Vom Reichtum

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Einleitung: Was macht ein Leben reich? Lassen Sie mich ein wenig plaudern!


Sieben

Wir waren sieben Kinder. Das ist nichts allzu aussergewöhnliches. Ich kenne eine stattliche Anzahl Familien, die in den Fünfzigern, Sechzigern und Siebzigern sieben Kinder in die Welt setzten. Familien mit sechsen oder achten kenne ich hingegen kaum. Sieben Kinder zu haben muss populär gewesen sein in dieser Zeit. Ach, wenn ich jetzt eine Statistik hätte, wenn ich jetzt nachweisen könnte, schwarz auf weiss, "hier, da gibt es einen Peak, einen signifikanten Ausschlag, bei sieben Kindern." Sieben muss so eine Art magischer Zahl gewesen sein. Ein glücksverheissendes Omen, ein Beweis von gottgegebener Fruchtbarkeit, eine Grenze des Mach- und Ertragbaren.

Die meisten siebenkindrigen Familien, die ich kenne, sind wohl organisiert. Das geht zuweilen bis in die Namensvergaben hinein: die vier Apostel und die drei Ordensgründer, die sieben Vornamen der Urgrosseltern, unter denen immer mindestens ein Name doppelt war, was bei den Kindern selbstverständlich nicht wiederholt werden durfte. Die Vertreterinnen der Sieben Freien Künste. Viele vielkindrige Familien vergaben die Namen in alphabetischer Reihenfolge, wobei unpassende oder nicht-genehme Buchstaben getrost ausgelassen werden konnten, rechnet doch kaum ein Paar inklusive aller Unfälle mit sechsundzwanzig eigenen Nachkommen. So heisst der älteste einer mir bekannten Familie Alfred und der Reihe nach folgen sie ordentlich dem Alphabet, bis zur jüngsten, der siebten, der kleinen Zita.

Ein ganz exotisches und besonders gebildetes Paar wählte Alliterationen zu Roms sieben Hügeln und nannte ihre Kinder Adolf, Christa, Erika, Karla, Paula, Quirin und Vreni. Wobei zu sagen ist, dass sie sich vorerst an die Familie hielten und erst später kreativ wurden: Adolf hiess nach dem Grossvater väterlicherseits, Christa gerecht nach der Grossmutter mütterlicherseits, Erika nach der Grossmutter väterlicherseits. Erst Karla, die vierte, war mangels weiterem Grossmutternamen eine Neuschöpfung in der Familie. Ihr folgte frech Paula, die zweite Neuschöpfung. Spätestens dann muss die Idee der sieben Hügel Roms definitiv Fuss gefasst haben. Denn als das nächste Kind ein Knabe wurde, erhielt es den Namen Quirin - was für ein Gück dass es ein Knabe war, einen Mädchennamen mit Q zu finden hätte erheblich mehr Mühe bereitet, das hat bisher nicht einmal J.K. Rowling mit ihrer Vorliebe für ausgefallene Namen geschafft. Das Nachzüglerlein Vreni machte es der Familie da schon leichter. Übrigens war Vreni eine Schulkameradin von mir und eröffnete uns nach ihrem achzehnten Geburtstag, ihr sei mitgeteilt worden, ihre Eltern seien in Wirklichkeit ihre Grosseltern und ihre Lieblingsschwester Christa ihre leibliche Mutter. Da sie aber so gut in die Reihe gepasst hätte, habe man kein grosses Theater um den jugendlichen Fauxpas der Zweitältesten gemacht und das Baby in die magische Siebenzahl integriert. Ein sechsgeschwistriges Einzelkind also, ein statistisches Unikum.

Bei uns war weniger System in der Nachwuchsplanung. Meine Eltern hatten sich mit 30 kennengelernt und beschlossen, ein Dutzend Kinder zu haben, im dutzend billiger und eine Fussballmannschaft inklusive Reserve, sahen dann aber schon bei vieren, dass es an der Zeit war, zu bremsen und liessen das Kindermachen nach fünf Geburten und sechs Kindern sein, wobei es dann doch noch einen Unfall gab, was die Siebenzahl voll machte. Bei uns heissen die älteren fünf nach frühchristlichen Heiligen und die jüngeren beiden tragen traditionell altrömische Namen. Ausgewählt wurden die Namen anhand des errechneten Geburtstermins und eines christlichen Heiligenkalenders, so dass der Namenstag eines jeden von uns höchstens eine Woche von seinem Geburtstag entfernt ist. Da die Namenstage bei uns aus finanziellen und religiösen Gründen nicht gefeiert wurden, spielte das jedoch nie eine grosse Rolle. Einzig wenn man unsere Namen auf die Initialen reduziert, gibt unserer Familie zu schmunzeln: es beginnt mit einem urknalligen BUM und hört auf mit dem sechsten Buchstaben des Alphabets für das sechste, und dem siebten für das siebte Kind.

Wir waren sieben wilde Kinder. Viel zu viel Temperament, wenn Ihr mich fragt. Von sieben Kindern sind sechs weiblich, erst der zweitletzte war ein Junge, und was für ein feiner, verzärtelter, goldgelockter Junge er war, völlig ausserstande, sich gegen die tempramentvollen Furien zu wehren, die den alten Landsitz beherrschten, in dem wir hausten. Sagen Sie bitte nicht, Mädchen seien bräver als Jungen, das ist schlichtweg falsch. Angeführt wurde die Furienschar von der zweitältesten, ein Schulbeispiel einer Politikerin, die meisterhaft Bündnisse schmiedete, Meinungen machte, Komplotte einfädelte und jede gegen jede aufbringen konnte, ganz nach ihrem Gusto, Hauptsache, sie konnte sich im resultierenden Chaos unbemerkt und nebenbei ihr gerade gewünschtes Objekt unter den Nagel reissen. Leider hat sie inzwischen das Zeitliche gesegnet - Gott sei ihrer Seele gnädig und verschone uns vor ihrem Geist. Wir trauerten um sie, alle ihre Geschwister und Verwandten trauern um sie, weil es sich so gehört. Amen. Übrigens bin ich froh, dass es KEINE Auferstehung der Toten gibt. Ein Leben lang hatte sie variantenreich und effektvoll ihren eigenen Tod inszeniert, bis es diesem irgendwann zu bunt wurde, und er sie mit leichtem Prankenhieb niederstreckte und zu sich holte.

A propos trauern, da kommt mir Rosemarie, die atypischste mir bekannte Sechsgeschwistrige in den Sinn, auch sie eine ehemalige Schulkameradin von mir. Als siebtes Kind war sie ein Einzelkind, weil all ihre Geschwister im Kindbett oder im Babyalter gestorben waren (ja, das gab es noch in Bergregionen der Sechzigerjahre!), ausser einem, ihrem nächstälteren Brüderchen, das vor ihrer Geburt und seiner Einschulung an der Hand seiner Mutter einem böswilligen Autofahrer zum Opfer gefallen sein soll, wie mir die Mutter erzählte. Vor ein paar Tagen hab ich sie wieder getroffen, Rosemarie meine ich, nicht ihre Mutter, und von ihr erfahren, dass sie leidet. Leidet am ständigen Vergleich mit ihren allzufrüh in ihrer Entwicklung gestoppten sechs älteren Geschwistern. Sie leidet darunter, ständig die schlechteste Variante zu sein, "ausgerechnet du hast überlebt, wo du doch...", und die ganze Last der Altenpflege hänge an ihr. Kurz, verglichen werden, im Schatten stehen und leiden, Rosemarie trägt trotz ihrer Atypizidität die typischen Symptome einer Vielgeschwistrigen.

Die meisten mir bekannten Kinder aus vielkindrigen Familien LEIDEN. Sie leiden darunter, nie gesehen zu werden, nie zum Zug zu kommen, sie hassen ihre Geschwister und leiden darunter, von ihren Geschwistern gehasst zu werden, kurz, sie lieben das Leiden und ihre Opferrolle. Das ist bei uns nicht anders. Sechs Kinder in sechs Jahren und das siebte ungeplant nach weiteren vier Jahren als eine Art Unfall vor der Unterbindung der Mutter, das ist einfach zu viel, da muss man zurückstecken lernen. Das ist genau in unserer Zeit eine unglückliche Tugend, da in unserem Arbeitsklima nur jene überleben, die sich gekonnt in den Vordergrund boxen können. Die Zurückstecker finden auch hier eine legitime Begründung für ihr Leiden, das sie, jeder auf seine Art und dennoch alle ähnlich, auskosten.

Oh, und wie sie leiden! Ich kenne ein fünftes Kind eines Bäckers, der verdient inklusive Bonus beinahe ebensoviel wie seine sechs Geschwister zusammen, doch er leidet. LEIDET, weil er bei weitem nicht nach seinem persönlichen Wert entlöhnt wird, wie er mir im Vertrauen gestand, und natürlich hat er recht, er ist wie sie alle, die Kinder aus vielkindrigen Familien, unschätzbar wertvoll und dennoch in der heutigen Zeit unterschätzt.

Übrigens, heutige Zeit: mehr als die Geschwister sich untereinander hassen, werden sie von ihren inzwischen pensionierten Eltern gehasst, präziser, beneidet, weil sie alles können und dürfen, während ihre Eltern ein Leben lang zurückstecken mussten. Mussten? Wäre dies nicht ihre eigene Wahl gewesen, würde ich sie und all ihre Leidesgenossen aus vollem Herzen bemitleiden.

Die Kinder aus vielkindrigen Familien, die ich kenne, haben so richtig schön ausgeprägte, starke, kräftige Neurosen. Zwei Jahrzehnte Zusammenleben im engen Rollenkorsett und ständiges wachsames Lauern: "hab ich mein Zimmer auch abgeschlossen? Den Schmuck und die wenigen schönen Kleider verstaut? Die Liebesbiefe und Tagebücher vor neugierigen und zitierwilligen Geschwistern versteckt?" Zwanzig Jahre ständiger Kampf, die mühsam errungene Rolle zu behalten, das ist ein idealer Nährboden für Traumata. Wobei, das ist mir aufgefallen, die neurotischsten Reaktionen und Verhaltensweisen auf intrafamiliäre Ereignisse NACH dem zwanzigsten Altersjahr zurückgehen und wesentlich aggressiver sind als jene, die in kindlichen Traumata wurzeln. Wieso ist das so? Fragen Sie mich nicht, bitten Sie mich nicht um Antworten, ich beobachte nur.

Romantik des Kinderreichtums? Liebe heutige junge Eltern, bitte träumt davon, wenn's sein muss, ein Leben lang, doch hört rechtzeitig mit dem Kindermachen auf, es kommt nicht gut. Leider nicht, auch wenn es im Moment um ein Überleben des Schweizertums in unserem immer stärker überfremdeten kleinen, engen Schweizerboot geht. Träumt davon, vom neuen, guten vielgeschwistrigen Menschen, der teilen und sich integrieren kann, der sich seit früher Kindheit Bescheidenheit, Mass und soziale Kompetenz angeeignet hat und ein besserer Erdenbürger ist als seine Einzelkindermitmenschen, die das alles noch lernen müssen. Aber macht ihn nicht. Bitte.


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Glückliche Kindheit

Ich habe eine glückliche, verträumte Kindheit im Windschatten eines gewaltigen Familiensturms erlebt. Es gibt ein Familientagebuch, liebevoll begonnen und mit vielen Kindersprüchlein und kernigen ersten Sätzen geschmückt. Von "I bin en Bi-ba-Butzelmaa" bis "Gömmer Tante Hedi go verruckt mache" der kaum gehfähigen, zu allem bereiten Zwillinge. Nein, nicht ganz bis dahin, das kam erst etwas mehr als ein Jahr später und entstammt der mündlichen Familientradition. Denn das Familientagebuch hört bei der elterlichen Ankündigung meiner bevorstehenden Geburt, bzw der Reaktion meiner vier Schwestern auf Mutters vierte Schwangerschaft auf. Begeistert war niemand, ein Esser / Herumkrabbler mehr halt, irgendwie werden wir auch den durchbringen. "Aha" ist das letzte Wort - Zitat der einjährigen nächstälteren Schwester, der bis heute in tragischer Weise Verdrängten, dem ewig jüngeren Beta-Zwilling.

"Aha." Auf gut deutsch, ich hatte von Geburt an die volle Freiheit, in meinem eigenen, nicht sehr beachteten Winkel zu leben und mir dort mein eigenes Leben und Ich einzurichten. Gut, sage ich, sagte ich mir wohl schon pränatal, prima. Ich darf in aller Ruhe beobachten und mir meinen eigenen Reim machen. Freiheit im eigentlichen Sinne. So hielt ich mich gekonnt von Anfang an aus allem raus. Eine Eigenschaft übrigens, die meine Mutter wie auch unsere zweitälteste, die Politiker-Schwester zur Weissglut bringen konnte - eine Eigenschaft auch, die mir im Studien- und Arbeitsleben bisher ausserordentlich zugute gekommen ist. Papas stolze "hani Papi ganz elei"-Sonntagfrühmorgenwanderpartnerin. "Ein stilles Wässerchen",kommentiert Grosspapa in seinem Tagebuch. In der Tat. Was interessieren mich fremde Weissglüte, mein Leben ist das, was ich IN mir trage, wichtiger als die unmittelbare Akzeptanz ist die Planung und Durchführung des jeweils nächsten Schrittes. Und die - wieder sehe ich amüsiert aus den Augenwinkeln Anzeichen einer Weissglut - Konzentration auf das rein Mechanische meines Wirkens in der äusseren Wirklichkeit, während meine inneren Kräfte auf "den Weg" Ein Leben in bewältigbaren Etappen, in Projekten. konzentriert sind.

Ich plane gern. Konkret: analysiere die Ist-Situation, suche Verbesserungspotential und Wege, die zu einem besseren Zustand führen. Dann sammle ich Werkzeuge und Kräfte - und springe. Seltsam, so einfach ist die Grundstruktur meines Lebens und Handelns: Beobachten, Schauen, die Welt und meine Mitmenschen verstehen zu versuchen, einen Weg durch sie hindurch zu finden und dabei, fast noch wichtiger, mit mir selbst und meinem Leben im Reinen zu sein. Ich singe gerne, für mich. Haben Sie mein Märchen vom kleinen weissen Nichts gelesen? So meine ich es: im eigenen Baum sitzen, vor mich hinsummen und mit den Fäden der gesummten Tonleitern an einem Etwas weben, das vergeht oder nicht, aber immerhin das Eigene ist. Übrigens kann man mit dem Gewebe eines eigenen Etwas zuweilen erstaunlich tiefe und breite Gräben überwinden, wie auch der Brunnentraum illustriert.

Ich war ein stilles, genügsames Kind. las sehr früh und reihte Buchstaben aneinander, erst mit weniger, später mit mehr Sinn für Inhalt. Ganz im Vertrauen sage ich Ihnen, aber behalten Sie das bitte für sich: lange bevor ich lesen konnte, konnte ich mich schon hinter Büchern verstecken, nach bekannten Buchstaben suchen, mit Freuden hie und da einen zu entdecken, einige sind mir wohl dabei entgangen, und mir staunend vorzustellen, was da wohl alles für Geschichten verborgen waren, hinter dieser Unzahl von Buchstaben. Dachte mir selber Geschichten aus und erfand Welten, die einmal, wenn ich gross sein werde, meine Welten sein würden. - Ist dieser Reichtum nicht ein unbeschreibliches und unbezahlbares Glück? Die Kindheit hat so viele Zukunft vor sich, so viele Möglichkeiten, so viele offene Wege!

Geschichten! Da ich warten musste, bis die Zwillinge, meine beiden unmittelbar nächstälteren Schwestern eingeschult wurden, bis ich mit dem Kindergarten beginnen durfte, denn drei Kinder derselben Familie in derselben Gruppe sind zu viel aufs Mal, war ich etwas älter und weiterentwickelt als meine Mitkindergärtler. Ich kannte auch schon mehr Buchstaben und Zahlen - und hatte mit den Zwillingen auch zwei eifrige Lehrerinnen, die mir allabendlich ihren Schulstoff in Kurzfassung weitergaben - was mir schnell den Ruf einbrachte, ich könne schon richtig lesen, während alle andern Kindergärtler noch mehr aufs Spielen spezialisiert waren. So war es nicht wenig erstaunlich, wenn die Kindergärtnerin ihre tägliche Portion Vorlesen beendete und das Buch beiseite legte, natürlich immer im spannendsten Moment, wie man das so tut, dass einige Kinder zu mir geschlichen kamen und mich baten, ihnen ein weiteres Stück vorzulesen. Sie können sich vorstellen, diese Honigtopfnaschgelüste. Ich war natürlich hin- und hergerissen. Einzelne Buchstaben und vielleicht Wörter lesen, ja, das konnte ich. Aber ganze Sätze und mit Zusammenhang und in einem Tempo, dass man zuhören konnte, da war ich natürlich weit überfordert. Trotzdem reizte mich die Geschichte natürlich auch. Und sollte ich mich blossstellen? So nahm ich denn jeweils das Buch, setzte mich in den Kreis der Zuhörer und... erfand. Flunkerte. Spekulierte. Ob jemals einer meiner aufmerksamen Zuhörer bemerkte, dass ich nicht wirklich die Fortsetzung, sondern nur mögliche Fortsetzungsvarianten vortrug? Ich werde es wohl nie erfahren. Befürchtet habe ich es immer.

An meinen ersten Primarschulaufsatz erinnere ich mich genau. Es war in der dritten Klasse. Der Lehrer erzählte den ersten Teil einer Tierfabel, die wir erst zusammenfassen und danach zu Ende erfinden mussten. Ein gefundenes Fressen für mich! Wie lange hatte ich mich auf das Aufsatzschreiben gefreut! Ich stürzte mich darauf und gab mein bestes - zum Unglück all meiner Klasssenkameraden, denn der Lehrer verglich die Texte miteinander und wertete sie gegeneinander aus. Pädagogisch vielleicht nicht allzu geschickt, aber für mich unendlich flattierend, erklärte er: wenn er dem einen wirklich überragenden Aufsatz gerecht werden wolle, müsse er alle andern ungenügend setzen. Was er auch tat.

Das Ereignis hatte drei unmittelbare Konsequenzen für mich: wie Sie sich vorstellen können, war ich erstens mit einem Schlag das - beliebteste -Kind im Tal und musste lernen, mich gegen eine nicht enden wollende Kette - seltsamer Zufälle - abzugrenzen.

Zweitens lehrte mich unser wilder Grosspapa die alte deutsche Beamtenschrift und begann mit mir eine Brieffreundschaft, die wir noch bis weit in meine Internatszeit hinein in ebendieser Schrift fortführten, um, wie er betonte, unsere Korrespondenz vor unerwünschtem Lesen durch Unberechtigte zu schützen. Vielleicht liegen in diesem Geheimschriftbriefwechsel die Wurzeln meines späteren Studiums der Altorientalistik mit ihren vielen Sprachen und vor allem Schriften. Unseren letzten Brief tauschten wir im Monat meiner Maturaprüfungen. Er hatte mich unermüdlich gebeten, ihm meine Literaturpreistexte zu Händen seines 'Familienbuchs' zuzusenden. Einmal mehr hatte ich abgeblockt, weil ich nicht mit dem 'roten' Teil unserer Familiengeschichte in Verbindung gebracht werden wollte.

Und drittens - lud mich die ebenfalls achzigjährige Grossmutter mütterlicherseits, deren Namen, stille Ernsthaftigkeit und helle Haut ich geerbt hatte, ein letztes Mal zu sich in die Ferien ein, wo sie mir ihr Manuskript zeigte, ein Stapel schreibmaschinengeschriebener Seiten übersäht mit manuellen Korrekturen, und trug mir auf, "wenn du einmal gross bist, musst du rèvidieren und pùblizieren mein Buch" - ihr Lebenswerk. Mutter, das heisst, ihre Tochter, hasst mich glaub ich noch immer für dieses Privileg, das sie sich für sich selbst erhofft, aber mit ihrer Wahl, eine Grossfamilie zu gründen, verscherzt hatte. Aber das ist eine andere Geschichte, und kann ein andermal erzählt werden...

Naja. ich hab mich später oft etwas zurückgehalten, um gerecht zu sein, denn keinem der folgenden Deutschlehrer entging der Qualitätsunterschied zwischen meinen Ausätzen und jenen aus dem Rest der Klasse. Es gab Deutschlehrer, die mich an einem anderen Massstab massen, nachdem sie nach der ersten Aufsatzrunde in der neuen Klasse nach einer gerechten Strategie Ausschau gehalten hatten. ("Jeder anderen hätte ich eine 6 gegeben", stand einmal unter einem meiner Aufsätze, "Du kannst mehr. 5." 6 ist im Schweizer Schulsystem die Höchstnote.)
Bevor Sie nun überlegen, ob diese Kombination mehrerer Massstäbe und Zurückhaltung gerecht sei, bitte ich Sie zu berücksichtigen, dass mir das recht war. Ich mag das Rampenlicht nicht so sehr.

