Das Märchen vom kleinen weissen Nichts


Kapitel:


Nirgendwo
Reise
Erstbegegnung
Reise ohne Ziel
Priska
Mädchen
Wieder allein
Kampf
Morgenlied
Flamme
Rückkehr
Daheim

zur Rinaku-Seite

Ein Märchen, geschrieben für den literarischen Wettbewerb des Oberwalliser Schriftstellerverbandes. Es hat den zweiten Preis erziehlt - einen ersten gab es in jenem Jahr nicht.
Inhalt: ein kleines, weisses Nichts, das "irgendwo im Nirgendwo" wohnt und dort an einem "Etwas" webt, um damit Komplimente zu erheischen, geht hinaus in die Welt, um die Liebe zu suchen, und findet diese nach vielen Irrwegen schliesslich genau dort, wo es herkommt. - Eine uralte Geschichte, schon tausendmal erzählt. Und doch...


Im Nirgendwo

Es war einmal ein kleines weisses Nichts, das, wie es bei kleinen weissen Nichtsen so üblich ist, irgendwo im Nirgendwo wohnte. Dort hockte es Tag und Nacht in einer weiten Baumkrone und wob mit den Fäden der Tonleitern, die es zu dieser Arbeit vor sich hin summte, an einem Etwas. Dieses Etwas war schon ziemlich gross und flatterte leicht im Wind. Von Zeit zu Zeit, wenn andere Wesen vorbeikamen, stehenblieben, entzückt in die Hände klatschten und riefen: "Nein, ist dieses Etwas aber schön!", lächelte das kleine weisse Nichts leicht und errötete. Denn dies war es gerade, was es wollte und eifrig sammelte: kleine Komplimente. Und weil es selbst hässlich und weiss war, begnügte es sich eben, wenn die wenigen Besucher des Nirgendwos sein Etwas bewunderten.

Bevor ich nun aber weitererzählen kann, möchte ich die Fragen, die ich in Euren Augen lese, beantworten. Wieso kann das kleine weisse Nichts Tag und Nacht weben? Hat es denn keine Eltern, die es zum Essen rufen, oder es am Abend mahnen, frühzeitig zu Bett zu gehen? - Nun, meine lieben Kinder, Ihr müsst wissen, dass das kleine weisse Nichts Vollwaise war. Seine Eltern waren schon seit vielen Jahren tot, obwohl es doch erst seit ein paar Momenten lebte... Doch das kleine weisse Nichts war nicht traurig deswegen, denn es kannte nichts anderes. Es wusste nicht, dass es so etwas wie Eltern gibt. Denn Nichtsen werden immer als Vollwaisen geboren und sterben, bevor sie Kinder haben. Das ist nun einmal so bei Nichtsen.

Aber wieso war es denn weiss? Wäre nicht ein rotes. grünes oder gelbes, ein getupftes oder kariertes Nichts viel lustiger gewesen? Da, meine lieben Kinder muss ich Euch zustimmen. Aber es war einfach weiss, weil... ja, wisst Ihr denn überhaupt, wieso Ihr farbig seid? Das kommt davon, dass ihr geliebt werdet. Das kleine weisse Nichts aber, das ja keine Eltern und übrigens auch keine Geschwister hatte, wurde von niemanden geliebt. Deshalb war es ganz weiss, von Kopf bis Fuss.

So sass es also in der Baumkrone, summte und wob und wartete darauf, dass die Leute in die Hände klatschten und riefen: "Nein, ist dieses Etwas aber schön!". Denn bei jedem Lob, das ja bekanntlich ein bisschen Liebe enthält, werden Nichtsen ein kleines bisschen farbiger. Natürlich nicht bei jedem gleich viel, denn viele Leute machen ihre Komplimente ja bloss aus Gewohnheit, und nicht sehr viel, aber es reichte jedesmal dazu, dass das kleine weisse Nichts und seine Mitnichtsen es bemerkten.

Lange Zeit verging so, und eines Tages, als schon lange kein Wesen mehr vorbeigekommen war, um seine Arbeit zu loben, wurde das kleine weisse Nichts traurig. "Was ist nur aus mir geworden?", dachte es. Lange sitze ich nun schon hier, summe und webe ich, doch es hat mir nichts geholfen. Noch immer bin ich fast so weiss wie der Schnee und das viele Etwas, das ich in meinem Leben schon gewoben habe, ist alles mit der Zeit verfallen und vom Winde weggetragen worden. Was hat mein Leben für einen Sinn?"

"Oh, natürlich hat es Sinn, oh Nichts!"

antwortete da eine krächzende Stimme. Erschreckt drehte sich das kleine weisse Nichts um und sah ein seltsames, verrückt gefiedertes Wesen. Es war so in seine trüben Gedanken vertieft gewesen, dass es den Ankömmling gar nicht erst bemerkt hatte. Nun schämte es sich seiner Gedanken und wandte sich mit hochrotem Kopf wieder seiner Arbeit zu. - Doch es bemerkte, dass es nicht mehr so harmonische Tonleitern singen konnte, dass der Faden, mit dem es wob, immer wieder riss und neu verknüpft werden musste. Die Worte des Besuchers liessen es nicht kalt. So wandte es sich nochmals um.

Der Hupp, eine den Nichtsen weit aussen verwandte Wesensart, als den es ihn nun erkannte, legte den Kopf schief und blickte es augenzwinkernd an. "Du kleines intelligentes Nichts, was willst du hier im Nirgendwo, wo du nie genügend Liebe bekommen kannst, um farbig zu werden? Geh in die Welt der Menschen, die ist voller Liebe, dass diese sogar im Strassengraben herumliegt und tonnenweise zertrampelt wird! Im Moment ist die Zeit ideal, es ist Frühling, die Säfte steigen, die Wärme kommt, die Liebe beginnt üppig zu wachsen!" - Verwirrt hörte das kleine Weisse Nichts dem Hupp zu, und es stellte sich vor, wie es dort drüben im Nu sein Glück finden würde: statt des mühsamen Zusammenklaubens von zufälligen Geschenken könnte es sich in einem Strassengraben baden - oh nein, dafür war es sich nicht zu schade! - und von satten Farben strahlend würde es zurückkommen und von allen Nichtsen bewundert werden... Trotz dieser so rosigen Zukunft kamen ihm Zweifel, denn es war wirklich sehr intelligent. So fragte es :"Aber, lieber Hupp, wie kann ich ins Menschenland gelangen? Sieh doch, ich bin klein und schwach, der Weg ist weit; ich bin weiss und nackt, es ist kalt und der Wind zehrt. Mit dem Etwas kann ich mich nicht bekleiden, es zerfällt laufend, wie du selbst siehst." - "Kleines Nichts!", erwiderte der Hupp spöttisch, "es zerfällt nur, weil es keinen eigenen Namen besitzt. Sobald du es benennst, wird es halten. und was der Weg betrifft: kein Weg ist länger als der Unwille, ihn zu gehen! Nichts hält ein Wesen mit so grossen Kräften am Ort, wie der eigene Wille zu bleiben." Mit diesen Worten huppte er davon.


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Reise ins Menschenland

Lange überlegte das Nichts. Kein Weg ist länger als der Unwille, ihn zu gehen. Der Unwille war es also, der einen Weg lange machte; Wille würde ihn verkürzen. Und ein namenloses Ding war dem Zerfall preisgegeben, ein Name würde ihm Dauer verschaffen. Schwierig. Schwierig zu akzeptieren, dass alles so einfach war! Sollte es es wagen? Auf einmal erschien ein Leuchten auf seinen von der Gewohnheit beinahe erblindeten Augen, und es begann in einer besonders lieblichen Weise zu summen. Nicht als irgend ein Nichts wollte es aufbrechen, sondern als ein besonders schön gekleidetes. Beim Summen dachte es mit voller Kraft: "Sadin, Sadin, erscheine in der Form eines Kleides für mich. Sadin, Sadin, bilde dich in der Form eines Kleides für mich..." Wirklich, schon spürte es, wie seine Hände beim Weben geführt wurden, wie die Arbeit immer schwerer wurde, es sah, wie das Etwas wuchs und wuchs und Gestalt annahm; und bald erblickte es ein wunderschönes Sadin vor sich, gerade bereit, hineinzuschlüpfen. - Nun zögerte es nicht lange, sprang aus der Baumkrone auf den Boden neben dem Stamm, streifte sich das Sadin über und dachte: "Ins Menschenland!"

Da es sich weder gewöhnt war, ein Sadin zu tragen, noch, die Schützende Nähe seines Baumes zu verlassen, noch, auf festem Erdboden zu stehen, und da alles etwas schnell gegangen war, verlor es für einen kurzen Moment die Besinnung. Es schloss die Augen und hielt sich an der vertrauten Rinde fest. Die vertrauten Gesänge des Nirgendwos verklangen. In der Stille hörte es aus weiter Ferne den Ruf des Hupps:

"Schöne Reise, oh Nichts!"

Konnte es sein, dass es tatsächlich so einfach war?

Als es seine Augen wieder öffnete, sah es. Es sah sich in einer ganz anderen Umgebung. Der lehmig-gelbe Erdboden mit den vereinzelten Grasbüscheln war einem grauen, ebenso ebenen, aber nicht durch Risse zerfurchten gewichen, Grasbüschel fehlten, dafür lagen hie und da farbige Zettelchen und helle runde Punkte von klebriger Konsistenz herum. Die Baumrinde, an der es sich eben noch gehalten hatte, war einer flachen, farblosen, bis weit in den Himmel reichenden Wand ohne Käfergänge und Klettergerüste gewichen. War dies das Ende einer Welt?

