Träume - Bilder unserer Zeit

Eine kleine Sammlung eigener, expressiver, bilderreicher Träume.
"Insekten-Viren", "Spiel ohne Grenzen" und "Das Lager" können als Bilder unseres neoliberalistisch geprägten Zeitgeistes gelesen werden. Homo homini ludum - der Mensch ist des Menschen Spiel. Ein Spiel ohne Grenzen. Darauf folgend eine Einwanderungswelle, eine aggressive Eroberung, welche Menschen effizienter ausschlachtet, und schliesslich das gesamte Wirtschaftsgebäude zum Einsturz bringt: "Die Einheit": eine Abteilung,die bis auf die letzten Spuren vernichtet werden muss. "Einmarsch": Eine Kanone, die in den Krieg will. Eine Patientin, der im Spital ungefragt Organe für den Organschwarzmarkt entnommen werden. Eine neue Firma, deren rutschendes Gebäude den Zusammenbruch der gesamten Wirtschaft verbildlicht. Es ist kein Spiel mehr - nun geht es um totale Vernichtung. Wer wird vernichtet? Wofür? Wem bring diese Vernichtung etwas?
Ich nehme keine inhaltliche Stellung zu diesen Texten. Sie geben meine Notizen beim Erwachen wider - ohne Zusatz.


  1. "Nimm die Maske ab!"  - Kindheitstraum
  2. Hafturlaub  - 8.8.1998 -   audio
  3. Der Ritterschlag  - 13.9.1998
  4. Insekten-Viren  - 28.10.1998 -   audio
  5. Weiterfahren  - 19.11.1998 / 22.4.2003
  6. Vatermord  - 22.5.1999
  7. Spiel ohne Grenzen  - 16.12.1999 -   audio
  8. Heimkommen  - 17.1.2000
  9. Das Lager  - 18.1.2000 -     audio
  10. Gebärklinik  - 12.7.2000 / 9.3.2004 -   audio
  11. Hausführung  - 25.12.2000
  12. Flug  - 5.2.2001
  13. Schlangen  - 21.3.2001 -   audio
  14. Weihnachtsplätzchen  - 25.3.2001 -   audio
  15. Idylle  - 28.4.2001
  16. Auferstehung  - 4.9.2001
  17. Sprung ins Nass  - 29.6.2002
  18. Klone  - 19.9.2002
  19. Drei Generationen  - 30.1.2004
  20. Mondlandung  - 16.2.2004
  21. Stufenweises Erwachen... - 12.3.2004 -   audio
  22. Frosch-Stil  - 8.8.2004
  23. Die Einheit -13.8.2005
  24. Einmarsch -31.1.2006
  25. die neue Lust an der Frau - 30.3.2006
  26. Rutsch - 26.1.2011                                        zur Rinaku-Seite

"Nimm die Maske ab!" - Kindheitstraum

Der erste Traum, an den ich mich erinnern kann - von erstaunlicher lebensphilosophischer Tiefe. Ich kann nicht älter als fünfjährig gewesen sein, denn ich erinnere mich ans Zimmer, in dem ich aufwachte.

Ich stand in hellem Licht, wie auf einer Bühne.
Aus dem Dunkel ertönte eine Stimme: "Nimm die Maske ab!"
Ich griff an mein Gesicht, stellte fest, da ist tatsächlich eine Maske, nahm sie ab, blickte der erwartungsvollen Masse im Dunkel entgegen.

Wieder ertönte aus dem Dunkel die Stimme: "Nimm die Maske ab!"
Ich griff an mein Gesicht, stellte erstaunt fest, da ist tatsächlich noch eine Maske, nahm sie ab, blickte wieder der erwartungsvollen Masse im Dunkel entgegen.

Wieder ertönte aus dem Dunkel die Stimme: "Nimm die Maske ab!"
Ich griff an mein Gesicht,, ertastete tatsächlich eine weitere Maske, nahm sie ab, blickte erneut zur erwartungsvollen Masse im Dunkel.