Es gab Deutschlehrer, die mir - ob als Gegenleistung für die beiden angewandten Massstäbe oder aus reiner Freude an der Lektüre, werde ich wohl nie wissen - so etwas wie eine Flunkerfreiheit gewährten. Statt einem Aufsatz gab ich zwei ab, wobei ich mich im ersten brav ans Thema hielt und im zweiten wild darum herum flunkerte - mit Vorliebe Phantastisches und leicht Absurdes, basierend auf wenigen Wortspielereien. Fliegen ist nichts besonderes, das konnte in meinen Texten eigentlich jeder, und die Personen flossen oft ineinander über, tauchten unvermittelt auf und verschwanden am hellichten Tage. Es gab versteckte Räume und unterirdische Gänge. Immer wieder diese versteckten Räume. Die habe ich geliebt. Und es gab immer viel zu entdecken.

Ich lese gerne. Wie es mir heute scheint, habe ich meine gesamte Kindheit ver-lesen. Während unsere Mutter eine Art Taxidienst zwischen dem grosszügigen aber baufälligen hundertfünfzigjährigen englischen Landsitz, in dem wir hausten, und der Praxis des Kinderarztes zwei Dörfer talaufwärts aufrechterhielt, und mal ein Kind mit einem Loch im Kopf, mal eines mit einer Wäscheklammer in der Wange, mal eines mit einer Schere im Arm einlieferte und verarzten liess, während Vater mit seiner im-Dutzend-billiger-Phantasie alles ihm mögliche unternahm, um etwas Struktur und Ordnung in die wilde Horde zu bringen, las ich mich scheinbar unbeteiligt in meinem Zimmer oder in meinem Geheimwinkel hinter dem Wäscheschrank unter der oberen Treppe, die Taschenlampe zwischen die Zähne geklemmt, durch Welten hindurch, die mir realer vorkamen als der um mich herum tobende Familiensturm. Flucht? Manchmal frage ich mich, welche der beiden Positionen eher Flucht war: Lebendigkeit und eigene Kreativität um jeden Preis oder Interesse für "die Welt da draussen" - wenn auch nur für die literarisch formulierte.

In meinen ersten Internatsjahren liebte ich die sonnige Fensternische gegenüber unseres Klassenzimmers. Mit dem Glockenschlag jeder noch so kurzen Pause nahm ich darin meine Position ein und las mich systematisch durch das gesamte mir zugängliche literarische Schaffen von Hermann Hesse, Luise Rinser, Heinrich Böll, Gerhart Hauptmann, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, und begann bei einer Querlektüre durch Gottfried Kellers Seldwyler Geschichten zu ahnen, dass eine kurze zusammenfassende Notiz nach der Lektüre jedes Buches von Nutzen gegen späteres Vergessen sein könnte. Doch die Erzählungen und Personen waren mir alle so klar vor Augen, dass ich ein wirkliches Vergessen für ausgeschlossen hielt. Dann begann das Gymnasium und plötzlich war keine Zeit mehr für systematische Lektüre. Am Anfang, als wir in Deutsch noch im Mittelalter steckten, versuchte ich den Unterrichtsstoff durch die Lektüre von Erec, Iwein, Lancelot zu ergänzen, dann musste ich wegen Stoffüberflutung aufgeben. Schade eigentlich.

Eine Ehemalige besuchte damals das Mädcheninternat. Eine Germanistikstudentin, welche sich auf ihren literarischen Akzess vorbereitete. Mit einem Blick auf die Liste ihrer Pflichtlektüre fragte ich sie: 'das müsst ihr alles gelesen haben?' Sie: '70 Prozent davon.' Ich hatte schon 80 Prozent davon gelesen. Das Thema Germanistikstudium war damit für mich mit einem Schlag erledigt.

Geschichten! Oft habe ich mir auch selbst Geschichten erzählt. Auf den langen, einsamen Spazierfahrten durchs Dorf meiner Kindheit - von meinem elften Altersjahr bis zu meinem Internatseintritt hatte ich das Amt eines "Heftchenaustragers" inne, was bedeutete, dass ich Woche für Woche die Schweizer Jugend und das Meiers Modeblatt an die Abonnenten des Dorfes austrug, und das waren natürlich auch die Bauernfamilien auf ihren weit entlegenen Höfen - schmiedete ich meine ersten Kinderkrimis. Ich konnte monatelang an ein und demselben Krimi arbeiten, der sich natürlich auf meinem immer gleichen Weg abspielte: an der hinteren Finelen, auch für eine geübte Radfahrerin wie mich zu steil zum Treten, schiebend und schnaufend, hatte ich erstmals bemerkt, dass irgend etwas nicht stimmte, und dort, gegen den an der Talmulde gelegenen Hof hin, sah ich sie rennen, die beiden Bösen Männer mit ihrem Beutesack ... ich will Sie jetzt nicht langweilen mit Kindergeschichten und einem kindlichen Blick auf die Gesellschaft, der ohnehin nicht authentisch wäre, da ich ihn aus der Erinnerung rekonstruieren müsste, aber natürlich war ich es, die die Missetäter stellte und entlarvte. Nein, die Geschichte war nicht ganz einfach gestrickt. Ein Teil der Verfolgung musste fliegend in Anspruch genommen werden, da meine Beine doch so ungleich kürzer waren. Und bis mich die Bäuerin des oberen Gehöfts dann an ihr Telefon liess, damit ich der Polizei meine Beobachtungen melden konnte! Heute wäre das ja viel einfacher, mit den Handys. Aber vielleicht erhält die Polizei heute so viele Anrufe, dass sie einem Kind gar nicht mehr glaubt? Es könnte sich die Geschichte ja aus Langeweile ausgedacht oder aus seinen kaum verarbeiteten Fernseheindrücken zusammengestrickt haben. Nein, es ist auch heute nicht einfach, kindlicher Krimiautor zu sein. Niedergeschrieben habe ich meine Krimis nie. Wofür auch. Ich betrachtete sie als Training für späteres literarisches Schaffen.

Ist nicht auch das Reichtum? Nicht alles sofort herausgeben müssen, sondern eigenes Schaffen ganz bewusst bei sich behalten zu dürfen. So empfand ich es, und es machte mich glücklich. Eine Art versteckter Schatz, den ich hütete und pflegte. Aber niemals aufschrieb, und übrigens nie jemandem erzählte.

Aufgeschrieben habe ich auch deshalb nicht allzu gerne, weil ich den Urteilen meiner Eltern und Geschwister entgehen wollte. Verzeihen Sie meine Arroganz, aber meine vier älteren, ständig und lauthals streitenden Schwestern hielt ich für ungebildet, da sie weit weniger lasen als ich und wenn sie lasen, dann Bücher, die ich zwischen meinem eigenen, sehr hoch gesteckten Lesepensum als "leichte Zwischenlektüre" verschlang. Wie leicht und wie zwischen- diese Lektüre war, kann ich heute nicht mehr beurteilen, damals schien es mir so. Die zweitälteste Schwester, eine programmatische Bildungsgegnerin, pflegte jedem Haue auszuteilen, der es wagte, ein ihr unbekanntes Wort zu gebrauchen. Mich nannte sie "Genie Lavabo", ein Genie im Kleinformat, eines zum runterspülen. Ihrer Bosheit durfte ich auf keinen Fall Futter geben, ihr musste ich ausweichen, wo es nur ging. Noch heute, zwei Jahrzehnte nach ihrem Tod, zucke ich zusammen, wenn ich ein selteneres Wort gebrauche. Spüre beinahe, wie sie ausholt zum wohlverdienten Schlag.

Später, in den Jahren meiner Internatszeit, entdeckte ich neben den Kurzgeschichten und den gezielt für den jährlichen literarischen Wettbewerb komponierten märchenartigen Erzählungen ein anderes literarisches Genre: den Brief. Ich hatte unzählige Brieffreunde, schrieb mindestens drei Briefe pro Tag und kannte die Postleitzahlen der halben Schweiz auswendig. Verging ein Tag, an dem ich keine Post erhielt, so fragte ich mich, was los war und wie dieses Übel beseitigt werden könne. Mit meiner intensivsten Brieffreundin tauschte ich zwei bis drei Briefe pro Woche - das heisst, zwei bis drei hin und zwei bis drei zurück - immer mehrere Seiten lang, voller Beschreibungen des Schulalltags und Jungmädchenphilosophien und -phantasien. Zwei bis drei, das heisst vier bis sechs Briefe pro Woche, damals, fragen Sie ungläubig? Das war möglich, ist meine Antwort, weil sie ein Postfach hatte und ich - nun ja, im Internat wurde die Post schnell ausgeliefert. In gewisser Weise haben wir, schreibwütig wie wir waren, die Zeit des eMails vorweggenommen, in der es kein Wunder mehr ist, mehrere Briefe derselben Person in derselben Woche zu erhalten. Damals war es aber eines, und ich wusste es zu schätzen, dass an jedem zweiten Mittag, wenn ich aus der Schule zurückkam, auf dem Tischchen neben der Garderobe ein Brief von Birgit lag. Auch das ein wertvoller Schatz: ein bisschen Kontinuität in einem sonst viel zu bewegten Leben.

Ich schreibe seitdem eigentlich ständig Briefe. Im Kopf. Nicht alle davon bringe ich auf Papier und schicke sie ab, um genauer zu sein, immer weniger, weil viele Brieffreunde eigene Familien, neue Welten und immer weniger Zeit haben. "You make me feel guilty!" schrie meine langjährige Brieffreundin letztes Jahr auf, weil sie mit Beruf und Kindern keine Zeit zum Zurückschreiben mehr habe. Schade. Dann eben nicht mehr. Aber ich schreibe trotzdem. Wie in meiner Kindheit gelernt, liebe ich lange, äusserlich einsame Spaziergänge oder Fahrradtouren, in denen ich in Gedanken endlose und manchmal tiefgründige Briefe komponiere.Oder in denen ich dem Mann, den ich seit den Internatsjahren liebe - der übrigens noch heute nichts davon weiss - alles erzähle, was mich berührt oder beschäftigt, was ich gesehen und erlebt habe. Erzähle ihm Filme, die ich gesehen und Bücher, die ich gelesen habe. Manchmal besprechen wir seinen oder meinen neusten Text - in meinen Gedanken oder in langen Briefen, denen dann wieder jahrelanges Schweigen folgt. Manchmal beratschlagen wir uns, wieder nur in meinen Gedanken, wie das, was jemand gesagt hat, zu deuten sei, welche Konsequenzen eine Abstimmungsentscheidung haben werde, ob abzuwarten oder zu handeln sei, wie wir weitergehen sollen. Üben Hart-auf-hart-Dialoge mit Berufskollegen und Arbeitgebern, Bewerbungsgespräche. Das meiste in meinen Gedanken natürlich. Er weiss nichts davon. Ich habe mir alsAchzehnjährige in jugendlicher Naivität geschworen, zu warten, bis er wieder frei ist, 'und wenn ich fünfzig Jahre warten muss', und habe bisher noch keine Möglichkeit gefunden, mein Unterbewusstes von diesem Schwur zu freizumachen. Eine Art schicksalsgetriebener Verzicht, unverständlich für alle, denen ich schon gar nicht davon erzählen werde. Andererseits aber viel Zeit für eigene Projekte, an denen es mir wahrlich nicht mangelt.

Eine der schönsten Erfindungen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts, um das Thema Schreiben und Brieffreundschaften abzuschliessen, ist meines Erachtens das Diskussionsboard im Internet - Oberfläche zur Pflege einer Art multilateraler Brieffreundschaften. Natürlich war die Erfindung nicht als solche geplant, doch sind in den letzten zehn Jahren tausende kleiner Nischen entstanden, in denen Menschen aus aller Welt in kleinen, intimen Gruppen Kontakt pflegen und allerlei Gedanken über Kultur und Menschsein austauschen. Keine Frage: auch ich besuche täglich mein board, und mit einer ungefähr Gleichaltrigen, die ich auf diesem Weg kennengelernt habe, tausche ich regelmässig die neu geschriebenen Bücher aus. Man kommt sich sehr nahe - innerlich nahe, ohne die Ablenkung des Physischen - in dieser sogenannt virtuellen Welt.


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Familienstadt

Unsere Familie war einfach strukturiert: meine Eltern und ihre Kinderschar wohnte in einem kleinen, verschlafenen Nest im Jura, und Mutters Halbbruder wohnte mit seiner Familie ein paar Täler weiter. Der ganze Rest der direkten Vorfahren, und da blieb nur noch die Grosselterngeneration, die aber recht zahlreich, wohnte in der zwei Zugstunden entfernten Grossstadt, die ich auf dem Internet-board augenzwinkernd "DFC - Dwarfland's Financial Capital" nenne.

Verwandtenbesuch hiess also, in die ewig viel zu heisse oder beissend kalte lärmige Stadt zu fahren, sich bei irgend jemandem einzuquartieren und von dort aus per Strassenbahn alle andern zu besuchen. Einfach, praktisch, gerecht, aber aufwendig. Sie wohnten in allen Teilen der Stadt und ich wusste schon früh, welche Strassenbahn zu welchen Verwandten führte, hörte mir Geschichen und Anekdoten an, liess mir zeigen, wer wo zur Schule gegangen war, wer wo sein Geschäft gehabt hatte, lernte die alten Arbeitswege abzugehen, die jetzt natürlich völlig überbaut waren, liess mir öffentliche Skulptur, geliebte Sprayereien, liebevolle architektonische Details zeigen und mich durch die Museen führen. Wahrscheinlich waren es die Museen, die mir an den Besuchen am besten gefallen hatten, jedenfalls zog es mich nach meinem Erststudienversuch thematisch wieder in diese Richtung.

Bedingt durch unsere überalterte Familienstruktur und die Tatsache, dass man in unserer Familie seit Generationen die Kinder erst nach dem dreissigsten Altersjahr bekommt, war "in die Stadt fahren" für mich gleichbedeutend mit "zu einem runden Geburtstagsfest fahren" oder "an eine Beerdigung gehen". Beerdigungen waren immer Anlässe, die vielen Verwandten vereinigt zu sehen und die Unterschiede zu bemerken. Geburtstagsfeiern hingegen waren besonders in den Zweigen der Vorfahren mütterlicherseits immer bestückt mit "treuen Parteifreunden"...

... die sich dann vorstellten mit "ich bin ein Parteifreund...", "...ein grosser Verehrer...", "... ein geistiger Schüler Ihres Grossvaters"... Sie hatten die Angewohnheit, uns Kinder zu siezen, als wären wir eine geistige Oberklasse, hatten meist kein Gesicht, keine Persönlichkeit, Schüler eben, dachte ich in meiner gnadenlosen kindlichen Offenheit, Kopien, Langweiler. "Die Partei", "die Wahlfamilie" waren mir schwer suspekt.

Später, zu Studienzeiten, traf ich auf die Enkelin eines Bundesrates - die erzählte Ähnliches: Familienfeste mit wahlverwandten Parteifreunden, Grossvaterverehrern und Medienvertretern, kurz, wenige Worte genügten, und wir verstanden uns.

Seltsam, nicht? Während sich unsere Grossväter politisch aufs Blut bekämpft hätten, verband uns ausgerechnet unser Enkelinnendasein. Nein, natürlich war es die mittelägyptische Grammatik, die uns verband, das gegenseitige Aufeinanderangewiesensein, ich auf ihre Kenntnis von Paralleltexten, sie auf meine Fähigkeit, das treffende deutsche Wort zu finden, aber unter dieser Zweckverbindung war ein anderes, viel dickeres Seil: die Abneigung vor "der Partei" im Singular, vor gesichtslosen Parteifreunden und Wahlverwandten, die nicht nach Adoptionsbereitschaft gefragt hatten.

Ihr Lieblingsonkel hatte als achtjähriger auf die Frage seines Lehrers nach dem väterlichen Beruf lakonisch geantwortet: "Butterrat". Eine philosophische Höchstleistung eigentlich, aus dem Kindlichen zu übersetzen mit "derjenige, der berät, wie die Butter aufs Brot muss". Und ich, ich habe als Kind stets am Halse unseres wilden Grossvaters den roten Schwartz-Schal vermisst. Aber ich schweife ab.

... und begleitet von witzigen und weniger witzigen Parteireden. So im Stil: "Grosspapa ist achzig - welche Bedeutung hat diese Tatsache für die politische Zukunft der Schweiz?". Als Kind kritisiert man sowas nicht. Im Gegenteil, man ist eifrig daran, Grundgesetze der Rhetorik aufzuschnappenund den Wortschatz zu erweitern. Erst neuerdings mutet es mich etwas seltsam an, dass Grosspapa, die Schweiz, die Stadt und die Familie beständig gleichgesetzt wurden. Der Politiker, die Partei, der Staat IST die Familie des Individuums.

Wer sieht eine herausragende Persönlichkeit realistischer: seine Verehrer, Hasser und Historiker, oder seine Familie? Fest steht: es sind zwei grundsätzlich unterschiedliche, ja möglicherweise unvereinbare Optiken.

Umgekehrt wurde die Familie auch unermüdlich als Keimzelle, Abbild und Hoffnung des Staates verstanden; ich mag mich mit aller Deutlichkeit an einen Sonntagnachmittag erinnern, ich war etwa dreizehn und meine kleine Schwester demzufolge gut sieben, wir waren beim Grossvater mütterlicherseits einquartiert und besuchten den Grossvater väterlicherseits. Nach einem ausgiebigen Spaziergang entlang der edlen Sonnenhangvillen hinunter zu den Wohnblöcken des Arbeiterquartiers sassen meine Schwester und ich verloren bei Tee und Gebäck, während sich die beiden Stumpen und Zigarillos rauchenden achzigjährigen Alfrede über die Fehler unserer Eltern unterhielten, die finanzielle und politische nicht-Tragbarkeit kinderreicher Familien diskutierten, die finanzielle Unterstützungspflichten des Staates thematisierten und werweisten, ob nun des einen Tocher oder des andern Sohn zur misslichen Situation beigetragen habe, ob sie durch Verschulden des Partners und durch ein Übermass von Romantik entstanden war - und vor allem, ob diese Misere wirklich ohne fremdes Einmischen bis zum bitteren Ende durchgestanden werden musste.

Mutter würde wohl einwenden: "nicht durchgestanden: euer Geld wird sie beenden, nun sterbt schön bald!"

War die Vielkindrigkeit unserer Familie durch ein Übermass von Romantik entstanden? Ich weiss nicht. Jedenfalls waren nicht nur unsere Eltern romantisch veranlagt - auch der rote Alfred hatte seine rosa Brille. Beim Spaziergang zurück führte uns der bakelschwingende Alte am Alternativen Jugendzentrum vorbei und ereiferte sich über die Schönheit, die klare Linienführung und die Wohlproponiertheit der Spraiereien an den Wänden - keine Ahnung, ob er das Zentrum jemals betreten hat, jedenfalls war die Kreativität der um Freiheit und eigenen Raum ringenden Jugend für ihn Inbegriff eines jungen, freien und lebendigen Staates, wie er uns begeistert erklärte, uns beiden Landmädchen, denen diese Spontanrede peinlich war, die wir das Zentrum aber zumindest schon von innen gesehen hatten und um die so gar nicht immer friedliche und kreative Verslumtheit seiner drogensüchtigen Bewohner wussten. Der Mensch sieht nur, was er sehen will.

Der familiäre Teil der Familienstadt, in der ich heute übrigens wohne, hat sich im Laufe der Jahre reduziert auf Urnenwände oder zurückgezogen auf die Parkanlagen der Friedhöfe, wie auch immer man das sehen will, aber die Ecken bleiben - die unsichtbaren Etiketten: "Tramlinie, die zu Soundso führte", "Haus, in dem Derunddie aufwuchs", "Schule, in der der rote Alfred (oder seine Tochter) unterrichtete", "Strasse, in der Grossmamas Atelier stand", "Schule, aus der der Rote Alfred entlassen und nach einer Demonstration seiner Schüler wieder eingestellt wurde", "Museum, in dem ich mit Grosspapa einen Nachmittag lang sinnierend vor der Eleganz der ägyptischen Katze gesessen bin",

"Das reine Anschauen! Goethe meint das vorurteilslose Anschauen, mir gefällt es aber an sich. Reines Anschauen. Nur anschauen und wortlos, bewegungslos aufnehmen." schrieb Grosspapa im Juli 1916 als junger Pädagogikstudent in sein Tagebuch, Schweigen und betrachten, das wolle er lernen. Weiss Gott, er HAT es gelernt, das konnte man wunderbar mit ihm. Kaum etwas hat uns so stark verbunden wie jene ausgedehnte schweigende gemeinsame Betrachtung der dreitausendjährigen, höchstens ellenhohen Holzskulptur. Ich war ihm wohl eine gelehrige Schülerin...

"Brunnen, vor dem mir Grosspapa vom Brüsseler Maneken Pis erzählte", "Park, in dem wir spielten, wenn wir bei den Arbeiterquartiergrosseltern in den Ferien waren", "Schrebergartenüberbauung, in der wir dann die Sonntage verbrachten" und so weiter. Viele, viele kleinere und grössere, dumpfe und leuchtende Labels, die manchmal auch kommen und gehen. Ob es das ist, was einen an eine Stadt bindet? Mich vielleicht. Ich bin als einzige der Familie hierher zurückgekehrt und geblieben.