Das Ende einer Welt? Erst jetzt begriff das kleine weisse Nichts, dass das Experiment "Reise" auf Anhieb geklappt hatte, dass es das Nirgendwo unwiederbringlich verlassen, das Menschenland betreten, seine Reise angetreten hatte. Staunend schaute es sich um. War sie das jetzt also, die Menschenwelt, von der der Wind hie und da geraunt hatte, in die in alter Zeit mutige Nichtsen ausgewandert waren, wo Helden Glück und Farbe gefunden hatten? Der Boden verlief nicht nach allen Seiten gleich weit; links und rechts blieb er soweit sichtbar flach und eben; geradeaus aber stiess er bald an weite Mauern, auch diese waren himmelhoch und farblos und in regelmässigen Abständen von viereckigen Löchern durchbrochen, die ihrerseits mit verschiedenfarbigen Stoffen ausgestopft waren. Wozu sie wohl dienten? Weit hinten liefen lange, vielgliedrige Wesen ameisenhaft herum, gingen durch die Löcher in die Mauern hinein, kamen heraus, wurden sprunghaft grösser, wenn sie näherkamen, bis sie nur noch riesige Schatten waren, trampelten "bum-bum-bum" am Nichts vorbei und schrumpften ebenso schnell, wie sie gewachsen waren. Menschen? Waren sie das nun, die Menschen?

Und ein Lärm war das hier! Nicht fröhlich oder träumend singend, wie er aus den Baumkronen der eifrigen Nichtsen drang , sondern irgendwie grau. Nicht zu vergleichen mit einem Nichtsenfest, wo gesungen, getanzt, gelacht wurde, bis einem der Kopf sauste! Auch nicht zu vergleichen mit einem Gewittersturm in er Baumkrone, wo man sich am besten so tief wie möglich unter die Rinde verkroch, um nicht ganz nass zu werden, und um dem grollenden Donner zu entkommen. Nein, der Lärm hier war ganz anders. Tosend, wie der peitschende Wind. Aggressiv wie wütender Tanz. Ohrenbetäubend, wie ein lange anhaltendes Donnergrollen. Unruhig, wie die Gespräche der Ameisen. Neid? Missmut? Irgend etwas in dieser Richtung lag in der Luft, nicht das gewohnte miteinander-Wetteifern der Nichtsen in ihren Baumkronen.

Farblos? Kalt? Tot? Zwischen den Menschenwesen und dem kleinen weissen Nichts flitzten hastig röhrende, stinkende Ungeheuer hin und her, die zwar alle Farben trugen, aber in ihrer Art genauso grau waren, wie ihre Umgebung. War die Menschenwelt wirklich so, oder meinte es dies nur, weil alles so anders war?

Und die Liebe, wo war die? Irgendwo versteckt? In einem Strassengraben? Was genau war eigentlich ein Strassengraben? Und welche Farbe hatte die Liebe? Grau wohl weniger, obwohl so wenig Konkretes zu hören gewesen war, in den Geschichten des Windes. Welche dann? Das kleine weisse Nichts dachte an seinen Heimatbaum und beschloss, es erst einmal mit Grün zu versuchen.


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Die erste Begegnung

Herzklopfen. Erst jetzt merkte es, dass es schon die ganze Zeit wie gebannt auf das einzige nicht-vorwiegend-graue Ding starrte, das in seiner Nähe stand. Es war noch grösser als die Menschen, breiter, hatte zwei grosse Augen vorne und vier runde Füsse, die nicht aufhörten, sich abzurollen. Es puffte und hustete wie ein betrunkener Hupp am Nichtsenball - vielleicht erzählte es in einer dem Nichts unbekannten Sprache eine Geschichte. Für das Nichts tönte es nur nach "rööööm-rööööööm-rööm". Aber sein Panzer war grün! Das kleine weisse Nichts hüpfte in die Luft und klatschte in die Hände. Mit dieser Farbe erinnerte es das Ding an seinen Heimatbaum!

Ja, statt dazustehen und nichts zu verstehen, wollte es lieber auf diesen grünen Panzer klettern und dem Wesen Fragen stellen! Es wartete, bis dieses neben ihm stand, und sprang behende auf. Ein paar Töne lösten sich aus seinem Sadin, doch es hatte keine Zeit, dies zu bemerken. Denn jetzt ging's ans Klettern! Der Panzer war glatt und der Gegenwind stark. Am Hinteren Ende besass das Wesen einen Schwanz, der ganz heiss war und eine Rauchfahne entliess. Es roch nicht sehr angenehm - insbesondere sehr ungewohnt. Auf Ansprechen reagierte es weder am vorderen noch am hinteren Ende. Die Augen leuchteten, aber bewegten sich nicht, wenn man in sie blickte.

Da erinnerte sich das kleine weisse Nichts, dass man sich erzählte, die Menschen hätten Fahrzeuge, die ganz alleine fuhren. Es suchte eine Öffnung im Panzer, durch die es lugen konnte. Tatsächlich fand es eine am hinteren Ende. Ein dunkler Raum öffnete sich. er roch nach Lebendigem, nach Schweiss und Bier - aber auch nach verbrannten Blättern. Und nach Unbekanntem. ein bisschen nach Fest, ein bisschen nach all diesen neuen Sachen hier in der Menschenwelt. Das kleine weisse Nichts hüpfte in den Raum hinein. nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte es eine Handvoll dieser Menschen, die aus der Nähe so riesig aussahen, so bedrohlich. Seltsame Gestalten waren es: Riesig lang und schlank, von Kopf bis Fuss in farbiges Etwas gehüllt und besassen zwei untere Enden! Ihr Kopf war sehr klein und starr auf ihren beiden unteren Enden gesenkt oder hatten ihren verhältnismässig kleinen Kopf zurückgelehnt und schnarchten mit offener Summöffnung. Ihre Webinstrumente waren aussergewöhnlich lang. Einige hielten ein kleines, weisses, immer kleiner werdendes Stengelchen darin, das sie immer wieder zur Summöffnung führten, um es an seinem Ende zum Orange-Leuchten zu bringen. daher also kam der Duft nach verbrannten Blättern. Das weisse Stengelchen wurde immer kleiner und einer der Menschen warf es gerade eines auf den Boden und zerdrückte es mit dem einen seiner beiden unteren Enden. - Eisige Stille herrschte im Raum. Wieso summte niemand? Oder sprachen sie in einer Sprache, die das kleine weisse nichts nicht hörte?

Eine Weile lang schaute sich das kleine weisse Nichts um und staunte. Dann lief es in den Raum hinein, an den am Boden liegenden Stengel-Enden vorbei, auf das danebenstehende menschliche Gehinstrument zu, und kletterte am grünen Sadin des Menschen, den es eben beobachtet hatte, empor. Der Stoff war rauh, haarig und ganz tonlos, die Naht war von dunklerer Farbe und von anderem Gewebe. Spritzer von nassem Lehm klebten im Stoff und erleichterten den Aufstieg. In der Körpermitte hörte das Sadin auf und ein anderes begann, von denselben Farbe und Geweben. Es kraxelte mühsam auch diesen oberen Körperteil hinauf und plumpste schliesslich erschöpft in eine kleine Etwasnische, die gerade so gross war, dass es sich ohne Atemnot bewegen konnte. Daskleine weisse Nichts seufzte tief. So viel neues an einem einzigen Tag! jetzt wollte es erst einmal schlafen, alles andere würde sich morgen klären.

Von heftigem Schütteln wurde es schliesslich geweckt. Als es gähnend und augenreibend den Kopf aus der Etwasnische des Menschenwesens steckte, die frische Luft schnupperte und in die warme Sonne blinzelte - so anders als im Nirgendwo war es hier also doch nicht - bemerkte es, dass das Wesen an einem herrlichen Waldrand sass, wo viele dem Nichts unbekannte Vogelarten ihre Gesänge zum Besten gaben, wo Grillen um die Wette zirpten, wo sich Blumen in ihrem Sonntagskleid zeigten. "Es wird wohl gleich mit Singen und Weben beginnen", dachte das kleine weisse Nichts. Dann aber bemerkte es, dass die Augen des Menschenwesens den Horizont absuchten und seine Hand um einen schwarzen Stock geklammert war. Das Wesen hockte nicht in einem Baum oder auf der Wiese, sondern in einem Erdgraben. Die Haare über seinen Augen waren dick und buschig und warfen einen Schatten auf die Augen. Die Summöffnung war kaum zu erkennen, da war eigentlich nur ein Schlitz. "Vielleicht sucht es mich?" fragte sich das kleine weisse Nichts. "ich muss ihm zeigen, dass es nicht alleine ist." Eifrig sprang es auf die Hand des Wesens, die nicht um diesen seltsamen schwarzen Stock geklammert war. "Hallo," piepste es, und war eigentlich selbst sehr froh um Gesellschaft in dieser ungewohnten Umgebung, "dir scheint nicht ganz wohl zu sein. Aber du bist jetzt nicht mehr alleine, ich bin bei dir. Wir können zusammen viele lustige Dinge unternehmen, wenn du willst. Ich bin ein kleines weisses Nichts, und du?"

Irritiert wandte sich das Wesen ab und schüttelte die Hand, als ob ein lästiges Insekt darauf sässe. Das Nichts liess sich nicht abschütteln. Es kletterte den Ärmel hinauf und hockte sich rittlings auf die Schulter. Noch einmal versuchte es, mit dem Wesen in Kontakt zu kommen. Vergeblich. Auch im Ohr war nichts zu wollen. Der Versuch auf der Nase war schon erfolgreicher. Das Wesen hielt sich die Hand vors Gesicht und musste schrecklich niesen. Um nicht herunterzufallen, hielt sich das Nichts an einem Finger fest, wartete die Niessalve ab und meldete sich entrüstet: "Na, siehst du mich nun endlich?" - "Natürlich sehe ich dich, ich bin ja nicht blind. Aber ich bin ein Soldat im Dienst, und für 'viele lustige Dinge' bin ich zu alt. Ich habe hier zu tun. Du lenkst mich ab, der böse Feind bedroht unser Land und wird eindringen, wenn ich nicht dafür sorge, dass er wegbleibt." Zur Demonstration erhob er seinen schwarzen Stock und machte einen Knall und eine grosse Rauchwolke. "Kleine weisse Nichtsen gibt es übrigens nicht. Entweder, du bist etwas, oder du existierst nicht. Ein Nichts sein ist unmöglich." - "Mich gibt es aber!" gab das kleine weisse Nichts kleinlaut zurück. Es versuchte dem Soldaten klarzumachen, was es mit Nichtsen auf sich hatte und was es in die Menschenwelt geführt hatte, doch der reagierte schon nicht mehr. Wer glaubt schon daran, dass ein Wesen existieren kann, das ein Nichts ist? Und überhaupt, die Sonne schien so heiss, er hatte sich das ganze gewiss nur eingebildet... Der Soldat richtete seinen suchenden Blick wieder in die Ferne und kniff seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Er war im Dienst.