Wieder und wieder ertönte aus dem Dunkel die erbarmungslose Stimme: "Nimm die Maske ab!"
Wieder und wieder griff ich an mein Gesicht, stellte fest, da war tatsächlich noch eine noch eine Maske.
Eine nach der andern nahm ich gehorsam ab, mein Kopf wurde immer kleiner, bis am Schluss nur ein Rund in der Grösse eines Tennisballs da war, und ich beschloss: "Nein, ich jetzt nicht mehr. Es ist nicht schlimm und falsch, wenn ich eine Maske trage, wichtiger ist, dass ich meinen Kopf bewahre."


  audio

Hafturlaub - 8.8.1998

Eine Familie, Eltern, drei Kinder, Vater und Sohn auf Hafturlaub, Tochter auf Urlaub aus einer psychiatrischen Klinik, treffen sich in den Bergen vor einem fremden, an steilem Abhang gebauten Chalet, das auf der Bergseite einstöckig ist, sich auf der Talseite über mindestens vier Stockwerke erhebt. Auf einen schweigenden Blickwechsel hin betreten sie das Haus, um durch Sprung aus einem Fenster der Abhangseite gemeinsam Suizid zu begehen.

Während die rechtmäsigen Bewohner im Wohnzimmer oh du Fröhliche und Gabenbereitung spielen, dringen die "Gäste" unbemerkt ein, gehen an Wohnzimmer und Küche vorbei zu einem stubenartigen Raum an der Abhangseite, öffnen die Fenster und springen.
Der nichthaftbeurlaubte Sohn springt mit, überlebt aber, weil er sich in natürlichem Überlebensinstinkt am Abhang abgerollt hat. Grosser Schock seinerseits beim Anblick der Leichen seiner Familie.

Er rappelt sich auf, steigt den Hang hinauf, betritt das fremde Chalet ein zweites Mal, kommt wieder am weihnächtlichen Familienfest vorbei, springt ein zweites Mal, überlebt nochmals, es klappt einfach nicht, er ist zu athletisch, zu gut trainiert. Beschliesst, auf der übrigens sommerlich blühenden Bergwiese, von den Überresten seiner Familie umgeben, nochmals zu springen, diesmal kopfvoran, um sich den Nacken zu brechen, steigt den Abhang hinauf, betritt das Chalet ein drittes Mal, geht am weihnachtlichen Wohnzimmer vorbei zum Zimmer mit den geöffneten Fenstern, erblickt in einer der Fensterscheiben sein Spiegelbild, tauscht einen langen Blick mit ihm, zuckt die Schultern, lächelt, beschliesst, nein, dieser Sprung ist nicht nötig. Er muss nicht alles mitmachen. Es genügt, dem morbiden Familienverband entronnen zu sein.


  An den Anfang

Der Ritterschlag - 13.9.1998

An den ganzen ersten Teil des Traums erinnere ich mich nicht. Irgendwas von einem Jüngling, der sich mit all seinen Kräften einsetzt, aber nicht weiterkommt.

Schliesslich, in seiner Ichwerdung gebrochen, wirft er sich einem väterlich wirkenden Vorgesetztem in langem blauem, überwurfartigen Gewand, mit vollem, schulterlangem, tiefschwarzen Haar an den Hals und macht ihm ein Treuegeständnis.

Der Vorgesetzte lässt ihn sich ausheulen. Hinter den Rücken des Schluchzenden zieht er mit der einen Hand das Rapier, mit der andern ein Wetzschwert aus der Scheide und beginnt das Rapier in der Luft zu wetzen.

Kameraschwenk: auf Blickkontakt mit dem Schwarzhaarigen hin nimmt ein Jüngling in langem, graubraunem Überhang und Kettenhemd einen Kanister Brennspiritus hervor und stellt ihn neben eine altarähnliche Feuerstelle mit Rost, die er in aller Seelenruhe entfacht.

Traumende. Noch lange klingt mir das Geheul des Gebrochenen und der Rapierklingklang nach. Was für ein Ritual wohl auf dieses Loyalitätsbekenntnis folgt?