Manchmal, wenn ich aus purer Nostalgie einen Sonntag lang Strassenbahn fahre und mir die verschiedenen Winkel, Bauten, Strassen und Begebenheiten durch den Kopf gehen lasse, wenn ich mich im Erinnerungs- und Etikettenpool sule und über die Zweige der Familiengeschichte nachdenke, Verbindungen und logische Kausalitätsketten suche, manchmal, wenn sich meine eigene Geschichte mit der Familiengeschichte mischt, wenn ich von anderen kratzigen Käuzen wie Gottfried Keller oder Arnold Böcklin höre, die mich sehr an das Urgestein unseres Grossvaters mütterlicherseits erinnern, wenn ich auf starke und energische Geschäftsfrauen wie dessen erste Gattin stosse und mit ihnen in irgend einem Strassencafé über die Stadt, die Welt und das Leben plaudere, ja dann spüre ich eine natürliche und starke Verwurzeung mit dieser Stadt, die in den vergangenen fünfzehn Jahren längst meine hätte werden können, die in meiner eigenen Bezeichnung aber immer noch "die Familienstadt" ist.

Sie ist genau jene Stadt, in der ich mir in einem heissen Sommer als kopfschmerzengeplagte Zehnjährige feierlich gelobte, ich erinnere mich genau, wo ich stand und welches Bauwerk ich betrachtete, feierlich und ewiglich gelobte, niemals, niemals freiwillig zurückzukehren. Es war gerade wieder eine Beerdigung, die ganze Familie war anwesend, ihr Lärm mischte sich mit dem Verkehrslärm und dröhnte in meinem schmerzenden Kopf, der in der Hitze des Hochsommers zu bersten drohte. Auch dieses feierliche Gelöbnis ist eine Etikette, die fest an diesem Platz hängt, an dem ich heute mindestens einmal wöchentlich vorbeikomme. Eine Etikette, die mir immer wieder ein Schmunzeln entlockt.


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Geld

Eines der Reichtümer, die uns dieses Leben zu bieten hat, ist Geld. Neinnein, winken Sie jetzt nicht ab, ich werde hier kein facts und kein stocks schreiben. Nicht solches Geld. Das heisst, nicht nur. Ich habe von einem anderen ganz viel, und es ist schön, neben dem realen auch dieses virtuelle zu haben. Soll ich Ihnen erzählen, wie das geht? Nun - Sie schenken sich virtuell einen grösseren Betrag. Am besten einen, den Sie selbst gar nie haben werden. Den legen Sie dann an. Nichts Kinderkram, das ist gut und tut gut, ehrlich. Und man muss es nicht versteuern.

Ich kann auch ganz vorne beginnen. Mit dem Time Turner Game. Nehmen wir an, Sie haben einen Time Turner und können exakt fünf Jahre zurückgehen und eine ganz bestimmte Sache neben Ihr schlafendes Ich legen. Einzige Bedingung an dieses Objekt: es darf Ihr Leben nicht VOLLSTÄNDIG verändern, denn Sie müssen fünf Jahre später ja wieder dort landen, von wo sie gestartet sind. Was wird das sein?

"Ein Wecker", hat jemand aus dem Web zurückgeschrieben, "denn damals hatte ich noch keinen".
Und eine andere Person: "ein Paar goldene Ohrringe für den Schulabschlussball!"
Es gab auch die Stimme: "Einen Brief. geh nicht mit Gerry aus, sondern mit Pete!"

Ich glaube, in dieser dritten Antwort liegt sehr viel lebenspraktische Weisheit. Mein Vorschlag: ein magisches Notitzbuch, das zu bestimmten Tagen präzise Angaben gibt, die Ihr Ich zu befolgen hat. Ist der Tag oder die Woche der verstrichen, erlischt die Tinte und das Buch ist leer. Auch Angaben von künftigen Tagen sind unsichtbar. Ihr Ich darf während der ganzen Projektzeit mit KEINEM MENSCHEN über dieses Projekt sprechen (absolute Schweigepflicht, sonst verschwindet das Buch) und soll die Anweisungen GENAU und möglichst rasch befolgen (Gehorsam). Die Angaben: im wesentlichen Selbstaufmunterung und einzelne wenige Börsenaufträge. Nein, keine Lottozahlen. Und keine Börsenhektik: es sind insgesamt während der fünf Jahre Laufzeit des Notitzbuches nicht mehr als zehn Börsenaufträge zu tätigen.

Sie werden staunen: mit einer Basis von lediglich 6'000 Franken kann auf diese Weise innerhalb von fünf Jahren ein Kapital von einer Viertelmillion erwirtschaftet werden, die jedoch rechtzeitig in ein anderes Finanzinstrument übertragen werden muss. Sie kennen die heutige Lage der Finanzmärkte. Auch das steht im magischen Notitzbuch, möglicherweise als letzter Eintrag. Um dieses besser verständlich zu machen, kann jeder Auftrag mit einem Verweis enden, wann der jeweils nächste Eintrag ersichtlich ist. Die Einträge schliessen mit dem Rückzug des Endkapitals. Der Viertelmillion, mit der Ihr heutiges Ich weiterarbeiten kann. Auch hier eine Bedingung: das Geld darf nicht gedankenlos ausgegeben, und auch nicht ohne genaue Studie der Wirtschaftslage und mindestens zweimaliges Darüberschlafen weiter investiert werden. Das beste wäre wohl einfach, an einem fixen Datum 20xx, dem letzten Eintragsdatum, den Auftrag zu geben, das ganze auf ein normales kleines Sparkonto zu überweisen und zehn Jahre lang liegenzulassen.

Sie hatten vor fünf Jahren nicht 6'000 Franken frei verfügbar? Nun, dann kann das magische Notitzbuch mit Zahlen für einen FÜNFER im Lotto beginnen - zweimal nacheinander falls überhaupt kein Anfangskapital organisierbar war, das sollte reichen. Keinen Sechser - wie Sie gelesen haben, ist es verboten, das Leben Ihres vergangenen Ichs vollständig zu verändern. Der Lerneffekt würde verlorengehen. Und es könnte sein, dass Sie nicht mehr oder nur mit schmerzvollen Erfahrungen an den heutigen Punkt Lebens zurückkehren könnten. Dann aber wären Sie deutlich weniger glücklich als heute und das ganze Spiel hätte Ihnen bloss geschadet. Das will ich nicht.

Was soll dieses virtuelle Geld? Da es eh nicht ausgegeben werden kann, was macht es für einen Sinn? Gute Frage. Meine Antwort ist einfach: es ist eine Art Absicherung für den schlimmsten Fall, der kommen kann, oder auch nicht. Und... es macht glücklich. Es macht Sie zwar bloss virtuell unabhängig von Schicksalsschlägen, doch es demonstriert Ihrem Ich die Hebelwirkung von Geld plus die Möglichkeit einer Person, sich unabhängig vom Verlauf seines Lebens, respektive von sozialem Hintergrund ein eigenes Leben zu schaffen. Es ist ein gutes Gefühl, im Hintergrund diese Absicherung zu haben. Die Welt sieht anders aus, wenn man sieht - wenngleich bloss als Selbstbetrug - was für Möglichkeiten plötzlich offenstehen, wenn diese kleine Nebensache erfüllt ist.

Ein weitrer Effekt: sprechen Sie einmal mit einer Person über die hypothetische Möglichkeit, unerwartet einen grösseren Geldbetrag zu erlangen. Sie werden staunen, die meisten Menschen werden sich sehr schnell in wortreiche Träume verstricken, wie sie ihn ausgeben würden - viel zu schnell hätten sie weit mehr ausgegeben als sie überhaupt erhielten. Auf den Punkt gebracht: Versager neigen zum Wörtchen "und", während die wenigen Erfolgreichen dieser Welt das Wort "oder" bevorzugen. Ausgegebenes Geld hat die Eigenschaft, dass es weg ist. Das mit dem Time Turner Game erwirtschaftete Geld hingegen ist bloss virtuell - es hat die Eigenschaft, dass es nicht ausgeb-bar ist, aber dafür auch nicht abnimmt, sonder genauso virtuell wie es entstanden ist, verzinst werden kann. Sagen Sie was Sie wollen, mir gefällt diese Währung.


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Essen und Nahrung

Aach, wissen Sie - so viel braucht der Mensch gar nicht, um im Moment zufrieden zu sein. Vielleicht reicht es, eine winzige Verbesserung zur vertrauten Situation registrieren zu können. Mir zum Beispiel gefiel es, im Internat ein Zimmer zu haben, in das niemand in meiner Abwesenheit reinlatschte, und das überdies über ein eigenes Waschbecken verfügte. Ein eigenes Waschbecken ist für mich sowas wie der Inbegriff der garantierten Privatsphäre. Und das Essen erschien mir im Internat, nach Jahren billigster Ernährung im Elternhaus wie ein einziges, lang andauerndes Fest, mögen meine Schulfreunde noch so darüber gespottet haben. Meine Mutter war stets stolz darauf gewesen, mit knapp drei Franken pro Person und Tag durchzukommen, und entsprechend sahen unsere Familienmahlzeiten aus. Guten Appetit!

Nach den Ferienlagern der Pfarrei, in denen sich Mutter als freiwillige Köchin anerboten hatte, und wo sie ihr minimalistisches Budget beweisen konnte, wenn die Kinder zuhause ihre Eindrücke erzählten, rauschte jeweils ein giftiges Flüstern durchs Tal: "... erniedrigend, Kinder sind doch auch Menschen...", "... würde ich nicht einmal meinen Schweinen zumuten... ", "... grenzt an Vergiftung..." Ein Flüstern übrigens, das seltsamerweise nie bis zu den Ohren meiner Mutter vordrang. Das Thema selektives Hören müsste im Kapitel "Verdrängen" etwas näher zur Brust genommen werden...

Mit einen ähnlichen Abgefüttertwerden musste ich mich später bloss einmal noch abfinden: in der Mensa der tübinger Universität, wo man für zwei Mark fuffzich einmal Kelle erhielt - irgend was undefinierbares Eintöpfisches, das auf dem quadratischen weissen Standardteller nach dem Ausgeben - dem "Rationfassen" - noch eine Weile wabbelte und dann als Haufen stehenblieb, bereit, als blosse Ernährung in die knurrenden Mägen der bescheidenen und nasehaltenden Studenten hineingelöffelt zu werden. Dieser wabbelnde Haufen ist glaub ich etwas, was man irgendwann erlebt haben muss, um es dann mit voller Berechtigung und aller Gewalt verdrängen zu dürfen. Falls Sie Tübingen als Tourist einmal besuchen, was ich Ihnen wirklich ans Herz lege, denn es gibt nur wenige annähernd malerische Städtchen, dann gönnen Sie sich als Scherz einen Abstecher in die Mensa und erleben Sie den wabbelnden Haufen selbst - ich hoffe nur, dass der Koch oder die Rezeptur noch nicht geändert haben, fast kommt mir eine solche mögliche Änderung als frevelhaftes Abweichen von einem guten und erhaltenswerten Stück Volkskultur vor.

So kauften wir Mädchen des fünften Stockwerks uns nach der zweiten Semesterwoche Kochbücher und behalfen uns in der Stockküche des Studentenheims selbst mit eigenen kulinarischen Basisübungen. Unangenehm teurer als Mensakost war das nicht, allenfalls etwas einseitiger - doch wer weiss das schon so genau - aber man wusse, was man ass und konnte es im Laufe des Tages unterwegs mit etwas Gundkenntnis der Ernährungslehre zu einem sinnvollen Ganzen ergänzen.

Ich glaube, der Koch der tübinger Mensa war genauestens informiert, dass eine Malzeit zubereitet wird, indem Lebensmittel in einen Topf gegeben und aufgekocht werden. Er verfügte also über eine solide Basisausbildung. Soviel und die Kunst, sich in allerengstem Finanzrahmen bewegen zu dürfen, hatte er mit meiner Mutter gemein. Ob auch er einen gewissen Berufsstolz und gewisse geheime Eigenrezepte entwickelt hat, an die sich seine Esser nicht ohne ein flaues Schwindelgefühl in der Magengegend erinnern? Das Leben eines Menschen ist nie sinnlos, solange er es schafft, seiner Umwelt den eigenen Stempel aufzudrücken.

Dieser Stempel darf durchaus abwaschbar sein. In irgendwelchen Schulferien zur Internatszeit hatte ich die rettende Idee, mit meinem Teller vom familiären Mittagstisch Richtung Küche zu verschwinden, Mutters kreative Saucen wegzuwaschen und mit der Rezeptbereinigung an den Tisch zurückzukehren, um ohne anschliessendes Magenbrennen wenigstens an die Grundnahrung heranzukommen. Hier kam mir übrigens ein Vorteil der Grossfamilie zugute - dort gehen szenischen Einlagen solcher Art in der Masse unter.

Im Internat waren solche szenischen Einlagen nicht möglich, wir waren überwacht, doch sie waren auch nicht nötig, denn hier warteten Gaumenschmäuse auf mich, besonders in den ersten drei Jahren, wo ich aus der begnadeten Hand Schwester Adelheids schmausen durfte, die mir Fünfzehn- bis Achzehnjährigen beigebracht hat, dass es tägliche Sinnesfreuden gibt, die den Alltag verschönern, und dass man diese ruhigen Gewissens geniessen darf.

Eines hab ich gelernt, sowohl am familiären Esstisch als auch in der tübinger Mensa: es gibt Leute in dieser Welt, die meinen im Ernst, man sei dumm und merke nicht, denen muss man ausweichen, ohne sie allzusehr zu offendieren, und selbst für sich sorgen. Wer sich einmal seinen Finanzzustupf selbst verdient hat, weiss, dass dies in der Regel nicht allzu schwierig ist. Nur an die grosse Glocke hängen darf man es nicht, sonst kommen gerade jene Leute, die einen für dumm halten, hinter dem Busch hervor und beschimpfen einen, den Wert ihres Tuns nicht zu estimieren. Was nun wirklich das allerletzte ist, was man ihnen antun darf.

In den ersten Semestern meiner Studienzeit, fällt mir ein, schrieb ich für einen schweizerischen literarischen Wettbewerb ein Hörspiel, mein erster umfangreicherer Versuch im Absurden. Um eine Familie ging es, eine Mutter, die zunehmend die Faszination entdeckte, ihrer Familie ungeniessbare Speisen vorzusetzen, grobkörnige Walderde in die Pfefferstreuer füllte, Salate mit Käferbeinen statt mit gehakten Kräutern garnierte, "sieht aus wie Dill", und die Macht genoss, denn ernährt wollten sie ja alle sein, die regelmässig an den Familientisch Heimkehrenden, und wählerisch zu sein war ihnen versagt.

Schade, dass ich diesen Text verloren habe. Wie gerne würde ich ihn heute wieder lesen, vielleicht würde ich ihn wie Regentag heute aus Distanz wiederentdecken und ganz besonders mögen. Dass irgend welche Spuren darin autobiographisch seien, wie die zweite Frau unseres roten Grossvaters nach ihrer Probelektüre munkelte, wies ich damals entrüstet von mir. Damals glaubte ich im Ernst, alles sei erfunden.

Viele Semesterferien meiner frühen Studentenzeit habe ich im Kloster verbracht. Die kontemplative Ruhe, das Schweigegebot, die wenige Zusatzausbildung und vor allem die Gregorianik, das tägliche Singen, gefielen mir sehr. Und die Küche, ich komme ins Schwärmen, die Küche war in jedem dieser Klöster ausserordentlich gut. Nach solchen äusserst sinnlichen klösterlichen Semesterferien versuchte ich manchmal einzelne Gerichte aus der Erinnerung nachzukochen, doch unmöglich, diese Kerbelsuppe zum Beispiel, die ich in Nestelbach bei Graz kosten durfte sie muss metaphysische Zusätze gehabt haben. Nie zuvor und danach habe ich jemanden erlebt, der eine Nebensächlichkeit wie eine Suppe zu einem einem echten und unvergesslichen Höhepunkt des Tages machen konnte.

Zurück zum Thema Tübingen, das mir im übrigen prima gefiel. Nicht nur, weil mein Zimmer im Studentenheim wie das Internatszimmer ein Waschbecken hatte und zudem abschliessbar war, sondern auch, weil in diesem malerischen Neckarstädtchen alles innert einer halben Stunde per Fahrrad erreichbar ist, weil die Bibliotheken wohlbestückt und das Lebensklima in schwäbischer Manier ruhig, lebensfroh und heiter-beschwingt ist und man an der Uni Wert auf eine breite kulturelle Bildung legt, die ich weiss Gott in vollen Zügen genossen habe.

Denn meine Tübinger Hauptnahrung war frühantike Literatur aller Schattierungen: Märchen, Mythen, Lieder, Sprüche, Lebensweisheit und vieles andere von sumerischen, akkadischen, ugaritischen hebräischen und ägyptischen Literaturträgern, zum kleinen Teil Wort für Wort in der Originalsprache und -schrift erklaubt, zum grösseren Teil grosszügig und ohne Rücksicht auf Detailverständnis in der Originalsprache überflogen, zum Grossteil jedoch in deutscher, englischer, französischer Übersetzung verschlungen. Hielt ich eine Textsammlung für zu wertvoll, um künftig darauf verzichten zu können, steckte ich das Buch unter meine Windjacke, schwang mich auf mein Fahrrad, fuhr in die Stadt hinunter, betrat eines der Copy-Zentren, kopierte es mir in ein immer gleiches Format, auf A4 verkleinert oder vergrössert und beidseitig, brachte eine Spiralbindung an, weiss für Literatur, schwarz für Grammatik, das Deckblatt farbig, gelb für Ägypten, blau für Palästina, grün für Mesopotamien, und fuhr zurück ins Seminar, stellte das Buch zurück und vertiefte mich ins nächste. Oder klaubte an der Vorbereitung für die nächste Sprachstunde, Montags und Donnerstags Akkadisch, Dienstags Hebräisch, Mittwochs Ägyptisch und Ugarit, nur Freitags hatte ich frei, weil ich das Kustgeschichteseminar kurz nach Semesterbeginn fallengelassen hatte, da ich es für Zeitverschwendung hielt. Freitags malte ich oft, las in meinen frischen Kopien, arbeitete Wörter und Schriftzeichen auf, übersetzte.

Was hat mich eigentlich dazu gebracht, während all meiner Studienjahre tote Sprache um tote Sprache, Schrift um Schrift zu lernen und all diese uralten Texte zu lesen, übersetzen, analysieren? Heute denke ich, es war Grossmamas Auftrag. Als sie mir damals ihr Buch zeigte, fragte ich sie: "Grossmami - was heisst rèvidieren? Was heisst pùblizieren? Wie tut man das?" Und sie antwortete: "rèvidieren heisst, machst besser, wo besser sein muss. Pùblizieren heisst, findest Verlag." - "Aber Grossmami: wie weiss ich, was besser sein muss?" - "Musst viel, viel lèsen. Wenn kannst, überzètzen. Nimm viel Zeit dafür."

Also schlug ich diesen Pfad ein. Man kommt mit einiger Übung beim Übersetzen an einen Punkt, von dem aus man simultan lesen und übersetzen kann. Richtig verstanden: zwei Hirnpartien arbeiten parallel und ungestört nebeneinander. Das Bewusstsein und aktive Denken ist ausgeschaltet, der Informationsaustausch der beiden benutzten Hirnsegmente läuft unbewusst und fliessend, Übersetzen wird zum Automatismus, und liefert erstaunlich gute Ausgangs-Qualität. Kurz: der Körper wird zur reinen Maschine des Hirns. Dieser Akt der Ausschaltung des Bewusstseins, dieses Eintauchen in die Sprache an sich, ist - obwohl intellektuelle Spitzenleistung - eine äusserst erholsame und kräftespendende Art der Meditation.

Literatur und Worte in längst vergessenen Sprachen als materielles Wohl, als Ernährung, stutzen Sie, und möchten mich auf mein Abschweifen hinweisen, möchten vielleicht, dass ich von literarischer Nahrung zum Thema Essen zurückkehre, doch das habe ich nicht vor, denn mir scheint mein tübinger Worte-Schmaus genauso real und als materielles Wohl beglückend wie das Time Turner Geld. Es ist eine Währung, welche nicht ausgegeben werden kann und welche besonders bereichert, gerade WEIL sie wie hinter einer Vitrine steht.


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Die Kunst des Verdrängens

Zu den wichtigsten Eigenschaften, die ein Leben reich und glücklich machen, gehört wohl die Kunst des Verdrängens. Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heitern Stunden nur, und verdräng gnadenlos alles, was dich unglücklich machte und das du nicht ändern konntest.

Unsere Mutter ist, obwohl heute nicht unbedingt zu den glücklicheren Spezies der Älterwerdenden gehörend, ein Musterbeispiel dieser Kunst. "Wie schrecklich müssen all die Jahre für dich gewesen sein", glaubte ich mich einmal in sie einfühlen zu können, "als deine Eltern bis vor Bundesgericht um das Fürsorgerecht deines jüngeren Bruders kämpften. Um dich ging es während all der Jahre überhaupt nie. Du musst dir zutiefst überflüssig vorgekommen sein..." - "Das verstehst du nicht!" blockte sie sofort ab und wandte wie so oft das Gesprächsthema dem Wetter oder den neugeborenen Kätzchen zu.