Das kleine weisse Nichts versuchte im Laufe des Tages noch oft, mit ihm zu reden, kletterte ihm aufs Kinn und zog ihn am Schnurrbart, schrie ihm ins Ohr, kitzelte ihn, all dies nützte nichts. Er züpfelte seinen Schnurrbart wieder zurecht, sobald das Nichts aufgehört hatte, wischte seine Spur von seiner Hand, räumte hinter dem Nichts auf. Die Versuche des Nichts sahen ziemlich sinnlos aus.

Doch am Abend, als der Soldat auf seinem Strohlager lag und einzuschlafen versuchte, da kam dem kleinen weissen Nichts eine Idee: Es zupfte aus dem in allen Tonarten schillernden Sadin ein paar Töne heraus, legte sie dem Soldaten sorgfältig in die Ohrmuschel und blies sie ihm ins Ohr.

Mit einem heftigen Ruck setzte sich der Soldat auf und blickte mit grossen Augen in die Finsternis. "Hast du nun Zeit?" fragte das Nichts. "Stör mich nicht! Da war doch eben ein Geräusch Etwas wie Metall auf Metall und Wind. War das Freund? War das Feind? Auf jeden Fall ungewöhnlich." Nach einer Weile in-die-Stille-Horchen legte er sich wieder hin. "Einbildung..." brummte er und schüttelte den Kopf.

Das kleine weisse Nichts gab natürlich nicht so schnell auf. Es wartete eine Weile und zupfte dann wieder ein paar Töne aus dem Sadin. Diesmal stellte es sie zu einer hübschen Melodie zusammen, bevor es sie dem Soldaten in die Ohrmuschel blies. Wieder setzte sich der Soldat sofort auf, aber diesmal knipste er seine Taschenlampe an. "Musik? Woher Musik um diese Zeit?" Das kleine weisse Nichts nahm sich nicht die Zeit zu antworten. Es rannte ihm über die Schulter, den ganzen langen Arm entlang, auf die Taschenlampe und hüpfte in den Lichtstrahl. Wie wild winkte es mit seinen Webinstrumenten. "Ich war es, Soldat, entschuldige. Aber sieh mich doch wieder!" flehte es. - "Natürlich sehe ich dich, schon den ganzen Tag. Ich muss wohl verrückt geworden sein, denn so etwas wie dich gibt es doch gar nicht!"

Er legte sich wieder hin, hielt aber diesmal die Augen geöffnet. Eine winzige Träne wollte ihm aus dem Auge schlüpfen, aber er wehrte sich dagegen. Ein kleiner Kampf entfachte sich zwischen der Träne und ihm. Als sie schliesslich doch über seine Wange rollte, flüsterte sie dem kleinen weissen Nichts zu: "Lass dich nicht irritieren durch seine Härte, er kann auch ganz anders sein..."

Eine lange Weile schwieg er, als überlege er sich etwas, und das kleine weisse Nichts fürchtete schon, dass er es wieder vergessen würde, doch dann nahm er es in die Hand, knipste die Taschenlampe aus, legte sich wieder hin und bat es: "Das war eben eine schöne Melodie. Spiel mir noch eine solche vor!" Dem kam das kleine weisse Nichts gerne entgegen. Es zupfte Töne aus dem Sadin und begleitete die entstehende Melodie durch Summen. Während seines Spiels holte der Soldat tief Atem und begann zu reden. Es tat ihm gut, dass ihm wieder einmal jemand zuhörte, das war schon so lange nicht mehr vorgekommen. Er erzählte dem Nichts, was seine Töne in ihm geweckt hatten: Wie gerne wäre er als Kind Musiker geworden! Doch sein Vater hatte es für besser gefunden, dass sein Sohn sein täglich Brot auf eine vernünftige Art verdienen und einen Beruf mit Zukunft ergreifen würde. So hatte er sich eben entschieden, ein Held zu werden, war Soldat geworden und in den Krieg gezogen. Krieg würde es immer wieder geben, hatte sein Vater ihn unterstützt, und wer im Krieg bestand, bestand im Leben.

Der Krieg... Wieder seufzte der Soldat tief, drehte sich auf die andere Seite und schlief ein. Fast erdrückte er dabei das kleine weisse Nichts. Aber das spielte schon wieder keine Rolle mehr für ihn, denn er glaubte schon nicht mehr daran, dass kleine weisse Nichtsen lebendige Wesen sein konnten.

Auch am nächsten Morgen glaubte er nicht wieder daran, als er sich beim Rasieren in die Wange schnitt und ihm das kleine weisse Nichts einen Ton des Sadins darüberklebte. Der Tag war heiss, es gab viel zu beobachten, seine Stellung war eine strategisch wichtige, wehe, wenn der Feind sich blicken liess, dann musste er sofort handeln und auch Meldung erstatten.

Erst am Abend, als er, wieder im schmutzigen Graben hockend, annehmen konnte, dass die Lage bis am nächsten Morgen stabil bleiben würde, griff er zögernd in seine Brusttasche und nahm das kleine weisse Nichts heraus. Irgend etwas Unverständliches brummte er dabei.

Lange betrachtete er das kleine weisse Nichts in seiner Hand und sagte dann: "Vergiss, was ich dir gestern von wegen Musiker gesagt habe. Eigentlich wollte ich nie so richtig Musiker werden, sondern immer lieber etwas Richtiges tun... und diese Aufgabe hier ist etwas Richtiges. Und sie ist wichtig. Wenn der Feind einbricht, müssen wir uns wehren. Er ist in der Überzahl, aber wir sind wendiger und geschickter. Wir werden uns gut verteidigen! ... aber du, was suchst du hier im Krieg?" - Das kleine weisse Nichts, das glaubte, 'Krieg' sei ein anderes Wort für die Menschenwelt, verstand zwar nicht alles, doch das würde sich geben. Es begann zu erzählen. Von seinem Heimatbaum, vom Hupp, von seiner Körperfarbe, die es nur durch Liebe, was auch immer das sei, bekommen könnte, von seiner Reise ins Menschenland, die es unternommen hatte, um diese Liebe zu suchen, von seinen ersten Enttäuschungen und schliesslich von seiner Hoffnung, er, der Soldat könne ihm helfen.

Der Soldat kratzte sich am Kopf. Liebe ... mit solchen Dingen kannte er sich nicht so richtig aus. "Vaterlandsliebe," hatte man ihn gelehrt, "ist die wichtigste Bürgerpflicht", und "süss ist es, für's Vaterland zu sterben". Er hatte eine gute Prüfung geschrieben und seine Arbeit war öffentlich vorgelesen worden. Also versuchte er sich, nach den vielen Worten des Nichtses auch mit einem Referat: Lieben bedeutete, das Geliebte zu verteidigen. Das Geliebte müsse nicht unbedingt ein Mensch sein, besser noch sei eine Menschengruppe, eine Familie, eine Firma, ein Staat von Menschen, ein gutartiger politischer Zusammenschluss, den es zu sichern gäbe. Liebe sei eine Form von Hingabe und müsse dieser Gruppe Nutzen bringen. Seine persönliche Liebe - wenn es gestattet sei, dies zu erwähnen - gelte dem Heimatland und sei gross, wenn auch nicht gross genug, er sei noch am Lernen. Deswegen sei er im Krieg, an einer strategisch so wichtigen Stelle. Um ständig der Probe standhalten zu müssen. Wenn den Feind käme, wäre er dann bereit zu sterben? Die Antwort eines wirklich selbstlosen Soldaten musste zu jedem Zeitpunkt ein klares "Ja" sein! Was es, das "Nichts" betreffe - er betonte das Wort, als ob dies nur eine vorläufige Bezeichnung sei - vielleicht lerne es ja auch noch, dass dies das erstrebenswerte Ziel sei, vielleicht färbe diese Liebe ja ab, nein, gewiss werde die Liebe abfärben, und das kleine weisse Nichts konnte, wenn es brav beim Soldaten bliebe und ihn nicht mehr störe, zu seiner Körperfarbe kommen.

Das kleine weisse Nichts überlegte. Es war nicht mehr ganz sicher, ob "Krieg" wirklich das gleiche bedeutete wie "Menschenwelt", aber eines begriff es: Der Soldat glaubte, sein Leben lassen zu müssen für sein Heimatland (wer auch immer das sei). Beim Wort "Heimat" dachte das kleine weisse Nichts an seinen Baum. Was würde es diesem nützen, wenn es für ihn sterben würde? Könnte er etwa besser blühen, wenn es nicht mehr bei ihm wäre? Würden im Sommer seine Früchte schneller reif? Konnte er die Traurigkeit der Herbstnebel und die Kälte des Winters besser überstehen? Nein, eher im Gegenteil, denn dann würde er kein Nichts mehr haben, dessen Gesang er lauschen könnte. Er würde einsam und traurig sterben. Also war es denn Liebe, wenn es für ihn sein Leben lassen würde? War es für seine Mitnichtes Liebe, wenn es das Leben für sie lassen würde? Das Nichts schüttelte zögernd den Kopf. Also war es auch beim Soldaten nicht Liebe. Was war es dann? Und was hatte das ganze mit Musik und einem sinnvollen Broterwerb zu tun? Nein, wenn der Soldat so dachte, war es am falschen Ort.