  An den Anfang   audio

Insekten-Viren - 28.10.1998

Bei einer Wanderung über die Hügeln um das Dorf meiner Kindheit, trete ich in ein Nest von Tieren, fünf- bis achtzentimeterlangen, achtbeinigen Insekten mit mehrgliedrigerm schlankem Körper und erhöht getragener, wurmfortsatzähnlicher Kopfpartie. Erst jetzt bemerke ich, dass ich an den Füssen seltsamerweise bloss Strümpfe trage. Wegen sofort einsetzendem unerträglichem Juckreiz reisse ich die Strümpfe von den Füssen, mein Wanderpartner klopft die offensichtlich sehr stechfreudigen Tiere vom Stoff und packt meine Strümpfe in die Jackentasche.

Rasch entfernen wir uns. Die Tiere wachsen schnell an und verfolgen uns blutgeil. Wir beschleunigen den Schritt, sie auch. Wir rennen, sie auch. Plötzlich erkenne ich den Weg, er führt vom einstmaligen Neubauquartier hinab, in dem eher vermögendere Familien aus der Stadt, unter ihnen diejenige meiner Schulfreundin wohnten. Wir rennen die sehr steile, kurvenlose Strasse hinunter, kommen gleich am Primarschulhaus vorbei. Am Übergang zwischen Strasse und Schulhausplatz ist eine Doppelschwelle in den Asphalt eingelassen, die beiden Eisenschwellen sind nahe genug beieinander, dass ein Mensch, selbst ein Kind darüber schreiten kann, für die Insekten ist die Distanz jedoch zu gross, sie fallen in den dazwischen und darunterliegenden Schacht. Offensichtlich ist das Phänomen der Tiere hier bekannt.

Mit meinem Wanderpartner überspringe ich die Schwellen, wir sind vor den Tieren sicher, sind aber vorerst auf dem völlig verwaisten Schulhof gefangen. Wir setzen uns auf einen der Betonblöcke, mein Wanderpartner kramt ein Taschenradio aus dem Rucksack und sucht einen Sender. Wir hören eine Reportage. Offensichtlich sind mehrere Forschungsinstitutionen mit der Erforschung dieser Tiere beschäftigt, haben einzelne Exemplare eingefangen und studieren ihr Verhalten. Eine gemeinsame Bekannte (ausserhalb des Traums nicht Biologin, sondern Psychiaterin) leitet das eine Forschungsteam und berichtet von den ersten Ergebnissen, die laufend vom Fernsehen übertragen werden: es ist eine Art Insekten, die nach Virenart die Fähigkeit hat, dem ausgesaugten Blut Chromosomenpartien zu entnehmen und ins eigene Genmaterial einzubauen. Daher treten sie in den verschiedensten Gestalten auf, verharren allerdings immer in derselben genommutationsfreudigen Insektenfamilie.

Mein Wanderpartner und ich überlegen uns fieberhaft und untersuchen meine Fusssohlen auf Insektenstiche: ist es möglich, dass sie von meinem Blut aufgesaugt haben? Werden in ihrem Gensatz Teile meines Erbmaterials erkennbar sein? Wird man herausfinden und nachweisen können, dass wir oben im Quartier waren? Aber ich habe keine wirklichen Stiche.

Im Radio werden jetzt Namen von Personen genannt, deren Erbmaterial in den Insektenproben nachgewiesen werden konnten, unter ihnen zwei meiner Basler Arbeitskollegen. Ach so, denke ich, daher die Strukturfehler in der einen Datenquelle unseres Führungsinstrumentes, die sich in die von uns gebaute Datenbank fortpflanzen, ich muss schauen, dass ich von dieser Seite Distanz halte.

Unsere gemeinsame Bekannte forscht und berichtet weiter: die Insekten sind auffallend gierig auf jedes neue Stück Fleisch / Blut, dass sie ihnen ins Herbarium wirft, stürzen sich darauf, haben es innert kürzester Zeit ratzeputz vertilgt. Wirft sie ihnen aber mehrmals Proben von demselben Individuum hinein, lässt die Gier sofort nach. Daraus schliesse sie, dass die Tiere nicht an Fleisch und Blut als Nahrungsmittel interessiert seien, sondern nur das Genmaterial benötigen. Sei dieses verwertet, werde es uninteressant. Sie wendet sich ans Publikum mit der Vermutung, dass sich die Personen, die mit den Insekten bereits Kontakt hatten, beruhigen können, da eine Art Schutz vor neuen Angriffen bestände, warnt trotzdem vor allzu leichtfertigem Umgang mit ihnen (es ist nicht ganz klar, ob sie die Menschen oder die Insekten meint), da das ganze Phänomen noch kaum erforscht sei.