"Das verstehst du nicht" ist ein Satz, den ich übrigens in 'Im Wandel' der Bibliothekarin Su in den Mund geschoben habe - sie sagt es immer genau dann, wenn ihre beste Freundin Pat ins Schwarze getroffen hat, Su die ausgesprochene Realität aber nicht wahrhaben will.

In diesem Sinne ist wohl das "das verstehst du nicht" meiner Mutter zu lesen... der jahrelange Kampf des roten Grossvaters, der in Reden und Ideologien und in der Erziehung einer neuen, verantwortungsvollen Jugend lebte, mit seiner geschäftstüchtigen ersten Frau, die mit drei Angestellten ein Haute Couture Atelier mitten im Geschäftszentrum aufbaute und führte... der jahrelange Kampf dieser beiden Giganten und das eigene ständige Im-Schatten-Stehen kann an diesem Mädchen nicht spurlos vorübergegangen sein, das sich bei der Gestaltung ihres eigenen Lebens auf die Inszenierung der magersüchtigen, aufopfernden Mutter von Vielen spezialisierte, und die auf das Wecken der Erinnerung durch eine ihrer Töchter im folgenden Halbjahr mit unerwarteter Vehemenz mit den allerspitzesten Geschossen aus ihrem Arsenal von Bosheiten zurückschiessen musste. Denn was weh tut, kann nicht geschehen sein, und schon gar nicht hat eine Tochter das Recht, solches aufzuwecken. Nun ja, so wichtig ist es für mich ja nicht, es betrifft mich nicht direkt. Vieles davon, nehme ich an, wäre nachzulesen oder wenigstens zu erahnen in Grossvaters Tagebüchern, einer Wand voller Aufzeichnungen, die er von seinem 15. bis zu seinem 85. Altersjahr gewissenhaft geführt hatte, und die als biographische Notizen, skizzenhafter Entwicklungsroman, Familien- und Stadtgeschichte, aber auch ganz einfach als Gedankendepot eines intellektuell aktiven Langlebigen auch für eine breitere Öffentlichkeit von Interesse wäre. - Leider muss diese Öffentlichkeit noch auf einen tapferen Ritter warten, der diesen Schatz aufspüren und aus der Drachenhöhle bergen wird - einer mittlerweile sehr gut verborgenen, weit abgelegenen Drachenhöhle, deren Lokalität nur noch die bewachenden Drachen kennen...

"...das Fundstück aus Pats Elternhaus"?
Lassen Sie mich abwinken. So einfach lassen sich literarische und reale Personen dann doch nicht nicht gleichsetzen..

Zurück zum Thema. Ich selber habe die Kunst des Verdrängens geerbt (siehe u.a. Das Trotz-Gen), und zuweilen übe ich sie ganz bewusst aus. Nicht immer. Es gibt Ereignisse, die ich aufschreiben muss, wie Grossvater in kleine schwarze Büchlein, letzte Abendgedanken, vor dem Einschlafen beiseitegelegt, damit ich sie loslassen kann, die kann ich zu jeder Zeit wieder hervorholen und lebendigmachen. Andere jedoch werden unmittelbar weggesteckt, und ich erinnere mich nicht einmal am Tagesende mehr daran.

Haben Sie Harry Potter gelesen? Da schildert diese J.K.Rowling hinund wieder Träume, an die sich Harry beim Aufwachen nicht mehr erinnern kann,und stachelt damit den aufmerksamen Leser an, aufzubegehren: "wie kannst du etwas beschreiben, das im Kopf eines Menschen vorgeht, der es, ohne Zeit zum Aufschreibengehabt zu haben, wieder vergisst? Wo um aller Welt soll es der Erzähler davon wissen?"

Und doch. Verdrängtes ist nie ganz fort, bloss so etwas wie eingefroren.Eingemacht für den Verzehr in späteren Zeiten.

Hab ich von den verrückten Liebeserklärungen schon geschrieben? Von jenem Ereignis, einer absolut verrückten Situation in einem absolut unpassenden Moment, einer völlig deplaziertee Bemerkung einer Anwesenden, meinem anschliessenden kopflosen Wegrennen, barfuss, kilometerweit über brennend heissen Asphalt, meinem Zurückkehren, bewusstem die-Brandblasen-in-die-Füsse-Hineintanzen, und damit aktiv vergessen. Erst Monate später, als mir kreisrunde lederartige Teller alter Haut von den Fersen fielen und ich mich wunderte, woher die wohl stammten, kamen die Erinnerungsfetzen wieder, Fragment für Fragment, und nach tagelangem Puzzlespiel hatte ich die unmögliche Situation wieder rekonstruiert, und ich konnte sie erneut verdrängen.

Auch andere Szenen steckte ich unmittelbar nach dem Ereignis weg, und sie kamen erst nach Jahren wieder hervor. Im Kindergartenalter, vor dem Wohnblock des "bösen Markus", den ich aus Mitleid besucht hatte, weil niemand mit ihm spielte, vielleicht fünfzig Meter von daheim entfernt. "Schau da unten", raunte Markus verführerisch und wies gegenüber der Treppe zu Kellertür hinunter. "Ich sehe nichts! ". Oh, wie naiv ich doch war! "Musst dich weiter vorbeugen", "ich sehe noch immer nichts!", "weiter, noch weiter... noch weiter", ein Schubs in den Rücken, und ich fiel die zwei Meter kopfvoran auf den nackten Beton, blieb betäubt liegen, bis es einzudunkeln begann. Dann erhob ich mich schwankend, torkelte völlig ausgekühlt dem Ährenfeld entlang, das ich noch heute plastisch vor mir sehe, flammend goldgelbe Ähren ragten über meinem Kopf dem dunkelblauen Himmel entgegen, torkelte heim, kroch ins Bett, fiel in einen tiefen Schlaf und verpasste das Nachtessen. Beinahe. Ganz zu Ende, vom familiären Tischlärm angelockt, tauchte ich auf, hungrig und schwindlig, und durfte mir anhören: "Zu spät. Wer zu spät kommt muss ohne Essen ins Bett.", wohin ich zurücktorkelte. Eigentlich hätte mich mehr nach Mitleid und Verarztung gehungert als nach Nahrung. - Die Szene kam mir erst nach zwei Jahrzehnten wieder in den Sinn, bei brummendem Kopf, jemand hatte mich gefragt, ob ich in meiner Kindheit eine Hirnerschütterung erlitten hatte,da dämmerten einzelne Bilder aus dem Dunkel der Erinnerung hervor. Eine Antwort konnte ich nicht geben, und litt noch weitere fünf Jahre unter ständigen Kopfschmerzen, bis eine alternativmedizinische Autorität auf die Idee kam, mein Atlas könnte sich bei besagtem Sturz verschoben haben. Geraderichten, und eines der Hauptprobleme meines bisherigen Lebens, der ständige Begleiter Kopfschmerzen war weg. Erstaunlich, nicht? Ich schweife ab.

Verdrängen, eine glücklichmachende Kunst. Was für eine These in einer Stadt, die als nationale Hochburg der Psychologie gilt! Aber ich bleibe dabei. Oft genug schwemmt die Erinnerung Fragmente an Land, die man einem Puzzle gleich drehen, wenden, herumschieben, herumkauen muss, bis man sie in den Teppich des eigenen Lebens einordnen und damit wieder vergessen kann. Bewusst hervorholen soll man solche Sachen nicht, ist mein Credo. Schlafende Hunde soll man schlafen lassen, solange sie dies wünschen.

A propos schlafende Hunde und Schmerzen. Wieder kann ich mir ein Abschweifen nicht verkneifen. Im Frühjahr des Jahres, in dem ich Im Wandel mit Schauspielern inszenierte, lag ich wegen heftiger Koliken eine Woche lang zur Überwachung im Spital. Aus pulsierendem Geschäftsleben abrupt in die ruhige, verdunkelte Stille eines Einzelzimmers und das Biep-Biep von Maschinen gerissen. Unter dem Einfluss von was-immer-in-meinem-Infusionstopf- war lief in meinem Hirn wie in einem Film Sequenz um Sequenz von Szenen ab, in denen ich seit mindestens meinem fünfzehnten Altersjahr verschiedenen Vertretern der Schulmedizin meine "schwer zu beschreibenden, stundenlang anhaltenden, dumpfen Schmerzen" schilderte, die ringförmig meinen Torso umklammerten, und Sequenz um Sequenz hörte ich ihre Antworten wieder. Von "keine Ahnung, was das sein kann", über "kann keine körperrliche Ursache haben" und "empfehle eine Psychotherapie" bis "Rippe gebrochen, hier sind Schmerzmittel!" (wohlverstanden: Diagnose gemacht ohne Röntgenbild, und ohne die Patientin nur schon berührt zu haben - eine Höchstleistung ärztlicher Hellseherei) hörte ich dutzende von kreativen Versuchen, mehr zu wissen, als was in einer fern zurückliegenden, zugegebenermassen recht langen Ausbildung vermittelt werden konnte - nämlich, in einen Menschen hineinzusehen, ihm zuzuhören und vielleicht sogar ein paar gezielte weiterführende Fragen zu stellen. Seltsam. Was für mich geschäftlich Berufsalltag ist, und ohne das es keine vernünftige betriebliche Lösung geben kann, scheint in der Medizin fachfremd und unnütz. Schmerz strahlt, und der Linderung suchende Patient spricht gegen eine Klagemauer und statt Ursachen zu suchen und beheben, wird mit Pharmacie eingedeckt. Doch zurück zum Thema Verdrängen!

Hab ich meine walliser Pflegeeltern im vorliegenden Text eigentlich bereits eingeführt? Ja, das Paar, bei dem ich während der Internatsjahre einen Grossteil meiner Wochenenden verbringen durfte. Wie Tag und Nacht, im Vergleich mit meinen leiblichen Eltern. Eine extrem schwere Kindheit, beide. Sie, als Fünfjährige, nach dem frühen Tod ihres Vaters von ihren vier jüngeren Geschwistern getrennt und an einen Bauern verdingt. Das einzige Wesen, das ihre Rechte vertrat, war der Kettenhund gewesen, in dessen Hütte sie fliehen konnte, wenn der Neid des gleichaltrigen Hoferben oder der Zorn seiner Eltern sich über sie zu entladen drohte. Fühlte sich das Mädchen von aller Welt verlassen und floh weinend auf die Weide, war ihr das Mitleid der Ziegen gewiss, die ihm voller Mitgefühl die Tränen leckten. Um das Salz ging es den Tieren natürlich, musste sie der Erzählung dieser Geschichte immer kommentierend anfügen, aber das Mädchen fand durch seine Naivität ausreichend Trost, um im harschen Umfeld durchzustehen.
Der künftige Gatte des Mädchens hatte es nicht einfacher gehabt. Als Einzelkind einer alleinerziehenden Psychotischen, in krankhafter, xenophober Überbehütung den Sohn von den Gleichaltrigen und vom übrigen Dorf Isolierenden, ständig und offen mit Suizid liebäugelnden Überforderten. Suizidversuche nota bene, die mit Vorliebe und viel Phantasie als Mordanschläge inszeniert waren - ich erkenne hier einen genetischen Vorläufer, eine Verwandtschaft mit meiner zweitältesten Schwester, doch davon ein ander Mal. Beide, die Halbwaisin und der Isolierte, hätten allen Grund zu Gram und Trauer gehabt, doch wie fern lag ihnen solcher! Ein ständig singendes, lachendes, turtelndes Paar waren sie, ihre Wohnung eine friedliche, schützende, kräftespendende Oase, ihr Leben ein Fest.

Gewiss, jedes Wochenende, in der Küche sitzend, während meine Pflegemutter unermüdlich werkelte und plauderte wie das Zweisiedlerfrauchen in Michael Endes Unendlicher Geschichte, hörte ich eine unendliche Folge von Episoden aus ihrer Kindheit. Besonders die Szenen mit dem Kettenhund, der sich demonstrativ vor seine Hütte legte, in der sie sich verborgern hielt, oder ihr Schrei auf dem Pausenhof, als sie von der prügelwilligen Jungenbande angegriffen wurde, wie sich der Kettenhund von seiner Kette losgerissen hatte und ihr zum Schutz geeilt war. Diese Szenen liebte sie, das immer noch blond-blauäugige Mädchen von mittlerweile über sechzig Jahren, und sie erzählte voller Inbrunst und ohne jeglichen Gram von der Treue und vom Gerechtigkeitssinn des Tieres. Könnte ich sie noch heute besuchen, sie würde mir dieselben Episoden erzählen, immer wieder neu, mit der immer gleichen kindlich-staunenden Naivität, welche Böses und Ungerechtes ausklammert und sich einzig auf die Sonnenmomente ihres Lebens konzentriert. Sie erzählte nicht, dass sie schon als sieben-, achtjährige allmorgendlich vor der Schule, den Hund vor den Leiterwagen gespannt, die grossen Milchkanister in die Dorfkäserei bringen musste, sondern von den lustigen Begebenheiten, die ihr dabei widerfuhren, oder wie sie ihren kleinen Körper beim Gehen im klammen Morgennebel an den treuen Hund schmiegte. Genausowenig erzählte sie von der riesigen kalten Kammer über dem Kuhstall, in der sie allein schlafen musste, von Kinderängsten, Schatten und Gespenstern, sondern von Techniken, wie sie sich wenigstens das Zelt unter der Bettdecke warm und behaglich schaffen konnte.

Wenn ich bei ihr in der Küche sass, wenn ich nie genau wusste, ob sie mir all dies erzählte, weil sie spekulierte, dass ich sie einmal niederschreiben und damit verewigen würde, oder weil sie spontan in ihr aufblubberten und erzählt werden wollten, dann nahm ich mir im Stillen vor, von ihrer Naivität und Sonnenorientiertheit zu lernen und mein Leben ähnlich zu gestalten. Wem bringt Griesgram schon etwas! Glück ist mehr eine Lebenseinstellung als eine summarische Bevorzugung durch das Schicksal. Ein Leben ist nicht glücklich, man macht es s ich glücklich. Ein Leben ist nicht reich, man macht es sich reich. Wenn nötig, flunkert man sich die fehlenden Teile selbst zusammen.

"Ist Selbsttäuschung aufhebbar?" sinnierte ein hauseigener Gastdozent (Georg Kohler, 16.5.02) an der Uni Zürich. Ich frage mich, wieso man Selbsttäuschung überhaupt aufheben wollen sollte. Selbsttäuschung, Selbstbelügung macht das Leben glücklicher. Sich selber vorspielen, man sei Viertelmillionär, WOLLE das Geld aber nicht ausgeben, ist um Welten angenehmer als sich einzugestehen, dass man die Viertelmillion weder hat, noch jemals haben wird, egal wie viel man auch dafür arbeitet. Oder, am Falle meiner Pflegeeltern beobachtet: sich und seinem Partner ein Leben lang vorzuspielen, er sei der einzige, der beste, der klügste, der begabteste, der Traummann schlichthin, bzw sie sei die schönste, die geschickteste, die fleissigste, die liebreizendste, die Traumfrau schlichthin, ist um Welten angenehmer als den Partner so zu sehen, wie er ist: durchschnittlich, zu Sturheit und Marotten neigend, mit der Zeit langweilig, fettwerdend, gemessen an anderen vielleicht gar ein Versager. Nein, nicht nur dem Partner sollte man dies vorspielen, am besten man eignet sich die rosa Brille gleich selbst an, ein glückliches Leben, ob es der Realität entspricht oder nicht, macht zufriedener.


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Die verrücktesten Liebesanträge

Darf ich mit Ihnen wetten? Eigentlich tu ich es ungern. Aber wetten Sie mit mir, dass ich die verrückteren und mehr verrückte Liebesanträge erhalten habe als Sie? Ausgerechnet ich, die ich ständig auf der Suche nach dem Ganz Normalem bin... und ausgerechnet ich, die ich in täglichen Gedanken immer mit demselben Menschen zusammen bin, der wahrscheinlich bis heute nie etwas davon wusste. Ist das nicht amüsant?

Natürlich - es gibt keine Vorschriften und Normen, wie ein Mensch dem andern seine Gefühle offenbaren soll. Zum Glück nicht. Aber es gibt auch eine Grenze, hinter der der Empfänger eines Antrags sich sagt, vielleicht sogar sagen muss: das ist mir zu verrückt. Ab und davon! Dass der Empfänger das Ereignis vom ersten Moment an mit aller Kraft verdrängt, so etwa wie aufgeklärte und naturwissenschaftsgläubige Menschen die mögliche Existenz von UFOs, von Telepatie und Parapsychologie verdrängen. "Das kann nicht sein - weg damit." Weg, in irgendwelche möglichst unzugängliche Schichten der unbewussten Erinnerung, woher sie erst nach Jahren, wenn man sie überhaupt nicht mehr vermutet, unvermittelt auftauchen, weil die harte Schale des Verdrängungsmechanismus aufplatzt wie eine Blase und schwallartig ihr fiebrig-flüssiges Inneres freigibt. Überraschend klare Bilder in einer Intensität und Detailtreue, sozusagen wie ungeliebte Weihnachtsgeschenke, die noch in Originalverpackung im Estrich gelandet sind und bei einem viel späteren Umzug wieder auftauchen - genau, das war von Tante Martha, so schlecht war das doch gar nicht. Und hab ich mich eigentlich je bedankt? Jetzt kann ich leider nicht mehr, sie ist vor einem halben Jahr gestorben...

Genauso ist es natürlich immer zu spät, wenn die Erinnerung kommt, zu spät, denn eigentlich tut es mir ja leid, diesem Menschen weh getan zu haben mit meiner überdimensionierten Verdrängungsreaktion, aber tun kann ich jetzt nichts mehr, der Kontakt ist längst abgebrochen.

Jetzt wollen Sie natürlich die Geschichten hören, das merke ich schon. Und ich bin hin- und hergerissen zwischen meinem Wunsch, die entsprechende Person zu schützen und meiner Erzählwut. Da letzteres stärker ist als ersteres, werde ich mit Undeutlichkeiten und Ungenauigkeiten von der eigentlichen Person abzulenken und mich auf die Situation an sich zu konzentrieren. Das ist nicht immer leicht.

Den ersten Liebesantrag, an den ich mich erinnern kann, erhielt ich in den ersten Wochen meiner Internatszeit in der fremden Klasse, in dieser mir so fremden Umgebung, von altertümlichen Sprache ich noch kaum ein Wort verstand. Ein Klassenkamerad umfing mich spontan und versuchte mir einen Kuss auf die Wange zu drücken. Ich, schneller, drehte mich einmal im Kreis, versetzte ihm mit dem gewonnenen Schwung eine schallende Ohrfeige. Er, völlig überrascht, liess sofort von mir ab. In meinem Innern tobte der Kampf, ob dies nun geschehen war aus Entrüstung "mich küsst man nicht ungefragt" oder aus Argwohn "da steckt bestimmt eine Wette dahinter, eine Mutprobe. Aber ich lass mich nicht zum Objekt machen." Jedenfalls genoss ich in der Klasse von diesem Tag an vollen Respekt.

Die Semesterferien meiner frühen Studienzeit habe ich in kontemplativen Klöstern verbracht. Mich mit Gregorianik und Stille vollgesaugt.Manchmal vertrat ein junger Mönch den Klostergeistlichen. Ein hübscher und ausserordentlich gebildeter Jüngling, der sich die Semesterferien seiner Habilitationszeit damit vertat, der Gruppe von Novizinnen und Interessentinnen, zu denen ich gehörte, täglich eine Stunde Unterricht in dominikanischer Mystik zu geben - Tauler, Seuse, Eckhart, Thomas - sie mögen die versteckten Räume und unterirdischen Gänge meiner frühen Kindheitsträume erkennen - mit dem ich eifrig geistreiche Wortspiele pflegte. Eines Sonntagmorgens nach der Messe, im direkt an die Kapelle anschliessenden Klausurteil, blieben wir einen etwas zu langen Moment stehen und blickten einander an, er hatte wie immer sehr lebensphilosophisch gepredigt, ich wollte reagieren, ohne noch zu wissen wie. Da gesellte sich die Novizenmeisterin mit ihrer Lieblings-Novizin zu uns, wir schwiegen zu viert, bis Sie herausplatzte: "schnapp ihn dir - er ist ne gute Partie!",

"Nein, liebe Schwester Novizenmeisterin", hätte ich antworten sollen, "mein Lebenssinn ist nicht, mir eine gute Partie zu schnappen und in Sphären hoch über meiner eigenen zum Mantjemantjetimpetee-Monster zu mutieren. Mir gefällt seine Seele, das ist alles." Doch so reagierte ich leider nicht.

worauf ich Hals über Kopf davonrannte, barfuss, kilometerweit auf dem brennenden Asphalt, kopflose Panik. Gegen Abend kehrte ich zurück. Wir konnten uns mehrere Tage lang nicht mehr anblicken, schon gar nicht im stillen Alltag des strikten Schweigegelübdes über das Ereignis reden. Dennoch war er in den darauf folgenden Jahren ein eifriger Brieffreund und jemand, den ich im Notfall auch noch spätabends anrufen konnte, aber auf der angedeuteten persönlichen Ebene war natürlich nie etwas - wer weiss, vielleicht war der gegenseitige Respekt zu gross.