Es blieb noch einige Tage bei ihm, sprach mit ihm über alles Mögliche, liess sich von ihm belehren, hörte Taggedanken und Nachtgedanken, hatte aber beständig das Gefühl, etwas zu suchen, ohne zu wissen was. Eines Abends, als der Soldat früher als sonst in die Hütte zurückgekehrt war und einmal mehr Nachtgedanken vor sich hin sprach, während er sich umständlich daran machte, sein Essen auszupacken, brummte er ihm zu: "nun sag doch endlich, was du bist!" - "Ich hab's dir doch gesagt, ein kleines weisses Nichts!" - "Nichtsen gibt es nicht." - "Doch, natürlich gibt es uns. Ich kenne noch viele, viele Nichtsen!" gab das kleine weisse Nichts stockend zurück, erstaunt, dass jemand an seiner Existenz zweifeln konnte. Ein Brummen ertönte. Nach einer Weile kam die Antwort: "Also gut, dann erzähl mir einmal etwas von deinen Eltern!" Das kleine weisse Nichts wusste genau, dass sich in seinem Bekanntenkreis niemand an seine Eltern erinnerte, so wenig wie es selbst und versuchte dem Soldaten klarzumachen, dass es wie alle seine Mitnichtsen als Vollwaise geboren sei. Doch der reagierte schon nicht mehr. Wer glaubt schon daran, dass ein Wesen existieren kann, ohne dass es jemals Eltern gehabt hatte?

Das kurze Gespräch verstummte.

An diesem Abend ging das kleine weisse Nichts traurig davon. Wenn es hier nicht finden konnte, was es suchte... vielleicht gab es einen andern Ort, dachte es sich. Es hätte gelernt, was es brauche, verabschiedete es sich, nun müsse es weiterziehen. Er gab ihm noch ein paar gutgemeinte Ratschläge mit auf den Weg. Nur nichts Unbekanntes näherkommen lassen. Und niemandem einfach so vertrauen. Sich nicht ablenken lassen vom eigenen Weg. Sich an Vorbildern orientieren, die allgemein anerkannt sind.


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Eine Reise ohne Ziel

Das kleine weisse Nichts vergass viele Ratschläge schon kurz nachdem es sie gehört hatte und machte sich davon. Auf seinem einzelnen Bein schlängelte es sich vorwärts, vom Strohsack, aus der Hütte, übers Feld. Es sah die rotgoldene und tiefrote Sonne, die ihre Farbe stetig veränderte, während sie am Horizont verlöschte, und die ersten silbernen Sterne, die an Leuchtkraft gewannen. Es wanderte, liess sich vom Punktemuster leiten und von den Steinen auf dem Weg. Der hellste Punkt, den es sich zum Führer gemacht hatte, verschwand bald hinter einer Wolke, bald hinter einer der gigantischen Baumkronen. Es wanderte zunächst der Grenze entlang, dann gegen den Wald hin, wanderte und wanderte, ohne Ziel, ohne Zeitgefühl. Die Nacht brachte auch eine ungewohnte Kälte mit sich.

Als der Führer-Punkt endgültig aus den Augen verloren hatte, hob es zum ersten Mal den Kopf. Da, nicht weit von ihm entfernt hockte ein Vögelchen. Das kleine weisse Nichts näherte sich ihm, und da es keine Anstalten machte, es abzuwehren, kletterte es seine Schwanzfedern empor und nistete sich im seinem Gefieder ein. Die Daunenfedern waren weich und luden ein, sich in sie einzukuscheln. Leise summte es sich in den Schlaf. Als das Vögelchen davonflog, musste sich unser kleines weisses Nichts festhalten, um nicht aus seinem neuen Gefährt zu rutschen. Erst, als es seine Fingerchen in die Federn krallte, wurde es sich bewusst, dass dies seine erste Reise ohne Ziel war.

Nach einem langen, beschwerlichen Flug mit immer mehr Zwischenhalten wendete das Vögelchen den Kopf und piepse dem Nichts zu:" Nun kann ich aber wirklich nicht mehr!" Es hatte natürlich bemerkt, dass es einen Reiter zu tragen hatte und hatte voller Stolz all seine Kraft dazu aufgewendet, die unausgesprochenen Wünsche des Nichts zu erfüllen. Es war ja auch das erste Mal in seinem Leben, dass es ein Nichts zu tragen hatte. Denn im Gegensatz zum Soldaten hatte es das Nichts als solches erkannt und glaubte an seine Existenz. Und welches Vögelchen, das auch nur ein bisschen Verstand hat, lässt sich eine solche Gelegenheit entgehen?

Das Nichts erwachte und verstand, dass die Kräfte seines "Reitvogels" erschöpft waren. Es kam sich schlecht vor und schenkte dem fliegenden Gefährt ein paar seltene Töne aus dem Sadin, damit dieses ein Leben lang ein eigenes Lied zu trillern haben würde.

Man trifft es heute übrigens noch oft an, dieses Vögelchen mit seinem eigenen Lied, und es werden unzählige Märchen darüber geschrieben, wie es dazu kam. Aber wir, die wir das Geheimnis nun kennen, behalten es fest für uns.
...denn welcher einigermassen vernünftige Mensch glaubt schon daran, dass Nichtsen lebendige Wesen sind und in unsere Welt kommen können?


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Priska mit dem Osterglockenlachen

Unser kleines weisses Nichts stand nun am Rande eines Kieswegs im grossen Stadtpark. Es war ein sehr schöner Park und viele Tiere zankten sich spielerisch durchs Leben. Blumen, viele davon nach Farben sortiert, reckten sich der Sonne entgegen, und auf der Wiese spielten oder nickerten diese grossen Wesen, wie der Soldat eins gewesen war. Andere solche Menschen schlurften durch die Wege oder sassen missmutig-grüblerisch auf Bänken. Das Nichts fragte sich, welche Krankheit wohl unter ihnen wütete sei, dass sie so wenig sangen oder lachten, doch es kam nicht dazu, eine Antwort zu suchen, denn schon kam ein Menschenwesen in hellblauem Gewand auf es zu. Es spazierte über die Wiese, bückte sich hie und da, um eine Blume oder einen Grashalm zu pflücken, daran zu schnuppern und sie umständlich in die andern zu ordnen, die es in seinem freien Webinstrument trug.

Gedankenverloren schaute das kleine weisse Nichts ihm zu. Da blieb das Menschenkind vor ihm stehen und hielt an. Diesem klopfte das Herz bis zum Halse. "Ob es mich wohl sieht?" fragte es sich erwartungsvoll. Denn bei diesem Menschenwesen hatte es ein besseres Gefühl als beim Soldaten. Da wurde es vom grossen Webinstrument des Menschenwesens aufgenommen. Es hörte ein Lachen, das wie das Läuten von Osterglocken klang und kurz darauf eine hohe, singende Glockenstimme: "Was haben wir denn da für eine seltsame Blume? Sie hat keinen Stiel, keine Blätter und die Blüte sieht aus wie ein weisses, vollgefressenes Komma aus der Zeitung! Die gehört sicher zu den ganz seltenen Gewächsen! Wer weiss, vielleicht ist es eine Art Käfer ohne Beine?"

Ängstlich machte das kleine weisse Nichts seinen Mund auf und wollte etwas sagen, doch es musste ihn nochmals schliessen, um der Kloss, der in seinem Halse sass, hinunterzuschlucken. Dann gab es sich einen Ruck und stellte sich vor: "Hallo Menschenwesen, ich bin nicht eine Blume und auch kein Käfer, sondern ein Nichts und komme aus dem Nirgendwo." Wieder ertönte dieses Osterglockenlachen. Das Nichts wusste nicht, was es falsch gemacht hatte und schwieg.

Nun schloss sich die Hand, in der es sass, und unser Nichts wurde hin- und her- und auf- und abgeschüttelt. Offensichtlich wurde es fortgetragen. Als es schon nicht mehr wusste, wo oben und so unten sei, öffnete sich das Gefängnis und das Gesicht mit dem Osterglockenlachen blickte das Nichts an. Ein Wortschwall ergoss sich aus seinem Mund: "So, jetzt sind wir alleine. nun kannst du erzählen, wieso du wieder da bist. Ich hätte dich kaum wiedererkannt. Wieso musst du nur immer wieder so verrückte Gestalten annehmen! Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben, verstehst du? Ich habe doch seit einiger Zeit keine Kleine Weissen mehr genommen... Und wieso suchst du mich hier, an einer so auffälligen Stelle? Immer machst du mir Schwierigkeiten ... Und wie hast du gewusst, dass ich hier bin? Hier kennt mich doch noch niemand. Hier weiss niemand, dass ich anders bin als die andern. Du bringst mir nur Scherereien. Was willst Du heute?"

Das Nichts begriff kein Wort. Vom Wortschwall völlig überrumpelt, begann es, als es endlich zu Wort kam, zu erzählen. Dass es ein Nichts aus dem Nirgendwo sei und auf der Suche nach Körperfarbe in die Menschenwelt gelangt sei, die - zumal es Frühling sei - voller Liebe sei. Dass es einen Soldaten getroffen habe, dass dessen Vaterlandstreue nicht das richtige für es sei, offensichtlich gäbe es mehrere Arten von Liebe, das habe es vorher nicht gewusst. Der Hupp habe es hierher geführt und sonst niemand. Die Geschichten vom Vögelchen liess es vorerst einmal aus.