  An den Anfang

Weiterfahren - 19.11.1998

Ich bin im Zug mit meiner ältesten Schwester Andrea und deren Kinder Babs und Martin. Die jüngste Tochter ist nicht geboren. Babs und ich spielen Karten und plaudern völlig vertieft, während Andrea mit dem Kleinen auf die Toilette geht. Da hält der Zug, wir sind am Umsteigebahnhof - wohin es letztlich geht, hat mir meine Schwester nicht mitgeteilt, ist Überraschung.

Babs packt ihr Bündelchen und rennt aus dem Zug, ich räume das viele Gepäck meiner Schwester zusammen, es sind unzählige Taschen und Plastiksäcke. Ein Blick auf den Perron: die drei stehen zusammen vor meinem Fenster. Ich schreite Richtung Ausgang. Schon kommen mir die Einsteigenden entgegen; Andrea und Babs winken mir Zeichen zu, ich habe noch etwas im Gepäcknetz vergessen, also geh ich zurück, hole es herunter, dränge mich an den Einsteigenden vorbei zum Ausgang, doch justament im Moment, wo ich an der Tür stehe, übrigens direkt neben der Führerkabine, schliesst sich die Tür und der Zug fährt ab.

"He", rufe ich der Lockführerin zu, ich muss raus, draussen steht meine Schwester, all dieses Zeug gehört ihr, ich weiss nicht, wohin wir fahren, etcetera, alles nützt nichts, sie fährt weiter, hält nicht nochmals an, mahnt mich zur Vernunft, ich solle mich hinsetzen, mitfahren.
Ich setze mich, aber nicht in ein Abteil, sondern auf die Stufen beim Ausgang. Streue Andreas Taschen und Säcke trotzig um mich herum, hör mir die Ermahnungen der Lockführerin an und schmolle. "Was soll der ganze Ausflug eigentlich", denke ich, "ich lasse das Zeug hier im Zug liegen, fahr nach Basel und nehme dort den Zug nach Hamburg. Andrea soll selbst zu ihrem Zeug schauen."

Fortsetzung - 22.4.2003

In den Armen eines äusserst liebevollen Liebhabers daheim eingeschlafen und während eines Abendspaziergangs entlang der Elbe erwacht. Mein Partner weist aufs Wasser, macht mich auf eine starke Aufwärtsströmung aufmerksam. Wir haben leider nur meinen kleinen Photoapparat mit, ich versuche trotz immer stärker werdender Dämmerung das, was geschieht, bildlich festzuhalten. Das erst nur auf der Wasseroberfläche ersichtliche Zugmuster wird zunehmend stärker, gräbt sich ein, hebt den Wasserpegel sichtlich. Gischt hebt sich ab, Wellen beginnen zu springen, bis sich die gesamte Fläche mit lokalen, sich aufwärts pflanzenden und im scharfen Licht von Wetterleuchten erleuchteten Springbrunnen mit kugeligen Wasserköpfen füllt. Brodelnde Schaumfetzen werden durch die Luft geschleudert; treffen auch mein Gesicht, ich lecke meine Lippen: Salzwasser. Meerwasser. "Das ist also Springflut", denke ich, und mein Partner nickt.: "das ist also Springflut."

Dann erfüllt mich ein vehementes Schluchzen: ich will nicht nach Hamburg, ich will hier bleiben, in der ruhigen Gegenwart, will mich hier niederlassen, will bei meinem Partner bleiben! Tiefe Trauer über das Naturgesetz des rollenden Lebenswagens, den aufzuhalten ich die Kraft nicht habe.