Weniger gebildet, kultiviert, aber von ähnlich langer, dünner, feingliedriger Gestalt, gab es Studienfreunde, die mich unverhohlen anhimmelten, unter dem Tisch meinen Fuss suchten und über dem Tisch voller Panik fieberten: "nicht wahr, es ist eine rein platonische Beziehung, nicht wahr, völlig platonisch?" Gefühlschaos. Was jeweils nichts anderes in mir auslöste als einen kopfschüttelnden inneren Rückzug: Was an einer Frau macht dem Mann eigentlich solche Panik, und wieso um alles in der Welt gibt es keine Normalität zwischen Geschlechtern? Was macht es für einen Sinn, einem Menschen Liebe zu erfüsseln, und sie gleichzeitig verbal abzublocken? Gasgeben und Vollbremse zur selben Zeit? Etwas wollen und gleichzeitig hoffen, dass man es nicht erhält? Nein, natürlich beantwortet man derart vorgetragene Fragen nach rein platonisch nicht. Ich jedenfalls nicht. ich wundere mich nur. Ist es der Katholizismus, der Mann und Frau trennt, oder ist es die ach so komplizierte männliche Psyche?

Vor einem Jahr hab ich einem von ihnen diese Frage gestellt, der mir jetzt, wo es längst zu spät ist, aus der Ferne unermüdlich seine Liebe gesteht und geduldig mein hilfloses Achselzucken entgegennimmt. Seine Antwort: "das verstehst du nicht!" Richtig, so ist es. Ich verstehe es nicht. Kann mir jemand bitte mal kurz die männliche Psyche erklären?
 
Als bedürfe es es auf diesem Haufen Unverständlichkeit noch und noch und noch eine Lage. Auf einem Wanderausflug in den Bergen fragte ich den "das verstehst du nicht" ganz nebenbei, wie das wäre, wenn ich jetzt, nach zwanzig Jahren Pause, wieder einen Freund hätte. Seine Reaktion kam unerwartet emotionell: "dann hätte ich dich ja für immer verloren!" rief er tonlos aus, als spreche er vom Weltuntergang. "Du hattest mich nie. Du hast dich anders entschieden." - "Das spielt keine Rolle. Du warst potentiell immer da. Als Alternative." - "So eine Art Konfitüreglas im Vorratschrank?" - "Ja, so ähnlich. " - "Aber... was sollte ich denn an dieser Position interessant finden?" - "Das ist mir eigentlich egal." - "Dann hast du nichts verloren. Wo ist dein Problem?" - "Alles habe ich verloren. Die Möglichkeit, dass irgendwann eben doch etwas werden könnte. " - "Die Rückversicherung?" - "Ja. Das Eigentliche. ", antwortete er mit immer noch erstaunlichem Pathos. Na danke. Da ist mir ja wirklich was entgangen. Ich versprach, ihm im Eintretensfall ausnahmsweise zwei Sekunden Romantik in Form von Händchenhalten als Abschied zu schenken. Zwei Sekunden, nicht mehr. Dafür aber fest versprochen. Was er mit einem seligen Lächeln gouttierte.
 
Das ist das Schöne am Konzept Lebensbund. Man wird vom Eintritt bis zur Beerdigung mit denselben Themen und alten Entscheiden konfrontiert. Nie sind sie vorüber. 'Und keiner, keiner geh aus unsrem Bund verloren.' Ist das eigentlich auch ein 'l'enfer, c'est les autres'? Gibt es eine andere Form von Liebe?

Eine ganze Serie von Liebesanträgen erhielt ich in meiner späten Studienzeit aus einem Priesterseminar in Rom. In wilder Schrift hingekritzelte, wirre Versuche, meine Person mit derjenigen der Muttergottes gleichzusetzen und gleichzeitig als angebliche Hure zu verdammen. Ein wilder Kampf, mit der indoktrinierten Hirnwäsche, dem frisch aufgebauten systematisch strukturierten Gewissen und den wörtlich verstandenen frühchristlich geprägten Normen klarzukommen.

Hätte ich darauf reagieren sollen? Wie? Ich überflog die Briefe und warf sie dann rasch fort, mit dem dominierenden Gefühl, zu Unrecht in eine fremde Psyche Einblick erhalten zu haben. Kann, darf, soll man sich in einen solchen Seelenkampf einmischen? Gibt es so etwas wie eine Verpflichtung, auf Hilfeschreie einzugehen? Ich fühlte mich nicht kompetent. Heisst das, ich bin herzlos? Und falls ja, ist das schlecht?

Jahre später kamen wesentlich konkretere Anträge, was nicht heisst, dass sie weniger verrückt waren. So fragte mich ein ausgenommen hübscher junger Türke, an dessen Kebab-Stand ich mir mit einer gewissen Regelmässigkeit ein schnelles Nachtessen gegönnt hatte: "Nämedsi nich persönlich - wollensi mich heiraten? Is nur wegen Schweizerpass." Wie ungemein charmant, die Idee, einen Heiratsantrag nicht persönlich zu nehmen! Oder jener - nein, ich nenne seine Hautfarbe nicht - der mich in meinem braven damaligen Wohnquartier, auf der Strasse entgegenkommend ansprach: "Wolle si sex?" und, als ich anhielt, abwartend, was jetzt wohl kommen würde, wie aus der Pistole geschossen: "Wolle si heirate? Meine Familie unterstütze? Meine Schwestern in die Schweiz hole? Mein Dorf aufbaue?" Na schön, was wir da alles neu in unserem Land haben, den Nach-Stürmen von 1968 sei Dank. Eine echte kulturelle Bereicherung. Ich hab das Quartier übrigens beim nächstmöglichen Termin verlassen.Oder sollte ich für solches Steuern zahlen?

Eigentlich fühle ich mich nie kompetent, wenn es ums Thema Liebesanträge geht. Egal wie sie daherkommen, sie sind mir zu everrückt. Der Mensch scheint twas zu erwarten, wenn er Liebe gesteht. Vielleicht eine Spät-version der Mutterbrust, vielleicht viel Zusätzliches. Aber sicher nie eine Antwort. So lebe ich, wie am Ende des Brunnentraums, in einem von aller Welt isolierten Adlerhorst, und eigentich ist mir in meinem erkenntnissuchenden Einsiedlerleben nichts entgangen.

Mein Turm erhebt sich über die Wipfel der Bäume, mein Blick aus den hohen, schmalen Fenstern reicht weit über das Land. Jahreszeiten ziehen an mir vorüber, manchmal kommen mich Vögel besuchen, ansonsten ist es stille.

Wie konnte ich als Vierzehn-, Fünfzehnjährige, als mich dieser Traum verfolgte, nur so deutlich in die eigene Zukunft sehen?

es war ein angenehmer Ort, ich hatte das Gefühl, heimgekommen zu sein, richtete mich im hellen Raum wohnlich ein, erhielt irgendwoher alles Materiellegeschenkt, was ich benötigte: Essen, Kleidung, Lektüre, nur Leitern nicht. Verdammt zum Alleinsein.

Die Ruhe zum Arbeiten hab ich im Brunnentraum zu nennen vergessen, die Kontemplation, die Weite der Denkfreiheit - Prunkstücke des Adlerhorsts. Ein Droste-Hülshoffsches Gruselspukschlosskämmerchen - seit Kurzem sogar drachenbewacht.


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Träume

Was eigentlich sind Träume? Nein - natürlich nicht rosa Tagträume, sondern Nacht-Träume. Eruptive, bilderreiche Ausbrüche der Seele, eine verdichtete Mischung zwischen Lebensweisheit und Vorahnungen. Die wirkliche Welt? Die Welt ohne Masken? Ahnungen der Zukunft? Ahnungen der Gegenwart? Der wirklichen Mechanismen der Welt? Um Pat aus Im Wandel zu zitieren:

"Selbstermunterung? Telepathie? Mein späteres Ich, das per Zeitmaschine zurückkommt und mir was einflüstert? Frag mich nicht, ich habe keine Antwort."

Auch ich, Pats Autorin, weiss es nicht. Vulkanartig brechen sie aus einer zur Ruhe gekommenen Seele hervor, schockieren, wecken damit und bleiben nach dem Erwachen in Erinnerung, und wenn ich sie gleich aufschreibe, bedrängen sie die Seele, das Tages-Ich nicht unnötig, können sozusagen weggelegt, aufs Internet gestellt werden, und stehen jenen zur Verfügung, die sich mit solchen Zeit-Bildern auseinandersetzen, oder die Bilder zu lesen verstehen.

Ist die Welt, die Arbeitswelt ein KZ? Ist es das Ziel der Menschheit, weiterzukommen, indem der Ausschuss, sozusagen die mindere Qualität ihrer Mitmenschen beseitigt wird? Ist es das Ziel der Wirtschaft, die Essenz des Menschseins in Produkte umzuwandeln und verkaufbar zu machen, wie im Traum Das Lager? Ist es das Ziel des Karriere-Mechanismus, dass einzelne Menschen mit Hilfe vieler starker Freunde gewisse Mängel in ihrer Biographie vertuschen wie im Krimi Das Projekt? Ist es das Ziel der Medizin, verwertbare menschliche Körperteile auf dem internationalen Organmarkt zu gutem Geld zu machen wie im Traum Die neue Lust an der Frau? Ich weiss es wirklich nicht. Im Arbeitsleben, in meinem Arbeitsleben gibt es zahlreiche Ziele zu erreichen, Wände zu durchbrechen, Neues zu schaffen. Produktives, Konstruktives, Nachhaltiges. Ich mag meine Arbeit sehr. Auch, dass sie mir ermöglicht, eine Vielzahl von Menschen in ihrem tiefsten Menschsein kennenzulernen und zu studieren, ihr Verhalten zu prüfen und zuweilen auch bewusst zu testen. Grundprinzipien des menschlichen Daseins zu erahnen und für mich zu formulieren. Charakterstudien zu machen.

Und dann kommen die Träume, brechen jeweils sozusagen als reife Früchte völlig unvermittelt aus dem Dickicht des Alltags hervor. Sie überspitzen, überzeichnen das Geschehene und Erfahrene, oder zeigen Tendenzen und Ausblicke auf. Bildlich, denn die Sprache der Märchen, Träume und Mythen ist ein dichter Teppich gewoben aus Symbolen und Bildern - der einzigen universalen Sprache der menschlichen Psyche, sage ich ganz jungianisch. Neutral betrachtet: gibt es eine andere Sprache als das Bild, um das Wesentliche auszudrücken?

Längst weiss ich: ein Mord im Traum ist ein Wandel, ein Wechsel, eine Entlassung oder berufliche Neuorientierung. Ein Massenmord ist eine Umstrukturierung. Ein geträumter Krieg meint einen gesellschaftlichen oder den gesamten Betrieb betreffenden Wandel, zum Beispiel eine Fusion. Als sammelten sich in meinen Träumen sämtliche menschlichen Ängste meiner jeweiligen Umgebung, als konzentrierten sie sich und als drängen sie in dieser verdichteten Form in die Seele eines Mediums, das sie einem externen, "outgesourcten" Sprachrohr gleich niederschreiben muss, damit sie in seiner Seele keinen Schaden anrichten und dennoch in die Ohren der Welt "da draussen" gelangen.

Fremde Gedanken verdichten sich in einer Person, fragen Sie mich? Ja leider, ist meine Antwort. Manchmal höre ich, was Menschen um mich denken - wort- wörtlich,obwohl ich es wo immer möglich abzublocken versuche. Diese Art Medium zu sein ist kein Geschenk, es ist eine Belastung. Und dennoch ist sie ein Reichtum.

Träume, die ich aus meiner Kindheit erinnere, waren ausgesprochen lebensphilosophisch und Richtungsweisend. Sie zeigten mir die Grundprinzipien meines Lebens und lehrten mich, meinem Leben die richtige Richtung zu geben und auf Unwichtiges zu verzichten.

Träume aus meiner Internatszeit, insbesondere aus jenen Jahren, die ich mir in Schulferien in der Fabrik selber zu finanzieren hatte, während mehr als zweihundert Kilometer jenseits der schützenden Berge unser Familiensturm, zum Orkan angeschwollen, destruktiv wütete und der Tod seine heroinschwarzen Zähne bleckte, waren neuer Art: tröstend, aufmunternd, erfüllt von der Güte jener engelhaften Gestalt,die im Innenhof des Internatsgebäudes, im dritten Stockwerk vor meinem Zimmer schwebte. Mal war ich sie, blickte wie eine Mutter voller fürsorglicher Liebe von aussen auf mein schlafendes Ich und zeigte ihm die Richtung, in die der eingeschlagene Lebensweg führen würde. Mal lag ich im Bett als Tochter und spürte die Kraft und Stärke ihrer Gestalt draussen in der kühlen Nachtluft. Sie kommentierte Entscheidungen, doch akzeptierte sie ohne zu zögern und zeigte neue Möglichkeiten der jeweils neuen Situation.

In den Schulferien blieb diese Engelsgestalt dort in den Alpen, in meinem Schutz und Garant einer glücklichen, erfolgreichen Zukunft. Während ich im Maschinenlärm des Fliessbandbetriebes mein Internat verdiente oder zuhause die heroinsüchtige zweitälteste Schwester "hütete", zählte ich mit der Inbrunst einer Teenagerin sehnsüchtig die verbleibenden Ferientage, bis ich wieder zurück in die Berge durfte, bis ich sie wieder treffen würde. Drohte mich die Trennung von ihr zu zerreissen, schrieb ich ihr auch mal Briefe, adressiert an meine Internatsadresse, Briefe voller Sehnsucht, dort zu sein, in ihrer tröstenden Nähe, in der berggeschützten Burg, in der Ruhe vor Fabriklärm und Familiensturm. Vor wenigen Tagen fand ich einen dieser Briefe.

"Wie sehr ich dich beneide und mich danach sehne", schrieb ich in meiner jugendlichen Inbrunst, "dort zu sein, wo du bist! In der Ruhe und Abgeschiedenheit, in der heimeligen Rückständigkeit der Bergwelt, im Schutz der Alpen. Stattdessen muss ich mir hier diesen Dreck ansehen und anhören. Verherrlichung und Bagatelisierung von Jugendkriminalität, Normalisierung von Drogen. Bruchstücke geplanter und als Überdosis kaschierter Morde. All dieses Anti-Leben diesseits der Alpen. Noch drei volle Tage, und ich kann endlich die Koffern packen und den frühstmöglichen Zug nehmen. Drei endlos lange Tage. Oh wären sie doch schon überstanden!"

An Träume aus der Studienzeit kann ich mich wenig erinnern. Der Weg war eingeschlagen, und ich ging ihn konsequent weiter, Schritt für Schritt, mit viel Erinnerung an die immer noch kraftspendende starke Mutter- Engelgestalt. Ausser Arbeit für Arbeit recherchieren, schreiben, vortragen und durchhalten war nicht viel von mir gefragt. Wie einer der Internatsträume prophezeit hatte, war ich in ein virtuelles Ägypten geflogen, um ein wertvolles Filigrankästchen aus den gierigen Händen Momo-artiger Männer in grauen Anzügen und grauen Melonen zu befreien. In jenem Traum war ich erwacht in einen Raumentraum, in dem ich mit einem Langenscheidt's Wörterbuch in der Hand auf einer Fensterbank sass. Im Leben... war's genauso. Sprache war zu meinem Thema geworden. Sprachen, Grammatiken, Wörter, die mich mehr fesselten und erregten als alles andere in der Welt. Entdeckungen ohne Zahl waren zu machen, Aladinhöhlen zu erkunden, säckeweise Juwelen zu sammeln. Was gab es da schon verarbeitend zu träumen! Die Tages-Realität, so fordernd und anstrengend sie auch war, genügte vollauf. Die Konzentration auf die zu übersetzenden Texte, auf die zu recherchierenden, zu schreibenden und vorzutragenden Arbeiten nahm mich vollständig in Anspruch.

Erst im Arbeitsleben, das vom ersten Tag an ein völliger Neuanfang war, lukrativ, aber auf demütigender Weise unterfordernd, brach eine neue Art von Träumen hervor - zum Grossteil jene, die in der Träume-Datei nachzulesen sind. Bilderreich, präzis und gnadenlos schildern sie die Welt, in die ich geraten war, und in der ich mich neu zu orientieren hatte.

Früherkennung, Trostgestalt, Realisierung und Planung in Bildern... Trotzdem zähle ich Albträume zu den Schätzen meines äusserst reichen Lebens. Ihre klare Stimme, ihre messerscharf gezeichneten Szenen, die Tatsache, dass sie stets Wege aus massenmörderischen Szenen aufzeigen - welcher Künstler könnte solche erfinden? Welcher Lebensberater deutlicher führen?

Und was für eine erstaunlich lebenserklärende und selbsterhaltende Kraft die Welt der Nacht, der Träume doch hat!


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Wissenschaft und Privatanliegen

Dürrenmatt beschreibt in seinen Stoffen seinen berner Philosophieprofessor, der sich selbst einen metapatischen Petitionisten nannte. Wohlverstanden, die Stoffe enthalten ausnahmslos Textfragmente, denen sich der Autor zeit seines Lebens nie ganz gewachsen fühlte. Sprach-losigkeit eines Sprachgewandten.

Bei dieser Lektüre kommt mir unweigerlich mein zürcher Ägyptologieprofessor in den Sinn, den ich in Analogie an Dürrenmatt als verhinderten Erotiker bezeichnen könnte. Ägyptologie war für ihn ziemlich genau identisch mit Ionescos doctorat totale: jedes Semester behandelten wir gleichzeitig eine andere Epoche und geographische Region, ein anderes Forschungsgebiet, benützten andere wissenschaftliche Methoden. Nur ja keine Kontinuität aufkommen lassen, nur nie die Studenten Zusammenhänge erahnen lassen! Die Sprachen lernten wir ausschliesslich mittels Originalsätzen. Das Zuhilfenehmen jeglicher Grammatik war uns strikt verboten, und jede publizierte Übersetzung war prinzipiell falsch, dilettantisch. Ägyptologische Fachliteratur jeglicher Art war ihm (mit Ausnahme der Göttinger Miszellen, die er ihrer Kürze wegen akzeptieren konnte) ein rotes Tuch. Zwanghaft musste er jede andere Koriphäe widerlegen - wo möglich mit einem Dutzend Parallelstellen pro Wort - bloss um zu beweisen, dass bei der Übersetzungen dieses oder jenes Wortes nicht mit der nötigen Vorsicht vorgegangen worden und daher die Studie als Ganzes nicht ernstzunehmen sei. In perfekt geformten Hieroglyphen, welche die Hand eines geschulten Graphikers verrieten, zeichnete er beharrlich Zitat um Zitat an die Wandtafel, um zum Beispiel zu beweisen, dass ein djàjssu nicht ein Choleriker, sondern ein Angehöriger einer militärischen Vorhut sei, im übertragenen Sinne also ein Aggressor und keinesfalls gemeinhin ein aufbrausender Mensch. Der Unterschied ist mir bis heute schleierhaft, obwohl das Musterbeispiel eines djàjssu genau vor uns stand.

Genauso beharrlich und zwanghaft belehrend liess er jeden Satz, der die Hieroglyphe eines Penis enthielt, durch seine jüngste Studentin (normalerweise mich) lesen und übersetzen. Unabhängig davon, ob das Körperteil als harmloses Zweikonsonantenzeichen oder als sinngebendes Deteminativ verwendet war, pflegte er in der Übersetzung innezuhalten, um wortreich auf Winkel, Schwellgrad und vorhandene oder nichtvorhandene austretende Flüssigkeit hinzuweisen. Sein liebstes Wort war Gatte . "Das Wort ist mit einem erigierten Penis determiniert, also verbiete ich ihnen strengstens, es mit Mann oder Ehemann zu übersetzen! Übersetzen sie mit Gat-te", pflegte er jede Silbe betonend anzufügen, "denn Gat-te kommt von be-gat-ten, Frau Rinaku, haben sie verstanden? Be-gat-ten, genauer wäre be-sprin-gen, um den Wortsinn zu erhalten! Hören sie gut zu, wenn ich ihnen solches sage, jw=s m.sb3.yt, dies ist ein Lehrsatz, wichtige, wertvolle Lebenslehre: Gat-te kommt von be-gat-ten, von be-sprin-gen! "

Gähn. Ja, Herr Professor. Lächeln, schweigen, warten, bis der Anfall vorüber ist, einen hübschen kleinen Penis an den Seitenrand malen, um diesen weiteren Versuch der Belehrung zu dokumentieren, innere Ohrenklappen schliessen, still für mich weiter lesen. An manche Seitenränder malte ich auch eine Kuhzunge - die leicht rebellische verkürzte spätägyptische Schreibweise für den Titel eines Hausvorstehers.