Das Osterglockenwesen unterbrach es immer wieder mit seinem einzigartigen Lachen und zum Schluss gluckste es: "Also Phantasie hast du schon, das muss man dir lassen. So in allem Ernst solchen Blödsinn zusammenzuschwatzen! Ein Mädchen wie die verrückte Priska um Liebe zu bitten, um farbig zu werden! Liebe gibt es nicht und wenn, dann bringt sie Geld oder Kinder, aber sicher nicht Farbe!..."

So und ähnlich machte sich das Priskawesen mit seinem Osterglockenlachen über das kleine weisse Nichts lustig. Und nach einer Weile schwenkte es um auf gute Ratschläge: "Du bist allein, deshalb kommst du auf solche absurden Gedanken. Schliess dich einer Gruppe an, amüsier dich, lache, singe, tanze mit ihnen, vergiss deine Flausen. Das Leben ist kurz, geniesse es!" Viele Unverständlichkeiten in dieser Richtung folgten. "Sei wie alle, dann wirst du akzeptiert!" Doch das kleine weisse Nichts hörte schon nicht mehr zu. Denn eben schoss ihm ein Wortfetzen durch den Kopf. ...was hatte der Hupp damals gesagt? Die Liebe liege sogar im Strassengraben herum. Also war sie nicht an ein Menschenwesen gebunden. Also musste es nur einen Strassengraben finden. Es wusste zwar nicht genau, was ein Strassengraben sei, doch es hoffte, es würde ihn dann im richtigen Moment schon finden.


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Noch eine Begegnung

Von der weitersprechenden verrückten Priska unbemerkt schlich es sich davon. Es irrte den ganzen Tag im Stadtpark umher, hatte aber vorerst nicht mehr den Mut, einen Menschen anzusprechen. Ein zweiter Wortschwall in dieser Art war nicht das, was es besonders lockte. Ein frecher Spatz, den es gefragt hatte, was ein Strassengraben sei, hätte ihm geantwortet, dass er wisse, was Brotkrume sei und was Kieselsteine, und weiter kümmere er sich nicht um die Angelegenheiten der Menschen. Und die Blumen hatten zumeist stolz weggeblickt, wenn es sie angesprochen hatte. Dämmerung legte sich langsam über die Stadt. Die Menschen verliessen nacheinander den Stadtpark, und die Tiere suchten sich ein Eckchen zum Schlafen. Das kleine weisse Nichts sehnte sich nach seinem Heimatbaum, der zu dieser Stunde hin- und hergewiegt hatte, damit es besser arbeiten konnte. Es versuchte zu summen wie im Nirgendwo, aber seinem Mund entwich statt einer lieblichen Melodie ein so klägliches Wimmern, dass sich ein paar Töne aus dem Sadin lösten und zu Boden fielen. Entsetzt blickte es an seinem löchrigen Kleid hinunter und fragte sich zum ersten Mal, was geschehen würde, wenn es keine Töne mehr haben werde.

Ein Rascheln riss es aus seinen Gedanken. Wieder bückte sich ein Menschenkind und tastete mit den Fingern den Boden ab. Das Nichts, das nach der Begegnung mit Priska nicht wieder das Bedürfnis hatte, von einem Menschen gesehen zu werden, sprang auf die Seite, um der Hand auszuweichen, landete unglücklicherweise auf der anderen, die sich sofort um es schloss. Es wurde aufgehoben und vor ein fröhlich lachendes Gesicht gebracht. Aus Angst, ein weiteres Mal nicht ernst genommen zu werden, begann es zu zittern.

Diesmal hatte es mehr Glück: das Mädchen, zu dem das Gesicht gehörte, erkannte es nämlich sofort als ein Nichts, denn es hatte vor Jahren, als es noch ein Kind gewesen war, ein solches getroffen, war aber damals zu klein gewesen, um dessen Bitte zu verstehen. Es hatte sich die Begegnung tief eingeprägt und sich immer wieder überlegt, wie es beim nächsten Mal reagieren solle. Denn ein nächstes Mal, davon war es fest überzeugt, würde gewiss kommen. Verschiedene Antworten gingen ihm deshalb jetzt durch den Kopf. Kinderantworten, Jungmädchenantworten, Schönwettervariante, Herbstnebelvariante, Variante lass-doch-man-kann-eh-nichts-tun. Welche war die richtige?

Vorsichtshalber bat es das kleine weisse Nichts, erst einmal seine Geschichte zu erzählen. Dieses hob an und begann mit der Schilderung seines Heimatbaumes im Nirgendwo, mit dem Wind, der von den rosigen Aussichten geraunt, mit dem Hupp, der ihm die praktischen Dinge gesagt hatte. Es erzählte von der leichten Reise aus dem Nirgendwo hierher, vom Soldaten, vom hilfreichen Vögelchen und endete schliesslich mit dieser Priska und mit dem vorwitzigen Spatz.

Gespannt lauschte das Mädchen den Ausführungen des Nichts, und schliesslich sagte es: "Du armes kleines Nichts! Aber nun hast du Glück gehabt, dass du gerade mich getroffen hast. ich kann dir so viel Liebe geben, wie du willst - nimm sie einfach!" Es erzählte von seiner eigenen heilen Kindheit, von Mama und Papa, die ihm jeden Wunsch von den Lippen gelesen hatten, und die ihm alles geschenkt hatten, was es wollte. Es habe gelernt, den richtigen bittenden Blick aufzusetzen. Das Mädchen ereiferte sich darin, dem kleinen weissen Nichts zu zeigen, wie man es machte, bittend, flehend, gequält, schmollend zu blicken, alles vor dem Spiegel gelernt, und beide lachten über die Grimassen. Dann erzählte es von seinem Freund, der auch schon lernte, auf solche Gesichter zu reagieren, und wie einfach es sei, Königin zu sein. Von diesem Freund, fügte es an, erhalte es genügend Liebe, richtige, menschliche Liebe, das kleine weisse Nichts könne sich bald selbst davon überzeugen, denn er werde jeden Moment zur Abmachung kommen. Die beiden flüsterten noch eine Weile, bis ein Schatten näherkam und das Menschenmädchen das Verabredungszeichen pfiff.

Ein schöner Freund, wie das kleine weisse Nichts schnell merkte! Wesentlich älter als das Mädchen, gut gekleidet und mit einem viel zu sicheren Gang. Ja, er war sich seiner zu sicher, das war es, was das kleine weisse Nichts störte. Als er nun seine Freundin in die Arme nahm, war das nicht, weil er sie liebte, sondern, weil er die Welt verachtete. Wenn er ihr Versprechungen machte, dann nicht, weil er um sie warb oder weil ihr etwas geben wollte, sondern, weil er zu vergessen suchte. Er war offensichtlich stolz auf dieses einfältige Mädchen, das seinen schönen Worten so leicht auf den Leim ging. Er stürzte sich auf es, zog es zu Boden, verschlang es. Bald schon wälzten sich die beiden auf der Erde, als gäbe es nur sie auf der Welt.

Eine Weile lang wartete das kleine weisse Nichts neben den Liebenden, doch als es einmal von diesem Freund zur Seite geschoben und beinahe zerdrückt wurde, machte es sich aus dem Staube. Nein, sah es ein, auch dies war nicht die Liebe, die es suchte. Obwohl es noch immer nicht wusste, was Liebe denn nun genau war, ahnte es, dass diese Form zwar eine ungeheure Macht haben musste, aber trotzdem nicht das war, was der Wind geraunt haben musste. Egoismus zu zweit? Machtkampf? Ein Miteinander-Ringen? Gefühle, die zwei Wesen füreinander empfinden mussten, von denen jedes in kürzester Zeit so viel wie möglich vom andern profitieren wollte. War es das, was es suchte?


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Wieder allein

Das Nichts fühlte sich elend. Langsam begriff es, dass Liebe und Zeit zwei Dinge waren, die zusammen gehören mussten, um so gross zu werden, wie sie gedacht waren. Doch die Menschen, die hatten offensichtlich nie Zeit, im Gegenteil, sie meinte immer, diese überall sparen zu müssen. Also würde das kleine weisse Nichts noch lange im Land dieser lieblosen Menschen bleiben müssen, um zu seiner Körperfarbe zu kommen...

Doch als es sich an den Grund seiner Reise erinnerte, kam es sich selbst auch ein wenig schäbig vor. Auch es hatte immer nur einseitig gedacht. nun aber spürte es etwas in sich wachsen, das es noch nicht kannte: der Wunsch, die Liebe auch einmal erleben zu können und auch jemanden zu lieben. Ganz von Ferne meldete sich dieser Wunsch, diese zarte kleine Pflanze, doch sie wuchs und wuchs.

Wo aber konnte es in dieser Welt diesem nachgehen? Es machte in Gedanken noch einmal seine ganze bisherige Reise und rief sich alle Gespräche und Ratschläge in Erinnerung, die es gehört hatte. Welchen dieser Menschen wäre es anders begegnet, wenn es diesen Wunsch schon früher so deutlich gespürt hätte? Dem Soldaten? Nein, dem nicht. Der hatte seine Ideale und Träume geopfert, seine Traum-Zukunft vergessen, nur, um sich einer Welt anzuschliessen, die von ihm den Tod erwartete und an die er selbst nicht glaubte. Dem hilfreichen Vögelchen? Nein, irgend etwas sträubte sich im kleinen weissen Nichts gegen diesen Gedanken. Diese Begegnung war so schön gewesen, dass sie bleiben musste, wie sie war. Etwas zuzufügen oder wegzunehmen, hiesse zugleich, sie zu zerstören. Der verrückten Priska? Das Nichts schauderte. Schon deren Auffassung von der Liebe zeigte doch, dass sie nicht bloss zu viel Phantasie hatte und daher als verrückt bezeichnet wurde, sondern dass sie ihr Leben aufgegeben hatte, weil sie damit nicht fertigwurde. Eine Versagerin? Nein. Jetzt blieben nur noch das Mädchen mir dem Freund, oder die unzähligen teilnahmslosen Menschen, die es gesehen hatte, mit denen es aber kaum hatte sprechen können, weil sie von vornherein nicht an wunderbare Wesen glaubten, wie das Nichts hier eines war. Was das Mädchen anbelangte, da wusste das Nichts nicht, wie es argumentieren sollte. Es war zwar von Anfang an so nett gewesen, hatte seine Nettigkeit dann aber als vor dem Spiegel eingeübt entlarvt. Und sobald sein Freund gekommen war, hatte es sich von der Königin in eine Magd verwandelt und im Ringkampf jedem Wort, jeder Geste sofort einen Giftstachel aufgesetzt. Wieso wohl? Das Nichts fand keine Antwort. Aber der Spatz kam ihm noch in den Sinn. Sich auf die Unterschiede von Brotkrumen und Kieselsteinen zu beschränken und den Rest der Menschenwelt zu ignorieren, war das der richtige Weg?