  An den Anfang

Vatermord - 22.5.1999

Gegen Morgen geträumt, ich hätte meinen Vater erschossen. Wir waren an der Urnenwand des Krematoriums Sihlfeld seine Eltern besuchen, wie vor einigen Jahren. Beim Gang durch den völlig menschenleeren und von leichten Nebellüften durchzogenen Friedhofspark habe ich eine Handschusswaffe hervorgenommen, auf ihn gezielt und abgedrückt. Habe die Tatwaffe grob verrauchen lassen und in einen Migros-Plastiksack gesteckt, den Park verlassen und den Plastiksack in einem Tram liegengelassen, das vom Tatort stadtauswärts fuhr. Sei ausgestiegen, habe den Bus zurück heim genommen, habe gebadet und die Kleider in die Waschmaschine gesteckt, um die letzten Spuren zu beseitigen. Irgendwo unterwegs müssen in einem städtischen Abfallkübel die Plastikhandschuhe entsorgt worden sein, die ich während der Tat und bis zur Entsorgung des Plastiksacks trug.

All diese Handlungen sehr detailliert, emotionslos, durchdacht. Auch der Genickschuss von schräg hinten. Kein Bruchteil einer Sekunde ein Gedanke an ein Motiv. Es war nur ein Vollzug.

Und die einzigen Gedanken beim Erwachen drehen sich um den Plastiksack: war er gut zusammengeknäuelt, sodass die warme Waffe nicht durch das Loch, das sie in den Plastiksack brannte, herausrutschen konnte? War garantiert kein Kassabon mehr im Sack, auf dem meine Kumulus- oder Kreditkartennummer stand? Gab es garantiert kein Haar, kein Hautschüppchen, kein Fingerabdruck von mir am oder im Plastiksack? Ist mein Alibi lückenlos?


Ein P.S. zum Thema Vatermord: ein langjähriger Brieffreund, heute Professor für Dogmatik, hat mir einmal gesagt: "Jeder akademische Grad ist letztlich ein Vatermord" Er wird erlangt durch Arbeit in Abhängigkeit einer Person, von der man sich am Ende trennen muss, und diese Trennung erfolgt stets in einem Gewaltsakt. Je rascher und schmerzloser dieser Gewaltsakt vollzogen wird, desto besser ist es für beide Seiten - wie auch für eine künftige neue Zusammenarbeit. Zusammenarbeit im allgemeinen wie auch mit der Person, von der man sich gewaltsam getrennt hat. Der Mord als Symbol, wichtig ist nichts als die saubere Durchführung.


  An den Anfang   audio

Spiel ohne Grenzen - 16.12.1999

Da sind wir nun, in diesem Haus, von dem niemand genau weiss, wie wir hineingekommen sind, noch, was wir darin wollten. Ein altes Schloss besichtigen? Eine Ausstellung? Die Alten Möbel, auf denen mehr oder weniger alltägliche Gegenstände angeordnet sind, könnten auf letzteres weisen. Unter den ausgestellten Gegenständen finden sich, selten zwar, Postkarten aus aller Welt. Wir befragen die herumsitzenden, netten Angestellten danach und erhalten in stets höflichem Tonfall Antworten, die zwar oft nicht zu den Fragen passen, zuweilen dunkel, mehrdeutig oder gar absurd sind, deren Aussagegehalt wir nicht entschlüsseln können, die trotz aller Höflichkeit zunehmend einen Unterton enthalten, der uns das Gefühl gibt, naiv zu sein, das Wesentliche noch nicht begriffen zu haben. Nachfragen empfiehlt sich immer weniger.
Ein Raum folgt dem nächsten. Manchmal ganze Enfiladen, manchmal um ein lichtloses Kämmerchen gruppierte Zimmer, selten Treppen und wenn, nur einzelne Stufen. Ob es ein oberes Stockwerk gibt? Die auf den Möbeln aufgestellten Objekte machen keinen Sinn - einige können als Spielzeuge, einige als Handwerksgeräte, einige als Sportwaffen gedeutet werden. Ein Teil der Postkarten ist abgestempelt, andere nicht. Auffälligerweise sind solche aus der Schweiz nie abgestempelt.