Oder in einer anderen Stunde: "Haben sie gesehen, Frau Rinaku, der Hoftitel dieser Dame ist dd.t ntr, was soviel heisst wie Hand Gottes. Frei übersetzt ist das eine Königsbefriedigerin . Sie wissen sicher, wo die Hand einer Hofdame von Rang sein hat, nicht? Merken sie sich das ganz genau, prägen sie sich soche Details ein, hier liegt die Schönheit der ägyptischen Sprache, in welcher Syntax und Bildlichkeit verschmelzen!"

Was mich bis heute ärgert, ist, dass ich nie geantwortet habe: "das Recht zum be-gat-ten, mein lieber Herr Pro-fes-sor, erwirbt man sich durch Wer-bung, nicht durch ein Eheversprechen, verstehen sie: kon-ti- nu-ier-li-che Wer-bung! Auch das ist sb3.yt, Herr Professor, Lebensweisheit von den Mägden des Mühlsteins zwar, doch nicht minder wertvoll. Was können ihre Studentinnen dafür, dass sie die-se Chan-ce bei ih-rer Gat-tin ver-passt haben, Herr Professor, und nun lassen sie uns mit Übersetzen fortfahren und wohlgemeinte Ratschläge privater Natur beiseite lassen!"

Wie für Dürrenmatt war für mich dieser Professor eine absolut unverständliche Grösse, seine Art weckte primär Unbehagen, und sein Anliegen liess mich kalt. Dennoch band mich eine Grundfaszination an dieses Fach, so dass ich es bis zum Ende durchzog, zum bitteren Ende eines prima vista Hieroglyphentextes als Lizentiatsprüfung, bei dem - noch da - in Anwesenheit einer Beisitzerin, die keine einzige Hieroglyphe zu lesen gelernt hatte... "wenn der Nil kommt..." - "falsch!" - "wenn Hapi kommt..." - "falsch!" - "wenn Hapi, der Nilgott kommt..." - "falsch!" - "wenn... ja was denn, Herr Professor? Bei dieser einfachen Struktur kann an der Satzstruktur der Übersetzung nichts falsch sein." - "Wenn die Nil überschwemmung kommt! " - "Nilüberschwemmung, akzeptiert, Herr Professor. Doch was sonst könnte gemeint sein, wenn Hapi persönlich vorbeikommt . Darf ich nun weiter übersetzen?" - "Nein, nein und nochmals nein! Sie haben die Grund-la-gen nicht begriffen!" Seufz. Ja, Herr Professor. Dabei sagt man bei uns in den Bergen doch auch, 'das Tobel' kommt, also 'das Tal' donnert mit zerstörerischer Wucht ins Tal hinab, und nicht der Bergbach, ganz zu schweigen von dessen Überschwemmung. Als würde ausgerechnet das Tal und nicht Felsbrocken des Berges zu Tal gerissen...

Entgegen der Drohung liess er mich die Prüfung natürlich bestehen. Länger in seiner Lehrstube geblieben wäre ich ohnehin nicht.

Ich hab trotzdem viel gelernt bei diesem Unverständlichen und seinem doctorat totale - vielleicht mehr als bei jedem Verständlichen, aber das Loslassen und ins Berufsleben abspringen ist mir bei keinem anderen so leicht gefallen.

Wer eigentlich lässt solch starke Persönlichkeiten mit so dominanter persönlicher Mission auf Studenten los?

Weniger ein einzelgängerischer Ekzentriker, und dennoch ein verhinderter Erotiker mit persönlichem Anliegen unterrichtete in Judaistik über Sabbatgesetze im Talmud. Der Kurs begann äusserst interessant und war durchwegs auf Lektüre von Quelltexten gestützt. Je älter das Semester jedoch wurde, desto deutlicher wurde sein Tonfall: die Ehefrau sei laut Maimonides ausdrücklich dazu verpflichtet, ihrem Gatten in der Schabbesnacht, das heisst, von Freitag auf Samstag zur Verfügung zu stehen. Verpflichtet, jawoll.

Auch Ihnen, lieber Herr Lehrbeauftragter sei nachträglich gesagt: eine Frau, die entsprechend umworben (nicht nur gedrängt) wird, geht dieser Pflicht gerne nach - es ist ihr ein süsses Geschenk und schönes Spiel, nicht nur in der Schabbesnacht. Es gibt keine frigiden Frauen, auch wenn immer mehr Bekannte mir das über ihre Partnerinnen weiszumachen versuchen. Wohl aber gibt es eine unendliche Vielzahl an Spielarten ehelicher Missverständnisse und Sturheiten. Vielen davon ist eines gemeinsam: statt um den Partner zu werben, versteift (!) sich jener Partner, der sich zu kurz gekommen glaubt, auf Paragraphen und Prinzipien, zieht sogenannt objektive Instanzen zu seiner Unterstürzung bei - und vertreibt damit den Rest des ehelichen Feuers, das mit einem bisschen Liebe und Verständnis durchaus noch zu retten gewesen wäre. Schade eigentlich. Den Shabbat ehren heisst nun wirklich nicht, auf einem vermeintlichen Recht beharren. Wollen wir Maimonides fragen?

Wie der oben erwähnte Ägyptologieprofessor zu sagen pflegte: 'Wenn ich mal tot bin - und das ist voraussichtlich vor Ihnen - dann werde ich Ramsesfragen.' Wieso immer Ramses, wusste keiner seiner Studenten. Dass er diesen dort treffen werde, stand für alle Beteiligten ausser Diskussion. Wie er dessen Antwort hingegen zurück in die Welt der Lebenden tragen werde, und ob er solches überhaupt beabsichtigte, verriet er leider nie.

Kurz über Jahrhunderte und Kulturen zusammengefasst: das grösste Problem der Menschheit scheint zu sein, dass der Mann will und die Frau nicht. Eine Tragödie, wirklich. - Kann ich nun bitte mit meiner Übersetzung fortfahrenen?

Übrigens klagen genau dieselben Bekannten - die mir vor vielleicht fünf Jahren blauäugig eröffneten, man dürfe keine Schweizerin heiraten, da diese geldgierig und frigid seien - heute, dass ihre asiatischen, afrikanischen, lateinamerikanischen Frauen geldgierig und frigid seien. Geldgier scheint mir somit eher ein Spiegel der stillgestandenen Wirtschaft, Frigidität, respektive die weibliche Verweigerung der rechtsgültig zugestandenen Pflicht, sich bespringen zu lassen, ein Spiegel häuslicher Intoleranz denn ein weibliches Problem zu sein. Oder unserem Ideal der 1:1-Ehe bis zum Tod, welche der Dynamik der menschlichen Psyche nicht gerecht wird. Ich kann mir nicht helfen: wenn mir jemand sagt "meine Frau ist frigide", dann höre ich "ich bin im Erotischen ein phantasieloser, sturer Langweiler", und ein Glücksgefühl durchströmt mich, dass eine andere ihn bekommen hat und mich das ganze Problem nichts angeht.

Ich empfehle daher Studenten wie auch Unipersonal und anderen Denkern und Planern unserer Lande, sich regelmässig in Bereichen Partnerwerbung, Poesie, Musik, Kulinarik, Verspieltheit, Humor weiterzubilden... ob an Universitäten oder ausserhalb. Sie würden unsere Welt um ein gutes Stück heiler machen. Auch eine kleine Prise Naivität und Mut zur rosa Brille dürfte zu diesem Ziel führen. Sie könnten bei meinen Pflegeeltern lernen gehen, wenn diese noch leben würden.

Was dieses ganze Kapitel mit dem Thema des Gesamttextes, nämlich Reichtum des Lebens, zu tun hat? Vordergründig nichts. Ausser natürlich, dass die darin skizzierten Personen den Anfang meiner Sammlung skuriler und unverständlicher Persönlichkeiten bildeten. Eine Sammlung, die inzwischen durch zahlreiche Skizzen aus meinem Berufsleben bereichert ist, und sich wie ein bruegelsches Kuriositätenkabinett präsentiert, und mit denen ich meine Texte würze. Vielleicht hätte ich doch predigende Rabbinerin und nicht schreibene Projektleiterin werden sollen. Aber hätte ich dann all meine Kuriositäten auch angetroffen?

Auch dies eine Facette von Reichtum.


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Das Trotz-Gen

Kennen Sie es eigentlich auch, das Trotz-Gen? Ich weiss nicht, ob ich es von unserem kämpferischen roten Grossvater mütterlicherseits geerbt habe, oder ob es ein natürlicher Bestandteil einer gesunden Psyche ist - so eine Art Schutzschild: "bis hierher und nichtweiter!"

Spontan kommen mir ein paar individualhistorisch nicht ganz unwichtige Szenen in den Sinn, in denen das Trotz-Gen aktiviert wurde und jeweils eine entscheidende Wende einleitete. Die vielleicht erste Szene fand wie der erste erKuss in meinem sten Internatsjahr statt. Tief in den Bergen und daher den Naturgewalten stärker ausgesetzt, ist dies eine sehr religiöse Region (lesen Sie dazu Meichtrys Verliebte Feinde, oder Hexenplatz und Mörderstein, welches die Legenden der unmittelbaren Umgebung meines Internats widergibt). Was mich als Kontrast zur Jugendkriminalität zuhause nicht im Mindesten störte. Ausser in zwei Punkten: das Beichten und das blinde Auswendiglernen des Kathechismus.

Zum Beichten: ich hatte mich fürs Internat entschieden, weil mir unsere zweitälteste, heroinsüchtige Schwester mit ihrer todesorientierten Destruktivität in der Familie zu dominant wurde, und weil ich die Drogen-Selbstexperimente der andern Schwestern sowie den Zwang zur Jugendkriminalität im Schulhaus nicht mittmachen, sondern mir ein eigenes, positives Leben gestalten wollte. Dafür war ich bereit, vieles in Kauf zu nehmen. Aber nicht alles. Beim ersten, übrigens obligatorischen, Beichten im Internat fragte mich der Geistliche: "ist dein Leben von Drogen geprägt?", was ich zu Recht bejahte. Worauf er ohne zögern zu einer Moralpredigt über die Verwerflichkeit und Schädlichkeit von Drogen anhob und mir das Beten von mindestens zwei Dutzend Ave Marias auftrug. Ich schluckte, kehrte in die Kapelle zurück, betete KEINES davon, sondern bat den Herrgott, diesen Menschen bald an Hodenkrebs sterben zu lassen, und hielt es künftig an Beicht-Tagen so, dass ich als eine der ersten die Kapelle betrat, um unter ABSICHTLICHER Vermeidung JEGLICHER religiöser Gedanken in der Kühle und Stille der Kapelle zu knien - und die Kapelle als eine der letzten auf DIREKTEM Weg wieder zu verlassen. Der Geistliche hat mich nie wieder im Beichtstuhl gesehen. Bemerkt hat er es nicht, da mein stiller Protest in der Vielzahl der Internatsmädchen unterging. Ich galt während sieben langen Internatsjahren als ausgesprochen fromme und religiös hoch-interessierte Schülerin.

Zum Kathechismus: es darf nicht verwundern, dass ich als Enkelin und persönliche Geheimschrift-Briefpartnerin des Grossen Roten Alfreds, und daher zum selbständig Denken Erzogene milde gesagt schockiert war, als ich im Internat feststellen musste, dass man hier den Kathechismus, d.h. die wohl aus dem neunzehnten Jahrhundert stammende Sammlung von Verhaltensregeln für den "guten Katholiken" Satz für Satz, Abschnitt für Abschnitt auswendiglernen musste. Nun, bei der ersten Prüfung, in meiner vielleicht zweiten Schulwoche, starrte ich entgeistert auf die Prüfungsfragen, zog dann unter dem Pult das bordeaux-rote Büchlein auf die Knie, schlug die Stelle nach, und schrieb sie ab. "Nein - sowas in meinen Kopf zu beigen, weigere ich mich schlichtweg." Meine Banknachbarn links und rechts, fasziniert ob meiner Frivolität, schrieben mir ab - und so taten es deren Banknachbarn links und rechts. Mit dem Resultat, dass die Religionsnoten in unserer Klasse ab meinem Eintritt deutlich sichtbar stiegen, und man in Geistlichen Kreisen hinter vorgehaltener Hand tuschelte - was ich allerdings erst Jahre später erfuhr - was für einen ausserordentlich positiven Einfluss ich auf meine Mitschüler habe. Hatte ich doch, oder?

Ganz anderer Art, viel stiller, sozusagen konterrevolutionärer, äusserte sich die Aktivierung meines Trotzgens an jenem selbst für unsere wilde Familie denkwürdigen Heiligabend, an dem eine der Schwestern, ich erinnere mich nicht mehr welche, die Hand hob und um die Einberufung einer ausserordentlichen Familienratskonferenz bat. Unsere Familie war konsequent demokratisch organisiert. Jedes Mitglied hatte jederzeit das Recht, eine ordentliche oder ausserordentliche Familienratskonferenz einzuberufen, sein Anliegen vorzutragen, auszudiskutieren und zur Abstimmung zu führen. Ich denke, diese Rechtsform war durch Papas im-dutzend-billiger-Phantasien zur Familien- Institution geworden. Gut. Die Familienratskonferenz wurde also einberufen, der Antrag gestellt, die Diskussion eröffnet: wir sollten alle geschlossen, mit sofortiger Konsequenz aus der Kirche austreten, weil Religion heute nicht mehr zeitgemäss sei. Während die Kerzlein am Weihnachtsbaum munter flackerten, wurde debattiert und anschliessend abgestimmt. Das Resultat war einstimmig mit drei Enthaltungen. Danach kehrte wieder Ruhe ins friedliche Weihnachtsfest ein. Ich sass am Boden hinter dem Sofa und las wie immer am Heiligabend eines der Bücher, die ich geschenkt erhalten hatte. Um halb elf kroch ich hervor, setzte ich mich ruhig neben Papa und sagte: 'komm Paps - wir zwei gehen jetzt in die Messe.' Und von allen unbemerkt genossen wir auch die zweite Hälfte des Heiligabends: den Spaziergang durch die kalte, verschneite Landschaft, eine schöne Mitternachtsmesse - für uns etwas beinahe Verbotenes - das Nachklingen der Weihnachtslieder in unseren Köpfen auf dem stillen Heimweg. Viel schweigendes Einvernehmen in einer Intensität, wie ich es sonst eigentlich mehr von Stadtspaziergängen mit Grosspapa mütterlicherseits kannte. Eine stille kleine Konterrevolution ohne grosses Aufheben.

Auf mein fünfjähriges Firmenjubiläum als Datamanager/Programmierer/Controller in einer Grossbank hatte ich mir gewünscht, sämtliche angesammelten Urlaubstage am Stück beziehen zu dürfen. Der Wunsch wurde mir erstaunt bewilligt, da er bescheidener war als erwartet, und ich nutzte ihn, um in Israel mein Proficiency in Neuhebräisch zu absolvieren. Nicht dass irgend eine Notwendigkeit dazu bestanden hatte - beruflich brauchte ich die Sprache nicht, und privat übersetzte ich in meiner Freizeit längst literarische Texte aus dieser Sprache. Doch reizte mich ein offizieller Abschluss - und mein Körper rief wieder einmal laut nach einer längeren Ruhephase.

Item, der Einstufungstest der Schule ermöglichte mir eine Zuweisung zur Universitäts-Klasse, in der ich wie immer - ich kann nicht anders - mit viel Begeisterung teilnahm. Der Schulleitung fiel die Kombination von Begabung, solidem Vorwissen und Engagement auf, und eines Nachmittags nach der Schule kam eine amerikanische Lady mit der Frage auf mich zu, ob ich Interesse an einem Rabbinerstudium habe. Sie amtiere als Verwalterin einer Stiftung für Begabten- und Nachwuchsförderung. Es gäbe Wege, mir dieses finanziell zu ermöglichen...

Ich brauchte ungefähr zwei Sekunden für die Entscheidung. Denn in meinem Inneren brach unvermittelt der heftigste Sturm aus: "Religion als Beruf? Nie! Als Frau Vorsteherin einer Gemeinde? Ich nicht! Mich in völliger Isolation verheizen lassen? Lo toda, 'ein zorach! Minderheit einer Minderheit, und dafür mit Jahren Studium und Entsagung bezahlen? Njet!" Kurzum: ihre Frage aktivierte unbremsbar mein Trotz-Gen, und ich sagte nicht nur der Dame mit aller Entschiedenheit ab, sondern beendete in der Folge nach meiner Rückkehr sämtliche Talmud- und sonstigen judaistischen Kurse, die ich neben der Arbeit noch immer belegte. Dumpf hatte ich das Gefühl, zu weit gegangen zu sein und einen Schlussstrich ziehen zu müssen. Einzig das Übersetzen von Kurzgeschichten behielt ich bei, denn hier ging's mir um ein reines linguistisches Spiel um Verständnis. Übersetzen war Privatsache. Im Übrigen hatte ich inzwischen Ran Jagil entdeckt - ein leckeres kleines Enfant Terrible, dessen leicht morbiden, pointiert geschriebenen Texte zu naschen einen netten Gegenpart zum status-orientierten Alltag in der Grossbank boten...

Ein weiteres Beispiel für einen Ausbruch des Trotz-Gens? Ganz ähnlich. Arabisch. Auch als reines Spiel und linguistische Delikatesse begonnen. Der Zeitpunkt: ähnlich - ich war in derselben Anstellung. Die Samstagvormittage verbrachte ich seit einiger Zeit in einem Zentrum für Islamische Studien, mit Privatstunden in Ägyptisch- Arabisch. Als meine fünfte semitische Sprache lernte ich mit spielerischer Leichtigkeit Wörter, Stukturen und Flexionen, und begann bald, von einer Struktur auf andere zu schliessen, Wortspiele zu machen und einfache literarische Texte zu lesen. Kurz: die Stunden kosteten zwar extra Geld, Energie und Freizeit, bereiteten aber sehr viel Spass.

Eines Samstagvormittags bat mich der Lehrer, in seine Fortgeschrittenen- II-Klasse einzusteigen - deren Teilnehmer bereits vier Semester Arabisch absolviert hatten. "Wie sollte ich nach weniger als sechs Monaten deren Niveau folgen?", wehrte ich ab - und erntete nichts als ein müdes Lächeln: längst habe ich einzelne der Klasse eingeholt. Ich bat um eine Gedenkfrist.

Auf dem Heimweg in den öffentlichen Verkehrsmiteln aktivierte sich mein Trotz-Gen. Wie ein Gewitter brach es in mir aus, und ich begann zu zählen: Arabisch war tatsächlich - und ich zählte nochmals und nochmals - bereits meine dreizehnte Sprache. Eigentlich, wurde mir schlagartig bewusst, mehr als zehn hatte ich nie lernen wollen; als Mittelschülerin hatte ich mir nicht ganz ernsthaft die Anzahl meiner Finger vorgenommen, sie nie korrigiert

Wieso war ich überhaupt auf die Idee gekommen, zehn Sprachen lernen zu wollen? ...vielleicht als weiterhin wirkender Auftrag der anderthalb Jahrzehnte davor verstorbenen Grossmama, "Lies soviel wie du kannst. Lerne Sprachen. Lerne, wie andere Menschen denken und schreiben. Mach es dann genauso - oder besser. Du wirst es lernen."...

- und irgendwann hatte ich zu zählen aufgehört, da sie mir wirklich nicht wichtig war. Nun, da sie überschritten war, fiel irgendwie alles in sich zusammen.

Wenige Wochen später stornierte ich die Stunden ganz. Es ist bei meiner Fähigkeit zu Basis-Konversation und der Lektüre einfacher Texte geblieben, und ich hatte nie wieder das Bedürfnis, weiter in diese zugegebenermassen sehr faszinierende linguistische Welt einzutauchen, oder mit einer neuen zu beginnen.

Heute? Nun, gegen einen Kultur- / Erholungsurlaub im windigen Alexandria, der Arussat el Bahr, der Braut des Meeres, und dort der Lektüre der Märchen von 1001 Nacht in ägyptisch-arabisch, vielleicht in einer Kleinklasse oder als Privatschüler, hätte ich natürlich nichts, falls Sie mir ein besonderes Geschenk machen wollen, aber mit einer neuen Sprache werde ich wohl kaum mehr beginnen. Die Zahl ist irgendwie erreicht, es gibt keinen Grund, sie zu erhöhen.

Der Reichtum, der durch das Trotz-Gen erzeugt wird? Die Konzentration auf das eigene Lebensthema, das Beibehalten des eigenen Rahmens, die Weigerung, ihn zu übertreten. Das regelmässige Heimkehren in die eigene Schatz-Höhle.

Was tun SIE, wenn Sie an einer Kasse anstehen, im Stau blockiert sind, auf ein öffentliches Verkehrsmittel warten? Ich, ich konjugiere. Kreuz und quer. Aus purem Spass an der Sache. Edelsteine in der Schatzhöhle zählen und polieren.


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Rituale

Sind Sie auch schon an ihre Grenzen gestossen? An einen Punkt angelangt, wo ihr Ich nur noch mit Erschöpfung reagierte, und ein Auftauchen aus diesem Sumpf nicht mehr möglich war? Wo Sie im Gegenteil die uralte Morla des Sumpfes aufsuchen, sich von ihr einen absolut sinnlos erscheinenden Ratschlag geben lassen und den richtigen Weg dann doch selbst finden mussten?