So dachte es noch einige Zeit über all seine Begegnungen nach, rief sich das eine oder andere Gesicht in Erinnerung, musste aber dann feststellen, dass es niemanden getroffen hatte, mit dem es seinem Reiseziel oder seinem neuen Wunsch näherkam. Ob vielleicht im Nirgendwo jemand war? Vielleicht. Also wollte es lieber wieder zurück, um dort weiterzusuchen!

Doch: wie konnte es wieder zurück in sein Heimatland? Es überlegte. Die Hinreise war so einfach gewesen: das Sadin überstreifen und in Gedanken "ins Menschenland!" rufen. Ob die Rückreise ebenso einfach war? Nun, ein Versuch war es wert. So streifte es sich langsam, feierlich, sein inzwischen ziemlich löchriges und längst nicht mehr in allen Tonarten schillerndes Sadin ab, schloss die Augen und dachte inbrünstig: "Ins Nirgendwo!"

Doch, meine lieben Kinder, was glaub ihr, was jetzt geschah? Kam das kleine weisse Nichts auf so simple Art nach Hause? Sicher nicht.

Denn die Tür zwischen dem Nirgendwo und unserer Welt hat seltsame Eigenschaften: wer von drüben zu uns kommen will, muss einen Gegenstand erfinden oder benennen (was im Grunde dasselbe ist), das es vorher in dieser Form nie gab und danach nie wieder geben wird, muss den unerschütterlichen Glauben an das Glück, den grossen Wunsch, dieses bei uns zu finden, und schliesslich einen Hupp als Reisebegleiter für die erste Strecke des Weges haben. Alle diese Bedingungen hatte das Nichts erfüllt, ohne von ihnen zu wissen.

Aber um die Tür zu durchschreiten, die von unserer Welt zum Nirgendwo zurückführt, muss man ganz andere Prüfungen bestehen. Über der Türschwelle liegt ein längst vergessener Zweig des Landes der Phantasie, durch das man nur mit einem grossen und schwer erschöpflichen Mass an Ideen gelangen kann. Da aber Nichtsen, und insbesondere kleine weisse Nichtsen keine eigene Phantasie besitzen, erst recht, wenn sie von ihrem Heimatbaum getrennt sind, brauchen sie einen Menschen, der sie durch dieses Wegstück begleitet.

Wo aber sollte es einen solchen kennenlernen? Wie sollte es ihm von diesen Türen zwischen den Welten erzählen, von denen es selber nichts wusste? Hätte es davon gewusst, hätte es zumindest ein Blatt, eine Frucht oder ein Stück Rinde seines Heimatbaums mitgenommen. So aber...?

Wollen wir einmal sehen, wie es weitergeht!

Als das Nichts spürte, dass es nicht heimgetragen wurde, dachte es natürlich erst, dass es sich besser konzentrieren müsse uns schloss seine Augen fester. Und tatsächlich fühlte es etwas: einen Windhauch, der näherkam, einen eisigen Windstoss, der innert Sekunden zum Orkan anschwoll, der es zu Boden riss und auf der Stelle verebbte, sobald es die Augen öffnete. Dabei hörte es die höhnisch-krächzende Stimme des Hupps, der es in diese glückverheissende, aber schreckliche Welt geführt hatte:

"So einfach geht das doch nicht, oh Nichts!"

Es sah für den Bruchteil einer Sekunde seinen Heimatbaum, wie zum Greifen nahe. Jetzt sass der Hupp in seiner Krone, hatte einen Strohhalm in seine Rinde gesteckt und sog genüsslich daran. Doch war es wirklich sein Heimatbaum? Mit hängenden Zweigen und fallenden Blättern und Blüten, seiner Arbeit und Freude beraubt, um seinen Saft betrogen, stand er da, umgeben von einer Wolke von dichtem weissem Dunst, der die Augen unseres Nichtses auf unbekannte Art schmerzte. Wie ein Blitz schlug ein akuter Schmerz das kleine weisse Nichts zu Boden. Vor Heimweh und Erschöpfung schluchzend sank es in einen tiefen, traumlosen Schlaf.


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Der Kampf

Tage später erwachte es wieder, und es spürte eine bleierne Müdigkeit in sich. Hatte der Soldat also doch nicht unrecht gehabt, dass man verteidigen musste, was man liebte? Dass man nicht blindlings jedem vertrauen sollte? Wieder begann sein neuer Wunsch in ihm zu glühen, einmal jemanden lieben zu können und die Liebe selbst zu erleben...

Kaum hatte es diesen Wunsch erkannt, setzte es sich ruckartig auf und begann, in eine ganz bestimmte Richtung zu gehen. Keine Richtung, die es aus eigenem Willen wählte. Es fühlte sich von einer enormen Kraft gezogen, gegen die es nichts unternehmen konnte, weil es keine passenden Abwehrkräfte hatte. Von irgendwoher kam der Befehl, auf ein Ziel zuzugehen, das es nicht kannte, ein Befehl einer ungeheuren Macht, der keinen Widerspruch duldete. Ihm folgend wackelte das kleine weisse Nichts voran.

Ein äusserer Beobachter hätte ein lustiges Bild gesehen: wie das kleine weisse Nichts sein Bein ruckartig nach vorne in den Boden stackste, den Oberkörper nachzog und das Bein hinter sich wieder aus dem Boden zog und nach vorne schwang. Sein schneeweisser, eirunder Oberkörper wollte dem fremden Willen offensichtlich nicht einfach so gehorchen - er bewegte sich weniger rasch vorwärts und wurde am Ende jedes Schrittes für das letzte Stück gewaltsam mitgerissen. Das Bein war dem fremden Willen also weit stärker unterworfen als der Oberkörper. Der äussere Beobachter hätte nicht nur über den eckigen Gang des Nichtses lachen können, sondern auch über das im ruckenen Gegenwind flatternde Sadin, aus dem sich immer mehr Töne verloren.

Für das kleine weisse Nichts war dies alles blutiger Ernst. Es war ein schöner, lauer Frühlingstag, aber im Sog herrschte eine ganz spezielle Kälte. Der Boden war angenehm trocken, aber noch weich von der Nacht. Der fremde Wille frass sich despotisch in den kleinen des Nichtses. Mehrmals versuchte es, sich dem Sog zu widersetzen, dem Bann zu entkommen, es stemmte sich dann mit all seiner Kraft dagegen, rutschte wirklich ein Stück weit mit verringertem Tempo auf dem Fersen und glaubte, dieser sinnlosen Geschwindigkeit endlich Meister zu sein, doch sobald sein Wille auch nur ein kleines bisschen erschöpft war, wurde es mit doppelter Kraft auf dieses unbekannte Ziel zugerissen.

Was erwartete es an diesem Ziel? Böses? War uneingeschränkt alles böse, das einem seinen Willen aufzwang? War uneingeschränkt alles gut, das einem seinen eigenen Willen liess? Nein: der Hupp hatte den Willen des Nichtses gelassen, mehr noch, unterstützt. Also konnte auch das Umgekehrte der Fall sein? Dass eine nicht-böse Macht einem schwachen Wesen den Willen nahm und es gleichsam führte? Sollte es seine Kräfte schonen und sich einfach gehen zu lassen? Unzählige Fragen durchschwirrten den Kopf des Nichtses. Doch gehenlassen... es war ja nicht nur Willensschwäche, die sich diesem Befehl unterordnete, sondern echte Schwäche des Körpers. Es war nun einmal nicht stärker, dagegen konnte es nichts unternehmen. - Vielleicht aber wartete eine gute Person auf es, jemand, der es gut meinte, der gewillt war, ihm zu helfen, oder gar, ihm den Weg zu zeigen, um diese Welt zu verlassen? Ein Funke Hoffnung erhellte die von düsteren Vorahnungen verdunkelte Gedankenwelt des Nichtses. Vielleicht war es falsch, sich dieser einmaligen Gelegenheit zu widersetzen?

Dann aber bemerkte es die Kälte um sich und in sich eine ganz spezielle Müdigkeit. Was war diese Müdigkeit? Ein mahnender Zeigefinger, das Zeichen eines zweiten Ichs, das es vor einem Unglück warnte? Der Hinweis dieses zweiten Ichs, dass es sich getrost fallenlassen konnte, da nichts böses wartete? Oder...? Die Gedanken des Nichtses irrten im Kreis. Lange stritt es mit seinem anderen Ich, versuchte sich zu überzeugen, doch seine Worte wurden immer kraftloser, immer müder, bis es schliesslich den Kopf hängen liess und eindöste. Der Sog wurde milder, da sein Gegenwille weg war, und es schwebte sanft im fremden Hauch, torkelte todmüde und unbewusst vor sich hin, mit dem einzigen Wunsch im Herzen, endlich schlafen zu können.

