich wollte und dem, was mir zugestanden war, nicht viel Aussicht auf eine anständige Ausbildung und nicht viel Interesse für Bereiche, die mir laut herrschendem Konsens erlaubt und zugewiesen waren.

Natürlich "funkte" es nicht wirklich zwischen uns, wie sich die Jungen heute so vorstellen. Wie hätte es auch. Ich war nicht die Frau, mit der man sich bei Gleichaltrigen brüsten konnte. Wollte es auch nie werden. Dennoch gab es einen kleinen Zwischenfall an jenem Abend. Die paar Gläslein Wein zum und nach dem Essen, die mein Eis antauen liessen, die paar mehr Gläslein, die er gehabt hatte, um mich ihm interessanter erscheinen zu lassen, wer weiss, vielleicht sogar attraktiver, die Musik, die Stimmung, ganz ging sie nicht an uns vorbei. Der Ball hatte in den Bergen stattgefunden, wir hatten im Ort übernachten müssen, er auch, so waren wir nach Mitternacht Arm in Arm durch den verschneiten Ort spaziert, romantisch. Romantisch vor allem deshalb, weil ich neben Ballschuhen auch warme Winterschuhe mitgenommen hatte, und deshalb nicht fror. Romantisch, zehn Schritte vor meinen Eltern, die ebenfalls Arm in Arm und leicht alkoholisiert durch die Winternacht spazierten und sich in glücklicher Sicherheit wähnten: jetzt ist auch für die Jüngste gesorgt.

Nur leider hatte ich mich ihrer Romantik selten gefügt. Im Institut im Welschland, wo ich meine hauswirtschaftlichen und haushälterischen Fähigkeiten hätte ausbilden sollen, hatte ich meine Freizeit in der Hausbibliothek verbracht und dort das Lesen und die Philosophie entdeckt, während meine Webereien und Stickereien sich eher in Richtung Minimal Art entwickelten. Und meine selbstgenähte Aussteuer wurde nie ganz fertig. Dafür hatte ich eine lateinische Grammatik entdeckt und eifrig Vokabeln und Flexionen gelernt. Naja, konnte meine Mutter sich schulterzuckend trösten, es gibt Männer, die gebildete Frauen mögen, man muss ihr Zeit lassen, sie macht den Knopf schon noch auf. So schien es auch zu sein, an jenem Ballabend, als hätte ich den Knopf tatsächlich aufgemacht, mich endlich fürs Wesentliche entschieden, der junge Mann an meiner Seite war wirklich sehr smart und erfolgversprechend. Der klare Sternenhimmel über uns, wir kicherten, stolperten, ich hielt mich an seinem Arm fest, ein ungewohntes Gefühl, ein ganz neuer, zager Wunsch, mich fallenzulassen, um von ihm aufgehoben zu werden, damit er seine Ritterlichkeit beweisen könne. Dazu die flüsternde Verabredung, den Abend zu zweit zu verlängern. Wir würden unsere Hotelzimmer beziehen, ich ganz brav, à la gute Tochter ins Einzelzimmer neben meinen Eltern, aber dann würden wir noch einmal rausgehen, nur wir beide, noch mehr Sternenhimmel, noch mehr kühle Abendluft, noch mehr Schneeromantik. Noch mehr...?

Gesagt, getan. Wir verabschiedeten uns, er kavalierte mir einen Handkuss, perfekt, fast rührend, meine Eltern und ich gingen die Treppe hinauf, gute Nacht, ich spielte meine Rolle: die Toilettengeräusche, das Zurechtmachen des Bettes, das Ablöschen, und wirklich, bald schon erlosch auch das Licht im Zimmer meiner Eltern, das vom gegenüberliegenden Schneedach widerschien. Mein Herz begann zu klopfen. Das Abenteuer reizte mich, das Verbotene. Der Sternenhimmel. Der Mensch, der sich hinter diesem perfekten, hölzernen Kavalier verbarg. Und natürlich, das Geheimnis. War es das erste Mal, das mich das Verbotene reizte? Das nicht, aber das erste Mal in diesem Zusammenhang. Ich erinnere mich noch genau an mein damaliges Gefühl. Hin- und hergerissen zwischen freudiger Erwartung und eigenem Enttäuschungs-Schutz: "Freu dich nicht zu sehr, er wird es vergessen. Wer bist du schon, dass er zurückkommen wird." Eine gute und sehr lange Viertelstunde verging, da flog ein Schneeball an mein Fenster. Ich machte mich auf. Sehr, sehr langsam, nicht wissend, ob es wirklich ein Schneeball gewesen war, oder ob ich mir das bloss eingebildet hatte. Sehr langsam auch, um ihm nicht das Gefühl zu geben, ich sei leicht zu haben.

Es war ein wunderschöner Nachtspaziergang. Der Himmel spannte sich im dunkelsten Blau von Horizont zu Horizont und die Sterne waren scharf und klar aufs Firmament gezeichnet. Anreas zeigte mir einzelne Sternbilder, erzählte mir ihre Geschichten, ich liess mich mittreiben bei den griechischen Mythen, wir erfanden neue Varianten. Und irgendwann nahm er mich in die Arme und wir küssten uns. Nichts Umwerfendes, aber schön in die Romantik des Abends eingebettet. Es gehörte irgendwie dazu. Ganz erfüllt von unserem harmlosen romantischen Erlebnis kehrten wir zum Hotel zurück. Sahen uns beim Frühstück nochmals, müde, aber glücklich, verabredeten uns für den nächsten Ball, meine Eltern blickten sich vielsagend an, "hab ich's dir nicht gesagt, sie wird doch noch auf den Geschmack kommen, man darf nur nicht zu früh aufgeben", frohlockten Mutters Augen. Dabei würde ja noch ein volles Jahr bis dahin vergehen.

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