Nun: dank meinem aussergewöhnlich fordernden Beruf als Quasi- Katalysator in betrieblichen Umbruchsituationen passiert mir das mit einer gewissen Regelmässigkeit alle paar Jahre in unterschiedlicher Sumpftiefe. Der letzte war relativ tief, wahrscheinlich von einer Nachbarin mitverursacht und führte mich an jenen Punkt, an dem man denkt: das war's, hier gibt's kein Aufwärts mehr. Drei im Nachhinein als unnötig rediagnostizierte Operationen innerhalb gut zwei Monate, fünf innerhalb eines Jahres, und ich hatte schlicht keine Ahnung mehr, woher ich die Energie fürs Alltägliche nehmen sollte. Zum Glück kann man sich mit ein bisschen Beharrlichkeit und Geduld (viiiiel Hörbücher hören und Sudoku lösen) auch aus sowas wieder rausreissen. Nach der Erholungsphase und der Rückkehr in die Normalität kommt jeweils die Frage, in welcher Form dem zu kurz gekommenen Teil der Seele Tribut gezollt werden soll. "Ich geh für zwei Monate in ein Kloster übersetz deren Gründungsschrift!" war eine dieser Entscheidungen (nach dem Tod meiner todesorientierten, nicht- mehr-heroinsüchtigen Schwester und meiner ersten der mysteriösen Operationen, damals noch ambulant), oder "jetzt mach ich die Donauradtour" (nach meinem ersten Spitalaufenthalt), oder "Jetzt ist Omas Buch dran" (nach einer völlig sinnlosen sechzig-Prozent-der-Abteilung-muss- gehen-Kündigung). Alle haben sie gemeinsam: sie sind durch etwas Aussergewöhnliches, einen Schlag von aussen ausgelöst, und es geht um ein Vorhaben, das innert kurzer Zeit bis zum vorgenommenen Ende durchgeführt werden kann - das keinen Aufschub duldet.

Mein neustes Ritual war das Eichenprojekt. Wie weiter oben angedeutet, hatte mich eine Serie körperlicher Umstände einige Wochen zur beinahen Bewegungsunfähigkeit verdammt, und mir wurde bewusst, dass diesmal ein spezielles Ritual daran war, etwas aus dem Bereich Religion. Seit jedoch der offizielle Katholizismus zum reinen Instrument für simplistisches reaktionäres ich-schubs-euch-alle-raus-ihr-Gottlosen- Marketing verkommen ist, ist ein Rückzug auf dieses Gebiet für einen Normaldenker nicht mehr möglich. Also musste meine Lösung ausserhalb gefunden werden.

Der Zufall wollte es, dass mein nächstes berufliches Projekt am Rande des Odenwaldes angesiedelt war und eine handvoll Monate dauerte. Genau lang genug, um das Gebiet in Wochenend-Fahrradtouren grossflächig zu erkunden. In einem Reiseführer las ich, dass in diesem einst von Eichen dominierten Waldgebiet von der ungefähren Grösse des Kantons Luzern Odins Baum heute beinahe ausgestorben sei.

Eins und eins zusammengezählt, machte ich mich daran, in meiner Schweizer Umgebung spriessende Eicheln in grösserer Anzahl zu sammeln, und sie an den Wochenenden in tagelangen Fahrradtouren längs und quer durch den Odenwald, setzen zu gehen. An die hundertfünfzig spriessende Eicheln grub ich so in die zum Teil sandige, zum Teil beinahe auige Walderde, jeweils ein Loch grabend, es mit frischem Quellwasser füllend, zudeckend und den Segen der "Grossen Grünen Göttin" sprechend - bis ich das Gefühl hatte: "die Zahl des Rituals ist erfüllt".

Wenn nur schon ein viertel meiner hundertfünfzig Eichen eine Überlebenschance hat, dann wird im nächsten Jahrzehnt Odins Baum seine Rückkehr in seinen Stammwald finden und kann beginnen, ihn zurückzuerobern. Ob der weichliche Christengott diesem wiedererstarkenden urgermanischen Donnergott Stand halten kann, will ich hier nicht zur Frage stellen. Lesen Sie Paasilinna zum Thema Wiedererwecken des Donnergotts - Sie werden sich halb krumm lachen - besser als er kann niemand eine durcheinander geratene Gesellschaft schildern.

Für künftige Botaniker des Odenwalds: die Mütter all dieser sicherlich ganz ähnlicher Eichen stammt aus dem Umkreis von ca 2.5 km des Rinaku-Castle. Jetzt müssen Sie nur noch wissen,wo dieses liegt/lag.

Der positive Nebeneffekt für mich selbst: nicht nur habe ich mich mit dieser rituellen Wallfahrtsübung fit gehalten, sondern dabei auch eine äusserst malerische Umgebung mit zahlreichen lieblichen Siedlungen kennengelernt, viel frische Luft getankt, fein gegessen und mich auf neue Ideen gebracht. Ich habe mir radelnd das Nibelungenlied dort angehört, wo einige seiner dramatischsten Szenen spielen, beim Reichenbacher Felsenmeer den Rübenzal, beim Städchen Wertheim den Parzifal. Ist doch auch Reichtum, nicht?


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Romantische Zeitreise

In einer meiner Zwischenprojektzeiten unternahm ich halb geplant, halb unerwartet eine Zeitreise, welche mir einen ungefähr neunmonatigen, romantischen und naturgemäss politisch bewegten Aufenthalt in den 1910er Jahren bescherte. Mitten in die Jugendzeit meiner Grosseltern.

Wie es dazu gekommen ist? Die geplante Hälfte: Mit dem Jahreswechsel ins 2003 hatte ich beschlossen, dass ich nun 'gròsz' sei, und mit der Rèvision von Omas Lebenswerk beginnen könne. Seither arbeitete ich in mehreren Durchgängen an Omas biographischer Novelle 'Terka ', welche in den Jahren 1907 bis 1919 in Ungarn spielt. In mehreren Ungarn-Reisen hatte ich, jeweils ausgestattet mit einer Liste an Merkmalen von Orten und Personen, die Orte der Handlung gesucht, photographiert, Wege abgeschritten, verschwundene Lieblingswinkel gedanklich zu ergänzen, dem Echo längst verhallter Dialoge nachzulauschen versucht. Vor allem aber den Text geschliffen, geschliffen, Hintergründe recherchiert, ergänzt, Namensschreibungen ergoogelt, Figuren ausgebaut, Text weitergeschliffen... bis ich endlich beschloss: nun ist auch Terka produktionsbereit, d.h. nun kann auch sie zu einem Hörbuch verarbeitet werden. Die passende Schauspielerin hatte ich gefunden.

So druckte ich ein Exemplar des Textes in tonstudiotauglichem Format aus, gab es der Schauspielerin und bat um Rückmeldung, ob sie bereit sei, dieses Typoskript im Tonstudio vorzulesen. Zu meiner grossen Freude kam nicht nur ihre Zustimmung, sondern sie reiste sogar nach Budapest, um die dortigen Plätze beim Lesen vor Augen zu haben. Beglückt gab ich ihr eine Liste zu besuchender Orte und Strassen mit.

Gleichzeitig geschah etwas anderes. Auch hier gibt es eine Vorgeschichte. In den Jahren der Arbeit am Terka-Text wuchs in mir der Wunsch, mich 'einmal' an die Biographie meines liebenswerten, etwas kauzigen, wilden, roten Grosspapas mütterlicherseits zu machen. Einer aargauer Landadelsfamilie entstammend, in welcher seit 350 Jahren der älteste Sohn jeweils 'Landamme' (d.h. Vertreter im Regierungsparlament) und Lehrer war, hatte er die gesamte Familientradition von sich geworfen, im fernen, politisch viel zu modernen Genf Pädagogik studiert und in Folge in Zürich ein Leben lang Rebellion gemacht. Unzählige langatmige, pausenreiche Anekdoten hatte er mir erzählt, wenn er in hohem Alter auf Rekonvaleszenz bei uns weilte und ich als einzige Schulferien und damit Zeit für ihn hatte. Nun wollte ich dieses Thema endlich angehen und sein Leben aufzubereiten zu beginnen. Bloss: Seine Tagebücher, eine ganze Wand während siebzig Jahren mit viel Fleiss befüllter Hefte war spurlos verschwunden - all meine schwächlichen Versuche einer Auffindung stiessen gegen Wände. Bis...

Die ungeplante Hälfte: Ungefähr gleichzeitig mit der Zusage Anny Weilers, den Terka-Text im Tonstudio zu lesen - kam eine email aus der Handschriftenabteilung unserer Zentralbibliothek: 'Sehr geehrte Frau Rinaku, die Tagebücher ihres Grossvaters sind bei uns eingetroffen. Sie können sie gerne einsehen.' Die email kam nicht zufällig, denn ich hatte mehrere Bibliotheken gebeten, mich zu informieren sollten die Tagebücher bei ihnen auftauchen.

Wohin waren sie verschwunden, zwischen meinem letzten Blick auf sie in Opas Mansarde gegen Ende meiner Studienzeit und ihrem Auftauchen in der Zentralbibliothek? Ganz einfach: Opas Parteifreund hatte sie 'sicherheitsgeklaut'.

Ob er sie selber publizieren wollte? Ob er sie einfach in guten Händen wissen wollte? Ob er davon ausging, dass ihr Wert nicht erkannt werde und sie durch die 'falschen' Hände auseinandergerissen oder verlorengehen würden? Danke fürs Vertrauen übrigens, lieber Theo Pinkus. Wie ausgesprochen beruhigend zu wissen, dass auch Diebe sterben.

Nach dessen Tod gelangten sie mit dessen Nachlass in die sozialistische Bibliothek unserer 'Familienstadt', welche, durch das schiere Volumen des Pinkus-Nachlasses überfordert, Teile an die Zentralbibliothek weitergab. Darunter: alles, was mit Opa zu tun hatte und als solches isolierbar war.

Nun, da waren sie. Und ich vor ihnen, in einem stillen Lesesaal. Mein Grossvater, den ich erst als Siebzigjährigen als gütigen, geduldigen und doch sehr charakterstarken und kauzigen Menschen kennengelernt habe, breitete sein jugendliches Selbst vor mir aus. Unzählige Stunden eines langen, sehr speziellen Jahres verbrachte ich neben Arbeitssuche, nächstem Projekt und Terka-Produktion mit dem Entziffern und Abschreiben hunderter von Tagebuchseiten. Ein Jahr im stürmischen Ungarn und zugleich in der beschaulichen Schweiz der 1910er Jahre. Ein Jahr mit Omas leidenschaftlichen, nie in die Tat umgesetzten Vorsätzen, die Lebensbedingungen der landwirtschaftlichen Angestellten auf der südungarischen gräflichen Puszta zu verbessern, in der sie aufgewachsen war. Ein Jahr in Opas verträumten Poeten- und Schulmeisterleben, mit wunderbaren Landschaftsbeschreibungen, Rauchwolkengebilden, Baum-Märchenskizzen, Träumereien von seinem 'Blauchen', Orientierungsversuchen im neuen weiblichen Selbstbewusstsein, in sich selbst bestärkenden und täglich angewandten Vorsätzen, 'die Welt so zu ändern, dass sie die Menschen nicht mehr auf Abwege drängt'... Ich hatte, kurz gesagt, neben einem sehr lebendigen und vielseitigen Einblick in die gigantischen gesellschaftlichen Veränderungen um den Ersten Weltkrieg herum, eine heimliche, stille, tiefe Liebesbeziehung mit meinem jugendlichen Grosspapa - den ich politisch nie verstehen, schon gar nicht folgen werde, menschlich aber höher achte als vor dieser intensiven Lektüre. Die alte deutsche Beamtenschrift hat er mich übrigens genau für diese Lektüre gelehrt - diese war seine Verschlüsselung an privaten Stellen.

Ganz gewiss ein Reichtum mehr in meiner Schatztruhe.


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Lebens-Alternativen

Wieviele Leben lebt man eigentlich - gleichzeitig? Keine rhetorische Frage.

Wie Sie oben schon ein paarmal lesen konnten, hatte ich zwei Paar Eltern. Soll ich erzählen, wie es dazu kam?

Ich war viereinhalb Jahre alt, wie gesagt das fünfte Mädchen in einer damals sechsköpfigen Kinderschar. Vaters Reparaturbetrieb für landwirtschaftliche Maschinen hatte Konkurs gemacht - erstmals in seinem Leben musste er sich eine unselbständige Anstellung suchen. Und zwar sehr rasch, viele hungrige Mäuler waren zu stopfen. Wir zogen weg und weg und weg, bis wir in jenem Tal anlangten, in dem meine Eltern heute noch leben. Ein äusserlich unscheinbares Strassendorf im Jura, das im Laufe der Jahrhunderte auf der Reise ins Schweizer Mittelland, beziehungsweise nach Überquerung des Passes nordwärts auf der Reise nach Basel Rast und Pferde-Ersatz angeboten hatte. Hüglig, waldig, ruhig. Immerhin sind auf dem Land eines der Bauern Überreste eines Römischen Landsitzes gefunden worden. Ein liebliches Bächlein plätschert durchs Tal, schmiegt sich parallel zum Dorfkern in die weiche Kalkwand des Hügels, hat hier und dort Höhlen eingekerbt und dem Dorf den Namen verliehen. Doch nicht wegen des Baches zogen wir dahin, sondern wegen der Uhrenfabrik, in der Papa als Ingenieur Anstellung erhielt, und in dessen alter Direktionsvilla wir später wohnen durften, nachdem sich die Direktoren eine bessere, modernere Villa gebaut hatten.

Damals aber, als ich viereinhalb Jahre war, wohnten wir noch in einer Dreizimmerwohnung. Ein Elternschlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein mit Kajütenbetten vollgestelltes Kämmerchen für die Kinderschar. Wir wohnten also nicht viel besser als die landwirtschaftlichen Angestellten auf der gräflichen Tanya in welcher Mutters Mutter aufgewachsen war. Noch heute kommt mir Hühnerhaut bei der Erinnerung an die Gespenstergeschichten, welche sich vor allem die älteren Schwestern beim Einschlafen zuwisperten.

Eines Tages hiess es, Besuch werde kommen. Einer der vielen Cousins des Vaters. Einer, der's zu was gebracht hatte. Ein höherer Angestellter der Visper Düngerfabrik. Ein spezieller Besuch, den wir nicht oft zu Gesicht bekamen. Seine Frau, eine wunderschöne, leicht mollige, strohblonde, an Marilyn Monroe erinnernde, immer singende und lachende Person, hatte ein spezielles Anliegen, von dem uns Kindern nichts erzählt wurde, und wahrscheinlich wussten auch meine Eltern vor dem Besuch noch nichts davon. Hermine, die singende Blonde, konnte wegen eines Unglücks in ihrer Jugendzeit keine Kinder bekommen. Eine Tatsache, unter der sie sehr litt, mit der sie sich aber nicht abfand - mehrfach hatte sie Kinder für ein paar Jahre angenommen und am Schluss gar eines adoptiert, ein Junge, der mittlerweile elf Jahre alt war. Doch nochmals ein Mädchen zu haben, das wäre schön, so schön, und der Päuli (mein Vater), hat doch viel zu viele für diese winzige Wohnung. Wir könnten ihm eins abnehmen, und allen wäre gedient: Ich hätte mein Mädchen, das Mädchen hätte eine bessere Kindheit, und der Päuli ein Maul weniger zu stopfen...

Ohne von diesem Wunsch zu wissen, spielte ich an jenem Tag nicht mit den Geschwistern hinter dem Haus, sondern sass mit einem Buch am Strassenrand und lauerte auf ankommende Autos. Diesmal, dieses eine Mal wollte ich die erste sein, die den Besuch entdeckte! Diesmal wollte ich - das Empfangskommitee, die Hineingeleiterin, die Erste sein. Diesmal aus diesem Sonntag einen besonderen Sonntag machen. Doch wann immer ich vom Buch aufblickte, es kam und kam und kam einfach kein Auto. Ein Buch ist nicht so interessant, bevor man lesen kann. Nicht so, dass man allein wirklich viel Zeit damit verbringen und nach aussen den Anschein geben kann, man sei vertieft. Also begann ich mit meinem üblichen Spiel: ich suchte die paar wenigen Buchstaben, die ich schon kannte, und las sie laut vor mich hin. Auch das wurde mir mit der Zeit langweilig. Aber ich hatte mir vorgenommen, den Besuch als erste zu sehen, und so hielt ich meinen Posten.

Da, endlich ein Auto. Ein fremdes. Ein silbergraues. Das Autokennzeichen... 'VS'. Nicht 'Wallis'. (VS steht für die französische Bezeichnung jenes Alpen-Kantons. Valais. Das konnte ich natürlich nicht wissen, ebensowenig konnte ich mir zuammenphantasieren, 'VS' sei eine Kurzform von 'Visp', was es natürlich nicht ist, aber es wäre eine schöne Geschichte gewesen.) Die lange Warterei. Das verpasste Spielen. Die Enttäuschung. Alles brach über mich herein. Noch während das Auto in unsere Seitenstrasse einbog, warf ich mein Buch weg, stellte mich mitten auf die Strasse, beugte mich zum ankommenden Auto vor und zeigte ihm meine Zunge in ihrer ganzen Länge; 'bääääh!'

Hermine auf dem Beifahrersitz sah mich genau. Entzückt wies sie mit dem Finger auf mich und rief aus: 'das ist eine vom Päuli, die möchte ich haben!'

Sie stiegen aus und gingen ohne mein Geleit in die Wohnung hinauf. Ich wartete draussen weiter auf ihr Auto. Zum Glück. Denn damit entging mir ein sehr wüstes Gezänk. Ein Weiberkampf. Ein hysterisches Positionsverteidigen. Ein kaukasischer Kreidekreis. Hermine hatte den richtigen Tonfall nicht gefunden. Vielleicht war sie einfach zu sehr eingelullt in ihre romantische Vorfreude, in ihr Wohlbehagen, eine für alle Seiten optimale Lösung gefunden zu haben. Vielleicht hatte sie Mutter einfach überrollt. Jedenfalls verteidigte Mama, absolut im Tonfall ihrer Mutter, und durch ihre eigene Kindheit geprägt, spitz ihre prinzipielle Position: unter gar keinen Umständen! Geschwister werden nicht getrennt! Niemand kann von mir erwarten, dass ich mein eigen Fleisch und Blut hergebe!

Oh hätte sie nur realisiert, wem sie sowas ins Gesicht schleuderte! Hermine und ihre vier jüngeren Geschwister waren beim Tode ihres Vaters getrennt und in fünf verschiedene Familien gegeben worden, als Hermine kaum älter als fünf Jahre alt war, der Jüngste noch in der Wiege lag.Kaum weggegeben hatte die kleine Hermine für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen. Geschwister nicht trennen! Ha, wem sagte sie das! Es gibt doch auch sowas wie wirtschaftliche Notwendigkeit! Das Kind könnte ein eigenes Zimmer haben. Eine gute Schule besuchen. Klavierspielen lernen. Nein, nein und nochmals nein. Eigene Zimmer sind unnötiger Luxus. Gute Schulen gibt's auch hier. Klavierunterricht kann ich selbst erteilen. Man gibt ein eigen Kind nicht her. Basta.

Vergeblich versuchten die beiden Cousins zu vermitteln. Der verunglückte Besuch wurde abgebrochen, die Visper verliessen weinend die Wohnung, stiegen wieder in ihr Auto, fuhren zuteifst enttäuscht heim. Ich sah das silbergraue Auto wegfahren, denn noch immer lauerte ich am Strassenrand auf das Kommen des speziellen Besuchs. Es waren bestimmt zehn Stunden Autofahrt, die die Visper vergeblich auf sich genommen hatten. Wie beschwingt hatte ihr Tag begonnen, wie trüb endete er! Dieses Missverständnis! Diese Sturheit! Diese Unfähigkeit, Raison zu zeigen!

Als wir schliesslich zum Essen gerufen wurden, als ich mich endlich von meinem Wachposten losriss und die Treppe hinaufstieg, herrschte in der Wohnung das allereisigste Schweigen. Der Besuch wurde mit kaum einem Wort erwähnt. Sie seien nicht gekommen, jetzt keine Fragen mehr.

Mutter begann in den Folgejahren, einer Tochter nach der andern Klavierstunden zu geben. Ich zeigte nicht viel Interesse, dasselbe nachzuklimpern, was ich von jeder meiner Schwester gehört hatte, doch ich durfte sehr früh in den Mädchenchor des Dorfs, mit dem wir in recht weitem Umkreis Auftritte gaben, was mir gut gefiel. Ein eigenes Zimmer hatte ich nie, bis... aber da war ich schon auf dem Absprung ins Internat.