Schlafen zu können... Mit diesen Worten auf den Lippen erwachte es, Stunden später. Irgendwann, so erinnerte es sich, war es über einen Stein gestolpert, der im Weg lag, war hingefallen, aber zu schwach gewesen, sich wieder aufzuräppeln. So war es liegengeblieben und eingeschlafen. Der Sog wirkte auf seinen liegenden Körper weit weniger stark als auf seinen aufrechten, und so hatte ein leichtes Lüftchen das Nichts im schlaf gewiegt. Trotzdem war der Schlaf nicht so erquickend und belebend gewesen, wie das kleine weisse Nichts nötig gehabt hätte.

Das Nichts öffnete die Augen und schaute sich um. Die Nacht war eben daran, die Stunde der Dämmerung abzulösen. Klar und hell stand der Mond am Himmel, sonst herrschte Finsternis. Kein einziger Stern blinkte vom dunkelblauen Himmel auf das Nichts herab; es war alleine.

Es wünschte, wenigstens bis zur Tageshelle durchzuschlafen, doch kaum hatte es diesen Wunsch zu Ende gedacht, verstärkte sich der Sog wieder, stellte es auf und riss es fort, auf dieses unbekannte Ziel zu. Voller Angst, aber ohne Kraft, sich zu widersetzen, folgte es ihm. Bei jedem Schritt wurde es sich seiner ausweglosen Situation stärker bewusst, nahm seine Verzweiflung zu, schien ihm die Hand der Hoffnungslosigkeit das Herz zuzudrücken. Wie ein Häuflein Elend wackelte es durch die Dunkelheit auf dieses ferne, unbekannte Ziel zu.

Irgendwann bemerkte es, dass es seinen Blick nicht mehr auf den Boden gerichtet hielt, sondern auf einen kleinen hellen Punkt in der Ferne starrte. Seine Gedanken, froh, endlich Abwechslung zu haben, kreisten sofort um diesen Punkt. Was mochte es wohl sein? Ein Lichtschimmer. Es war nicht vergleichbar mit der gleissenden, erbarmungslos sengende Mittagssonne, und auch nicht mit der tote Beleuchtung der Städte der Menschen. Es schien zu tanzen. Ein Glühwürmchen vor ihm im Sog? Langsam kam es näher. Ein Feuer? Nein, kleiner. Es hatte die Form eines keinen, auf dem Kopf stehenden Nichtses.

Stetig näherte sich das Nichts diesem Lichtschimmer. Es schien eine kleine lebendige Flamme zu sein, die nach eigener Melodie auf und ab hüpfte, ja sogar zu tanzen schien. Diese eigene Melodie machte sie mit einem kleinen Nichts vergleichbar. Diese Unbeschwertheit faszinierte das Nichts. Gerne hätte es dieser Flamme zugeschaut oder ein Lied vorgesummt oder gar mit ihr ein Lied gesungen, doch der Sog zog es weiter. Aber es wollte nicht weiter. Es wollte nicht.

Der Sog? Das Nichts realisierte, dass dieser nur eine Ausrede war. Gestern hatte es sich ihm mehrmals recht gut widersetzen können. Sicher, er war stärker gewesen, aber hatte es nicht zu früh aufgegeben? Diesmal, da wusste es, musste es um sein Leben kämpfen, dies war vielleicht seine letzte Chance, dieser schwarzen Macht zu entkommen. Es heftete seinen Blick also fest an die unbeschwerte Flamme, die schon ganz nahe war und ihm Kraft schenkte. Liess sich von seinem Wunsch, zu ihr zu gelangen, füllen. Sog sein Licht wie gute frische Luft ein.

Es wartete noch einen Moment, bis es sich stark genug fühlte, atmete tief ein und begann dann, sich mit seinem ganzen, schmächtigen Körperchen gegen den unsichtbaren Feind zu stemmen. Da - der erste Schritt gelang! Es war zwar nur ein kleiner, aber das kleine weisse Nichts spürte ein Glücksgefühl durch seinen ganzen Körper strömen. Ja, es würde es schaffen!

Das nächste Stück war schon nicht mehr so schwierig, besonders, wenn es seinen Blick wieder ganz fest auf diese Flamme heftete. Sie half ihm, ganz bestimmt! Schrittchen für Schrittchen, Zentimeter um Zentimeter kämpfte sich das kleine weisse Nichts aus dieser schrecklichen Strömung heraus. Fast hätte es die "Strasse des Bannes" verlassen, als es strauchelte, sich beinahe nicht mehr aufrecht halten konnte und sich - den Sog wieder stärker spürend - schliesslich zu Boden fallen liess. Und wie am Abend, als es hingefallen war, spürte es, wie der Sog in Bodennähe schwächer war. Es blieb liegen und rollte sich mit geschlossenen Augen und dem festen Gedanken an die Flamme weiter aus dem Kraftgebiet heraus. Ein paarmal glaubte es, aufgeben zu müssen, sich wieder ohne Widerstand mitreissen lassen zu müssen, doch sobald es den Kopf hob, die Augen öffnete und die immer unruhiger tanzende Flamme sah, die wirklich mit ihm zu fühlen schien, hatte es wieder neuen Mut.

Endlich, endlich hatte das kleine weisse Nichts es geschafft! Ermattet lag es auf der Wiese, schweissnass, schwer atmend, mit flirrendem Herzschlag, aber trotzdem endlos glücklich, endlich wieder sein eigener Herr und Meister zu sein... Die stumpfen Fetzen seines Sadins mochten seinen Körper kaum noch decken, aber wegen der Wärme seines Glücksgefühls machte ihm das nichts aus.


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Morgenlied

In den frühen Morgenstunden erwachte es, vom Gezwitscher der Vögel geweckt und neu gestärkt. Die Wiese glitzerte taufeucht und lockte. So reckte und streckte es sich, rollte ein paar Tautropfen zusammen, sprang hinein und badete. Für lange Augenblicke besass es seine goldene Nichtsenstimme wieder und sang befreit von der Erinnerung an all seine Sorgen in die klare Morgenluft hinaus.

Die Vögel, die es hören konnten, unterbrachen ihr Gezwitscher und lauschten andächtig. Die Tiere im Wald unterbrachen ihre Futtersuche und Spiele und sonnten ihr Gehör an der Schönheit, ja sogar die Pflanzen blühten in ihren kräftigsten Farben und reckten stolz ihre Blüten gen Himmel. Für einen Moment war auf der Welt ein Teil der Ewigkeit, der uranfänglichen Schönheit zu spüren.

Nur eine einzige Wesensart verpasste diese Sternstunde. Die Menschen. Sie lagen in ihren Betten, grämten sich vor Sorgen und träumten von einem irdischen Glück, das es nicht wirklich gab, von dem sie in ihrem innersten genau wussten, dass es nicht existierte, von dem sie tagtäglich aber so viel vorgelogen erhielten, dass sie sich den Glauben daran zu Eigen gemacht hatten.

Von all dem merkte das Nichts nichts. Es sang sich glücklich. Bei dieser Gelegenheit wuchsen die Löcher im Sadin stellenweise wieder zu und es begann von Neuem, verschiedenen Tonarten zu schimmern. Das kleine weisse Nichts seufzte tief auf, stieg aus dem Bad und schüttelte sich in der Morgensonne, bis es trocken war. dann legte es sich in die weit geöffnete Kelchblüte einer Pflanze, blinzelte in die Sonne und genoss seine neu erworbene Freiheit.

Es fühlte nicht, wie es Mittag, wie es Abend wurde, wie die Nacht herabkam, sah nicht die Menschen, die an seiner Blume vorbeikamen und erst recht nicht die Tiere, die es respektvoll von Weitem betrachteten und sich zuraunten: "Siehst du die Blüte dort? Darin liegt das kleine weisse Nichts!", "Hast du seinen Gesang auch noch in den Ohren? ", "Sei leise, das kleine weisse Nichts muss sich erholen!"


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Noch eine Begegnung?

Als es dunkel wurde, erinnert sich das kleine weisse Nichts wieder an die tanzende Flamme, die ihm Kraft geschenkt hatte, dem Bann zu entfliehen. Es schlug die Augen auf und schaute sich um

Da - nicht weit von ihm entfernt, tanzte die Retterin wieder! Sie winkte ihm ganz deutlich zu. Erwartungsvoll rannte ihr das kleine weisse Nichts entgegen. Die Flamme tanzte auf einer Kerze, die auf einer grossen, dicken Holzplatte stand. Die Platte war der obere Abschluss eines Tisches, auf dem viele beschriebene und unbeschriebene Blätter in einer wilden Unordnung lagen. Alles sprach von Ruhe und Raum fürs Lebendige.

Wieso zögerte das kleine weisse Nichts dann noch? Wieso verlangsamte es seinen Schritt dann und hielt in einem Sicherheitsabstand an? Achja: hinter dem Tisch hockte ein Mann. Ein alter, weissbärtiger, ruhiger Mann - aber eben doch ein Mensch, vor dem sich das kleine weisse Nichts nur schon seiner unliebsamen Begegnungen wegen fürchtete.

"Was zögerst du?" tanzte die Flamme. Dieses erzählte ihm von seinen Begegnungen im Menschenland, und dass es sich vor einer neuen fürchte. Als es fertig war, hörte es eine tiefe, beruhigende Basstimme, die schon lange nicht mehr gebraucht worden war, und deshalb uralt klang: "Komm, kleines weisses Nichts. Ich habe lange auf dich gewartet. Hab keine Angst, ich fürchte mich vor den Menschen genauso wie du und meide sie deshalb seit Jahren. Als ich heute Morgen deine goldene Stimme hörte - ich war wohl der einzigen Mensch, der in diesen Genuss kam - war ich sicher, dass ich es sein werde, der dir helfen wird. Aber schlaf erst einmal, damit du die Schrecken des Kampfes mit dem Verderben, den du in der vergangenen Nacht geführt hast, vergessen kannst.

Der alte Mann meinte es offensichtlich gut mit ihm. Ob es ihm trauen durfte? Die Flamme nickte heftig. Zu Füssen der Kerze rollte sich das kleine weisse Nichts zusammen. Wachsam hielt es immer ein Ohr offen, doch es hörte nichts als das beruhigende Kratzen der Feder auf dem Papier. Der alte Mann arbeitete noch.

Als es die Augen wieder aufschlug, sah es, dass sich ein gutmütiges, zerfurchtes Menschengesicht mit klaren Augen über es beugte und es ruhig staunend betrachtete. Bald schon sprach es mit dem Alten. Er erzählte von sich und seinen Geschichten, es von seinen Reiseerlebnissen. Sein Zuhören war ein ganz anderes als das aller Menschen, denen es bisher begegnet war. Mit Augen und Ohren lauschte er in es hinein lachte es nicht aus und unterbrach es nicht, sondern stimmte ernst zu und stellte manchmal interessierte Fragen. So nahm er im eigentlichen Sinne teil an den Ängsten und Sorgen des Nichtses.

Mehrere Tage lang erzählten sich das Nichts und der Mann gegenseitig ihre Geschichten. Auch ihn hatten sie nie ernst genommen. Auch ihn hatten sie mit ihrer Zeitnot und ihrem Spott vertrieben, doch er war nicht mehr bitter deswegen. Er hatte sich zurückgezogen mit seiner Kerze, seinem Holztisch, seinen vielen Blättern und der Feder, und hatte begonnen, Geschichten zu erzählen. Geschichten von einer anderen Welt, wo Phantasiemenschen lebten und spielten. Er liebte diese Welt, und viele seiner Figuren brachten neue Figuren hervor.

Manchmal stellte er auch Fragen zum Nirgendwo. "Vertiefung seiner Nichtsenstudien", nannte er dies. Und das kleine weisse Nichts musste ihm ganz genau beschreiben, wie die Nichtsenbäume aussahen, musste ihm vorsummen und ein Stück Etwas weben, das er andächtig in seine Hände nahm und zwischen den Fingern rieb, es musste ihm den Hupp beschreiben oder ein Nichtsenfest. Oder die Beschaffenheit der Körperfarbe der heimgekehrten Nichtsen. An der hatte er ganz spezielles Interesse.

Manchmal stellte aber auch das kleine weisse Nichts seine Fragen: was ist ein Soldat? Was ist der Unterschied zwischen Krieg und der Menschenwelt? (Der alte Mann lachte laut heraus, bevor er sich anschickte, diese Frage zu beantworten!) Was heisst verrückt? Was ist ein Strassengraben?

Und einmal fragte es: "Was war das für ein Sog?" Der alte Mann runzelte die Stirn. "Der Sog? Du warst dem kalten Sog unterworfen?" Es blickte bejahend zurück. "Das war dein eigener Wille. Dein Wille, diese Welt zu verlassen. Unsere Welt kann solche Wünsche nicht ertragen. Sie saugt die Besitzer dieser Wünsche an den Rand der Welt, in den Abfall." - "Abfall?" - "Ja. Unsere Welt toleriert keine Wesen, die nicht in ihr bleiben wollen. Sie hat für diese einen Mechanismus installiert, den wir Staubsauger nennen. Ein Reiniger, der sie entfernt und in einer Grube sammelt, die rund um unsere Welt läuft, und ihr Fundament bildet. Keine Hoffnung dort. Kein Herauskommen."


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Die Rückkehr

Nach einiger Zeit wurde das kleine weisse Nichts von erneutem Heimweh nach seinem Baum im Nirgendwo gepackt. Es klagte dies dem alten Schriftsteller, und der erzählte ihm von den Türen zwischen der Menschenwelt und dem Nirgendwo. Er anerbot sich, das Nichts auf eine in der bisherigen Mensch-Nichts-Beziehung noch nie praktizierte Weise heim zu bringen. Das Nichts wurde neugierig. Es verabschiedete sich herzlich von der Flamme, dankte nochmals für die Rettung, und sah den Schriftsteller dann erwartungsvoll an. Der wischte sich erst ungeschickt die Augen, half dem kleinen, noch immer weissen Nichts dann, in seine Feder zu steigen, und schrieb damit auf ein weisses Blatt in grossen, verschnörkelten Lettern:

" N I R G E N D W O "

Freudig wurde das kleine weisse Nichts von seinem kranken Baum empfangen. Er war von seiner langen Krankheit zwar sehr geschwächt, aber er strahlte trotzdem. Das kleine weisse Nichts liebkoste ihn und machte sich dann auf, bei den anderen Nichtsen eine Medizin zu verlangen. Doch zu seinem Entsetzen kehrten die ihm höhnisch-abweisend den Rücken. Ein paarmal hörte es sie auch spotten: "Sieh einmal an, da kommt unser Weltenfahrer von der Menschenwelt zurück, wo er die schnelle Körperfarbe suchte. Doch er ist ja weisser als vorher. Was ist - warst du zu geizig, um Farbe mitzunehmen? Warst du gar nicht drüben und erzählst bloss davon, um dich hervorzutun? Du kamst dir schon immer besser vor als wir!"

So und ähnlich lästerten sie, doch helfen, den kranken Baum zu pflegen, wollte niemand. Auch die früheren Freunde des Nichtses wandten sich von ihm ab. Traurig schlich es sich davon.


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Endlich ganz daheim

Als es wieder in seiner Baumkrone sass, erinnerte es sich an seinen Wunsch, Liebe selbst zu erleben und jemandem zu schenken. Dann dachte es an den alten Schriftsteller und begann, dem Baum seine Erlebnisse in der Welt der Menschen vorzusingen. Strophe folgte auf Strophe, eine endlose Folge. Der Baum wurde gesund, doch das kleine Nichts merkte es nicht. Weil es richtige Worte mit Sinn sang, konnte es mit den Fäden der Töne nichts mehr weben, doch das spielte keine Rolle mehr für es. Es traf sich nicht mehr mit anderen Nichtsen, denn sie hatten es verstossen.

Trotzdem war es glücklich. Denn es hatte begriffen, dass es auf eine ähnliche Art lebte, wie der alte Mann, der es nie mit vielen Worten über Liebe belästigt hatte, der aber mit seinem ganzen Sein gezeigt hatte, was Liebe sei: Zufriedenheit, Dankbarkeit, Glücklich-Sein, das stets leise zehrende, aber wohltuende Verlangen, an den Geliebten zu denken ... viele Worte fehlten dem Nichts, um sie genauer zu umschreiben. Es fühlte sich wohl in der fernen gedanklichen Anwesenheit des alten Mannes.

Tag und Nacht wechselten, ohne dass das kleine Nichts es merkte, ebenso Sommer und Winter, es kamen keine Leute mehr vorbei wie früher, denn aus seinem Baum flatterte es kein Etwas mehr, das sie bewundern konnten, und sie glaubten den Baum nichtsenlos. Anstelle eines Etwas hängte das Sadin im Blattwerk und erinnerte das kleine Nichts an seine Reise. Es wusste jetzt auch, dass es trotz der Bemühungen des Schriftstellers nicht aus der Menschenwelt gelangt wäre und dass es die Stimme für immer verloren hätte, wenn sich sein Kleidungsstück ganz aufgelöst hätte, und es dankte jenem taufeuchten Morgen, der es zum Singen veranlasst und damit gerettet hatte.

Eines Tages, als es mit dem Singen des Liedes von seiner Reise gerade beim alten Mann angelangt war, bemerkte es, wie sich unter seinem Baum eine Gruppe fremde Wesen angesammelt hatte, die zu ihm herauf starrten. Ohne seinen Gesang zu unterbrechen, nickte es ihnen wohlwollend zu. Seit einiger Zeit hegte es kein Misstrauen mehr, gegen niemanden. Eines der Wesen rief ihm zu: "He, bist du ein Nichts?" Als es erstaunt bejahte, sah es, wie die Wesen näher zusammenrückten und miteinander zu flüstern begannen. Eines kicherte sogar leise. Als sie wieder gingen, rief ihm eines dieser Wesen zu: "Ich wusste gar nicht, dass es auch farbige Nichtsen gibt"

Farbige Nichtsen? Unser kleines Nichts begriff nichts. Es trug sein Sadin doch gar nicht mehr! Und ohne dieses war es doch noch weisser als die anderen Nichtsen, oder? Irritiert schaute es an sich hinunter. Doch was sah es? War dies wirklich sein eigener Körper? Er schillerte nämlich in allen Farben. Wie war das möglich? Es hatte doch seit ewiger Zeit kein Wesen mehr getroffen!

Als es an seinem Lied weitersingen wollte, kam ihm ein Gedanke in den Sinn, den es damals im Menschenland gehabt hatte: Liebe und Zeit waren zwei Dinge, die zusammen gehören mussten, um so gross zu werden, wie sie gedacht waren. Hiess das, dass seine Körperfarbe von einer langen Liebe kam? Unweigerlich dachte das kleine schillernde Nichts an den alten Schriftsteller in der Welt der Menschen. "Danke, danke, danke", sang es vor sich hin. Nun war es sicher, dass er es hören konnte, auch wenn er in einer anderen Welt lebte als es.

Nach einiger Zeit setzte es sich wieder hin und begann, für den Schriftsteller Geschichten aus dem Nirgendwo zu erzählen. Mit seiner goldenen Stimme sang es sie in seinen Baum hinein, stolz, seinem Freund bei der Arbeit helfen zu können.

Ja, er hörte die Geschichten, schrieb sie nieder und erzählte einige der kleinen Flamme, die dann jeweils viel lustiger tanzte. Er war glücklich, die goldene Stimme des kleinen schillernden Nichtses zu hören.

Die Menschen übrigens lachten über den neuen Stil des verrückten alten Mannes. Dass er in seinem Alter noch Märchen schrieb, war ja allerhand.
Denn - Hand aufs Herz - wer glaubt denn schon an kleine weisse oder kleine schillernde Nichtsen?


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