Zehn Jahre nach diesem verunglückten Sonntagsbesuch sah die Welt ganz anders aus. Wir konnten bald darauf in die uralte Direktionsvilla umziehen. Jedes der Kinder pflegte ein eigenes Stück Garten (in meinem - ich hütete mich, irgendjemandem davon zu erzählen - hauste eine fette Kröte, unter einem Stein, der ich hie und da, ich wusste es nicht besser, gemüserestliche Leckerbissen hinschob, welche sie seltsamerweise verschmähte). Jedes der Kinder hatte sich im Wald des Grundstücks eine Hütte gebaut. Schleichend begann die Verwilderung. Die zweitälteste Schwester frischte sich ihr Taschengeld auf dem Basler Kinderstrich auf, um sich schöne Kleider leisten zu können, wie sie uns wortreich erklärte. Die älteste Schwester zog aus der Villa in den Stauraum über der Garage, wo sie mehr Freiheiten geniessen und Erfahrungen sammeln konnte, als im Elternhaus. Glauben Sie mir, Sie wollen ihre Geschichten darüber nicht hören. Bruders bester Freund Boni entdeckte das Hobby Einbrüche, Bruder spezialisierte sich darauf, die Einbruchsware auf 'alt' zu machen und auf dem Basler Flohmarkt zu verkaufen. Verwilderung. Sogenannte Freiheit. Jugendklriminalität. Blindheit der Eltern. Vertuschungslügen. Schrecken bei jedem Telefonklingeln, die Polizei! Eine der Schwestern - welche ist nicht da? Zunehmend meine Angst: hier werde ich nicht überleben. Ich muss weg, aber wohin? Sprüche der Zweitältesten: tut nicht so intelligent. Intelligenz ist nichts. Ich werde alle zur Strecke bringen, die nicht nach meiner Flöte tanzen. Besonders Genie Lavabo. Mehr Angst. Panik. Ich muss weg, aber wohin? In der Schule schrieb ich einen Aufsatz mit dem Titel 'Als ich einmal ausriss' und wurde zum Rektor zitiert: 'was willst du damit? Drohst du uns?' Dabei war mein Ausreissversuch im Aufsatz unfruchtbar, musste abgebrochen werden, ich war erkannt worden und musste heimkehren. Niemand verstand mich. Sie würde es tun. Sie würde mir was antun, da war ich mir sicher. Es war nur eine Frage der Zeit. Hier, hier hätte ich nicht die geringste Chance zu überleben.

Der einzige, der meine Angst wahrnahm und ernstnahm, war der Pfarrer des Tals. 'Komm am nächsten Mittwochnachmittag zu mir ins Pfarrhaus, ich hab was für dich', sagte er eines Sonntags nach der Messe. Papa und ich blickten einander an. Fragend. Keine Ahnung. Ich ging hin, und der Pfarrer zeigte mir ein Buch. 'Katholische Schulen und Heime der Schweiz'. Wir blätterten darin. Er erzählte mir von Internaten. Ein bisschen wusste ich davon, von den Hanni und Nanni Büchern. Er sprach von verschiedenen Typen von Internaten, von deren Stellung in ihrer Umgebung und daher Preislage für die Zöglinge. Was für eine andere Welt! Einen ganzen Nachmittag verbrachten wir miteinander und mit dem Buch. Was ich wolle, was für mich das richtige sei, fragte er immer wieder. Ich? So weit weg wie möglich, dachte ich. Nicht mehr heimkehren müssen. Oder nur selten. Er: etwas Zahlbares. Etwas, das du auch dann noch zahlen kannst, wenn deine Eltern dir die Unterstützung verweigern.

Wie konnte er das wissen? Kannte er sie so gut? Kannte er generell Eltern so gut?

'Du hast ein Recht auf eine gute Ausbildung', sagte er immer wieder. Wir entschieden uns für eines. Institut Heilige Familie, Leuk-Stadt. Weit weg, beinahe an der Grenze zu Italien. Ausgesprochen günstig. Ursulinerinnen sind selbstbewusste Frauen. Gute, solide Schule. Der einzige Haken: das Verbleiben der Zöglinge im Internat während der Wochenenden war untersagt. Ich musste eine Pflegefamilie für die Wochenenden finden. Das sei organisierbar, sagte der Pfarrer. Ich solle ihn mit Mama reden lassen.

Ist es Zufall oder Schicksal? Mama erinnerte sich an den verunglückten Sonntag zehn Jahre davor, und hatte wohl inzwischen genügend Zeit gehabt, über Hermines Wunsch nachzudenken. Und sich, wenn auch nur zum allernotwendigsten Minimum, mit ihr zu versöhnen. Ein kurzes Telefon genügte: 'Willst du sie immer noch?' - 'Natürlich!'. Denn mittlerweile war der adoptierte Letzte fort, er besuchte eine Londoner Schauspielschule.

So konnte ich meinen nächsten Lebensabschnitt in Angriff nehmen.

Ich verbrachte die Wochenenden der folgenden sieben Jahre bei Hermine, und es waren sehr glückliche Jahre. Die Wochen im Internat, die Wochenenden bei Hermine und Papas Cousin, die Schulferien in der wilden Familie zuhause, ab dem dritten Internatsjahr zuhause-und-in-der-Fabrik-arbeitend, um mir, wie der Pfarrer vorausgeahnt hatte, mein Internat zu verdienen.

Hin und wieder denke ich nach über diese beiden Kindheiten. Jene, die ich hatte, und jene, die ich hätte haben können. Nein, ich bin kein hätte-würde-wäre-Mensch, und nichts sagt, auf welchem Weg ich glücklicher geworden wäre. Aber alles wäre ganz anders. Ich hätte andere Freunde gehabt, andere Schulen besucht, die Auftritte des Mädchenchors nicht miterlebt. Vielleicht hätte ich in der Einsamkeit des Einzelkinddaseins -

Nein, Mama, WIRKLICH, ich wäre NICHT lieber ein Einzelkind gewesen!

- an die vielen Geschwister dort am andern Ende der Schweiz gedacht und mir - statt Kinderkrimis - Geschichten über sie und mit ihnen zusammenspintisiert. Vielleicht hätte ich noch früher oder gar nicht jene Literaturpreise gewonnen, welche die Jahre meines Internatslebens prägten und ihnen einen sehr speziellen Glanz verliehen.

Während der Internatsjahre stiess ich hie und da auf seltsame Zufälle. Auf Menschen, die ich längst zu kennen glaubte, mit denen ich mich auf Anhieb verstand, als wären wir seit vielen Jahren vertraut, obwohl ich sie erstmals traf. Auf Tatsachen, welche tief in mein Gedächtnis eingraviert waren, obwohl ich sie nirgends gelesen und mir sie niemand mitgeteilt hatte. Ein dreistrophiges Rilke-Gedicht zum Beispiel, das ich beim zweiten Lesen auswendig konnte. Auf Menschen, die mich wiederzuerkennen glaubten. Von einer ganzen Schulklasse lernte ich jede einzelne Person auf einem anderen Weg kennen, zufällig, und wagte kaum zu fragen: 'was du auch?'. Als hätte diese Schulklasse in meinem Alternativleben eine Rolle gespielt. Als hätte diese hätte-sein-können-Kindheit in meiner ist-so-gewesen-Kindheit eine Art Abdruck hinterlassen.

Eine Art Alternativ-Kindheit. Gibt es das? Ein eigenwilliger Schmuckstein in meiner Schatztruhe, nicht? - Ein Hauch einer Fanny-Price-Variante, kaum greifbar, da gutgemeint, doch am falschen Tonfall gescheitert. Und doch nicht ganz inexistent...


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Jugendtraum

Im November 2013 ging ein Jugendtraum von mir in Erfüllung. Still, schweigend, unspektakulär. Ein einfaches: 'schau an, genau das war mein Traum.'

Der Traum? Ich wohnte damals im Internat in den Bergen, nahm jedes Jahr am kantonalen Literaturwettbewerb teil, und holte regelmässig einen Preis. Es war meine allerletzte Aktion zwischen Ende des Schuljahrs, Internatszimmeraufräumen und Zugfahrt von der einen Welt in die andere. Wenn alles gepackt und geputzt war, zog ich meine rote Reiseschreibmaschine hervor, stellte sie auf den leeren Tisch, spannte einen Bogen Papier ein und begann den Text für den Literaturwettbewerb zu tippen. Erst wenn ich fertig war und eine saubere Abschrift hatte - und verging darüber auch ein voller Tag - erlaubte ich mir zu gehen. Ein halbes Jahr später fand jeweils die Preisverleihung statt.

Die Zeitungsartikel darüber hatte ich stets mit leichtem Befremden, mit einer seltsamen Distanz gelesen (und zuhause in der wilden Familie an die Wand gehängt - wo sie während all der Jahre nie jemand wahrgenommen hatte - aber das ist eine andere Geschichte). Auch die Rektorin der Ursulinerinnenschule hatte sie am Informationsbrett ausgehängt, allerdings des Schulhauses, was eine ganz andere Aufmerksamkeit erzeugt. Sr.Dolores: diese Geste hatte mir mehr bedeutet als der Preis, die Preisverleihungsveranstaltung oder der Zeitungsartikel selbst. Danke, nachträglich.

Gleichzeitig mit mir nahm ein Junge aus der Stadt am selben Literaturwettbewerb teil. Während vieler Jahre gewannen immer er oder ich den ersten Preis. Ich war völlig vernarrt in seine Kurzkrimis. Jeder von ihnen war ein Spiel mit der Ethik des Lesers: klar, da ist das Opfer und da der Täter. Keine Frage, wer schuld ist. Doch eigentlich - ist das Opfer selbst schuld, und der Täter hat ethisch richtig gehandelt. Eine subtile Umkehrung der gängigen Moralvorstellung, welche im katholischen Umfeld des Alpenkantons das feste, betonierte, unumstössliche Fundament der gesellschaftlich anerkannten Lebenshaltung bildete.

Meine Geschichten waren Märchen. Versuche, das Leben zu begreifen. Versuche, ein letztes Mal vor der Abreise in die andere Welt einen Hauch der Verzauberung des Internatlebens festzuhalten.

Nach der zweiten Preisverleihung nahm ich brieflich Kontakt mit ihm auf, und - rasendes Jungmädchenherzklopfen - er antwortete. Es entwickelte sich ein Briefkontakt zwischen meinem Mädcheninternat und seinem kaum hundert Meter davon entferntem Daheim.

Einen weiteren Brief schrieb ich an meine damalige Lieblingsautorin. 'Liebe Luise Rinser', versuchte ich, 'ich bin siebzehn, habe eben meinen zweiten Literaturpreis gewonnen und möchte Schriftstellerin werden. Können Sie mir sagen, wie man das wird?' Und sie, die Grosse aus Rocca di Papa bei Rom, schrieb mir, dem kleinen Mädchen zurück ins Marienheim Gruppe Shalom: 'Lass dir Zeit', schrieb sie. 'Lerne erst die Welt und die Menschen kennen.'

Ich verbrachte jene Winterferien daheim allein mit meiner heroinsüchtigen Schwester und arbeitete an einem Vortrag über Luise Rinsers Gläsernen Ringe. Statt nur dieses Buch zu lesen, las ich mich durch ihr gesamtes publiziertes Werk, fasste zusammen, suchte Querthemen, verglich... froh, der destruktiven Welt meiner Schwester zu entkommen.

Unter meinen Aufsatz über die Heroinsucht meiner Schwester, den ich nach den Ferien als erstes abgab, notierte meine Deutschlehrerin Sr Petra, der mein Luise Rinser Vortrag ausserordentlich gefallen hatte: 'Versuch nicht, modern zu sein. Es steht dir nicht.' - Also: Realität ist nicht erlaubt, weil zu-zeitgemäss und Autorin-zu-jung, Märchen und Flunkereien werden hingegen toleriert, sofern sie Literaturpreis-Qualität haben?

Mein Traum damals war: wenn wir gross sind, wünsche ich mir, dass mein Literaturpreis-Mitstreiter und ich um die Wette Bücher schreiben.

Der Briefkontakt mit ihm dauerte - sehr lose zwar, aber dennoch - bis heute. Der Traum blieb immer als solcher bestehen. Nun hat er sich in aller Stille erfüllt. Ich durfte seiner Buchvernissage beiwohnen, kaum vierzehn Tage nach meiner Terka-Lesung an der Frankfurter Buchmesse. Silvio, ich danke Dir für Deinen spannenden Krimi, und freue mich auf den nächsten. Mein nächstes Buch ist wie immer in Arbeit.


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Die Summe des Lebens

Ich bin der Überzeugung: die Gesamtsumme jedes Lebens ist gleich gross.

Jeder, der diesen Satz hört oder liest, widerspricht mir hier, und meist heftig. Er passt nicht in unsere Zeit, in der die Medien-Gesamtmessage das Gegenteil wieder und wieder zu beweisen sucht, damit viele die Welt retten, ins Räderwek der menschlichen Schicksale eingreifen können. Doch hören Sie erst einmal die Geschichte, auf welcher diese meine Überzeugung basiert!

Es ist die Lebensgeschichte meiner Cousine Georgette. Falsch, Cousine, wir sind nicht miteinander verwandt. Und doch, wenn der Altersunterschied nicht so gross gewesen wäre, könnte man uns als eine Art Geschwister bezeichnen. Ich kannte sie - wirklich näher - kaum mehr als ein halbes Jahr. Ich war damals knapp fünfzehn, sie dreiunddreissig Jahre alt.

Georgette war eines der vielen Kinder der Schwester meiner geliebten Pflegemutter. Sie wuchs in noch viel einfacheren Verhältnissen auf als ich, im französischsprachigen Teil des Schweizer Juras. Pflegemütterchen pflückte sie zusammen mit einem Begleitgeschwister immer wieder aus der Kinderschar und päppelte sie in zwei, drei Wochen Luxusferien auf. Liess sie spüren, dass Leben nicht nur im Rudel stattfinden kann, sondern auch im geschützten Raum einer Kleinfamilie.

Ungefähr im selben Alter wie ich, mit fünfzehn, beschloss Georgette, dass es an der Zeit sei, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Sie entschied sich für eine Ausbildung, die es in ihrer unmittelbaren Umgebung nicht gab, wohl aber am Wohnort unserer Pflegemutter. Eine einfache Handelsschule, nichts Extravagantes. Sie durfte beginnen und wohnte während der Schulzeit bei unseren Pflegeeltern, musste wie ich nur noch in den Schulferien heim ins Rudel.

Georgette war ein ausgesprochen schönes Mädchen. Nicht im Sinne der heutigen Standard-Models klinisch-rein-perfekt-schön, sondern ein selbstsicheres, Glück ausstrahlendes, wohlgebautes Mädchen, das wusste, dass man den Kopf nach ihm drehte. Nicht nur den Kopf, auch Kameras wurden in ihre Richtung gerichtet. Sie zog nach Zürich und begann mit einer Model-Karriere. Bald war sie schweizweit bekannt als das 'Model mit dem weissen Fahrrad'.

Als Starmodel verdiente Georgette sehr rasch sehr viel Geld. Mit fünfundzwanzig Jahren konnte sie daran denken, aus allem auszusteigen und eine Art Frühpensionierung anzutreten. Sie kaufte sich oberhalb Naters bei Brig ein Häuslein mit zwei Ställen (Erdgeschoss) und zwei Zimmern (Obergeschoss). Keinen Luxus. Einfach, bescheidenen, alles aus Holz, ein Daheim am Steilhang, am Fussweg ins Tal. Dort hielt sie ein paar Ziegen, ein Schaf, ein paar Gänse, Hühner, einen Hund, ein paar Katzen. Sie trank die Milch ihrer Huftiere, ass die Eier ihres Geflügels, spann, wob, strickte. Sie experimentierte mit Materialien. 'Ein Pullover aus Katzenhaar ist das beste in einem kalten Winter', fand sie heraus, und 'Nichts schützt besser gegen Wind und Wetter als eine Jacke aus Hundehaar - auch wenn sie immer ein bissche riecht.' - 'Heikel darf man wahrlich nicht sein' fügte sie lachend an. Sie schenkte mir einen Pullover, den sie mit Kaffee gefärbt hatte, und der noch nach vielen dutzend Wäschen immer noch diesen herrlich Duft nach Kaffee hatte.

Auch emotionell lebte sie ihr eigenes, eigenwilliges Leben. Während vielen Jahren hatte sie ein Verhältnis zu einem verheirateten Mann aus Italien. Eine praktische Sache für eine selbständige Frau wie sie: jemand, der da ist, wenn man ihn braucht, aber weit weg ist, wenn man seine Freiheit will. Der einem nicht ins eigene Leben spricht. Er versprach ihr immer wieder, sich scheiden zu lassen, um sie zu heiraten. Natürlich glaubte sie ihm nicht. Doch leere Schwüre gehören zu einer solchen Beziehung.

Irgendwann, vielleicht ein Jahr bevor ich in die Familie kam, beschloss Georgette, malen zu lernen, und nahm bei einem lokalen Künstler Ölmalstunden. Ihr Privatlehrer - verliebte sich Hals über Kopf in diese freie, junge, selbständige und selbstsichere junge Frau, die so anders war als alle, die er kannte. Er wollte mehr. Wollte eine wilde, inspirierende Beziehung, eine Künstler-Partnerschaft. Vielleicht sogar Ehe.

Hermine, unsere Pflegemutter, sah diese instabilen Männerbeziehungen nicht gern. 'Du musst dich besser schützen, Schorscheli', mahnte sie wieder und wieder. Lachend verwarf Georgette diesen Rat ebensooft: 'Ach Mammi, wenn's der Herrgott will, dann fällt mir morgen beim Verlassen des Hauses ein Ziegel auf den Kopf. Leben will ich. Das richtige Leben leben.'

Das letzte Mal, dass ich diesen Dialog hörte, war in meinem ersten Internatsjahr, zwei Wochen vor Georgettes Tod. Georgette dachte nicht daran, ihr vielfältiges Leben zu ändern. Ihr italienischer Langzeitgeliebter jedoch konnte es nicht ertragen, einen Nebenbuhler zu haben. Als er realisierte, dass er dessen Namen nie erfahren, dass sie ihn vielleicht wirkich verlassen könnte, fuhr er ein letztes Mal zu ihr - und erschoss sie und sich.

Umgeben von ihren Tieren, vor ihrem romantischen Holzhäuschen wurde Georgette von einem Wanderer gefunden.

An ihrer Beerdigung, an der ich nicht teilnehmen durfte, weil der Rektor meiner Schule, ein Verwandter von Georgettes Ölmal-Lehrer, mich 'vor diesen negativen Gefühlen schützen' wollte, muss ein sehr wüster Kampf zwischen Pflegemutter und ihrer Schwester stattgefunden haben. War Georgette so früh und unnatürlich gestorben, weil sie als Kind vernachlässigt, oder weil ihr später zu viel Freiheit gegeben wurde?

Ich persönlich sage, sagte schon damals: weder noch. Georgette hat ihr gesamtes Leben gehabt, einfach innert weniger Jahre als andere Menschen. Sie hat die höchsten Freuden und vielleicht tiefsten Tiefen erlebt. Sie hat Geld gehabt und Armut. Sie konnte sich kreativ auf jedem Gebiet, das sie wollte, erfolgreich betätigen. Sie hatte Tiere zu umsorgen, einen eigenen Lebensstil zu pflegen.

Sie hatte sogar eine Freundin, die ihre Biographie schrieb. 'Quand nous étions horlogiens', leider habe ich das Buch nie gefunden und konnte es daher nie lesen. Pflegemutter mochte es nicht. Es sei 'tendenziös'.

Für mich ist die Summe von Georgettes Lebens perfekt. Ihr Leben war - reich. Kurz, aber unermesslich reich. Andere Menschen verstreichen sozusagen gleichviel Butter auf mehr Brot, und ihre Leben wirken schal. Hatten nicht die Chance, ein nationweit bekanntes Model zu werden, aber viele kleine andere Chancen. Oder sind in viel besseren Verhältnissen aufgewachsen, haben aber immer unter Standeskorsetts zu leiden. Können ihr Glück viel früher oder erst viel später geniessen. Unzählige Varianten, eine stets gleiche Gesamtsumme. Aus welchen Verhältnissen ein Mensch auch kommen mag, jeder hat es in der Hand, ein ebenso reiches eigenes Leben aufzubauen und zu leben. Nur: er soll wie Georgette den Moment geniessen. Der Tod kann näher sein, als er denkt.


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Blumen am Wegesrand

Vor ein paar Jahren habe ich mir angewöhnt, stets eines dieser kleinen Knipsgeräte bei mir zu tragen, um Kleinigkeiten, welche mir auf meinem ganz normalen Weg Freude bereiten, fotografisch festzuhalten. Das kann eine Blume sein, ein Schmetterling im Kornfeld, eine witzige Schaufensterdekoration, ein Käfer, eine Wolke... Immer Unspektakuläres. Immer möglichst formatfüllend aufgenommen. Viele dieser Bilder sind inspiriert von meinem Lieblingsfilm Gabbé: Farbe als Bildthema. Diese Photos umhüllt die spezielle Magie eingefangener und paradoxerweise geschickt konservierter reiner Lebensfreude. Bin ich nun wieder bei Opa, Goethe und dem Reinen Anschauen? Ich weiss es nicht. Es macht glücklich.

Ein Reichtum, der - gar nicht erst gemessen werden will.


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