Irgendwann begreift einer aus der Gruppe, dass die Fenster vergittert sind und fragt einen Angestellten danach. Langsam werden wir auf die ausweichenden und mehrdeutigen Antworten aufmerksam. Da steckt anderes dahinter. Wir versuchen, den Grundriss des Gebäudes zu rekonstruieren, doch es gelingt uns nicht. Wir rätseln, über die Position des Ausgangs und über den Rückweg zum Eingang, bemerken aber, dass sich unsere Erinnerungen widersprechen. Bereits besuchte Zimmer haben ihr Aussehen verändert, nicht-besuchte sehen andern ähnlich. Die Angestellten erscheinen uns mehr und mehr als Wärter, die irgend etwas mit uns im Schilde führen und uns mit ihren höflichen Antworten irreleiten, uns am Herausfinden hindern. Wir schenken den Fenstern mehr Aufmerksamkeit. Sie führen vom Hochparterre in einen von dichter Vegetation und hohen Bäumen überwachsenen Park, aus dem manchmal seltsame Geräusche und Stimmen dringen. Die Scheiben sind aus altem, blasenreichem Glas, voll Staub und Regenspuren, lange nicht mehr gewaschen. Manchmal stehen auf den Möbeln Gläser mit undefinierbarer Flüssigkeit. Durstige Mitglieder der Gruppe, die davon getrunken haben, bleiben allesamt zurück und sind später nicht mehr auffindbar. Sind sie aus einer Art Spiel ausgeschieden? In einigen Räumen liegen auf dem Fensterbrett oder in Ecken Pfützen einer Flüssigkeit, die beim geringsten Kontakt mit Kleidern den Stoff entfärben und Löcher einbrennen. Die Postkartentexte sind dunkel und absurd wie die Antworten der Wärter, sie lesen sich oft wie versteckte Warnungen und Hinweise auf ein "Verhalten, das mehr Überlebensmöglichkeit verspricht". Überlebensmöglichkeit wo? Um was für Gefahren handelt es sich? Wer war in Gefahr? Wer ist bedroht?
Es gibt immer mehr Pfützen, manchmal tropft die ätzende Flüssigkeit auch von den Zimmerdecken. Unsere Kleider sind schon stark gezeichnet. Tropfen der Flüssigkeit auf der Haut hinterlassen dunkelgrüne oder schwarze Flecken, Wundschorf oder brennen sich bis ins Fleisch ein. Mangels Wasser kann man sie nicht auswaschen. Spritzer der einen Flüssigkeit reagieren zischend und teilweise rauchend mit Spritzern der anderen. Einige der ausgestellten Objekte können als Mord- oder Folterinstrumente gedeutet werden, tragen zum Teil Spuren, die auf eine entsprechende Verwendung hinweisen können. Schenken wir einem Fenster zuviel Aufmerksamkeit, mischt sich sofort der Zimmerwärter ein, lenkt uns ab, hindert uns an einer näheren Betrachtung. War das von Anfang an so? Unsere Gespräche werden leiser, flüsternd versuchen wir das in Worte zu fassen, was wir stockend rekonstruieren: wir befinden uns in einem Haus ohne Ausgang, die Postkartentexte sprechen von einem Spiel ohne Grenzen, in dem es um Leben und Tod gehe. Wo ist der Zusammenhang? Wie weit geht unser Spiel? Helfende Hinweise auf einen Umgang mit den sich mehrenden Gefahren gibt es nicht. Mit den Postkartentexten wohl aber Hinweise auf frühere Spielteilnehmer. Was bedeutet die Existenz des Poststempels? Auch die Objekte scheinen etwas mit dem Spiel zu tun zu haben. Wo ist den Weg zum Leben jenseits des Spiels?
Wir finden einen Raum, dessen Wärter eingeschlafen ist. Das Fenstergitter ist rostig, teilweise durch die Spritzer morsch, einzelne Stäbe lassen sich bei sorgfältiger Behandlung beinahe geräuschlos entfernen. Während wir andern mit unseren Rücken eine Sichtblockade gegen allfällig hereinblickende Wärter bilden, arbeitet ein Mitglied unserer Gruppe an der Entfernung einzelner Stäbe, bis die Lücke gross genug ist und wir uns einer nach dem andern herausquetschen können.

Ich springe in den Park, kann rechtzeitig einen Dornbusch ausweichen, an dem sich mein Vorgänger zerkratzt hat. Ein Pfad tut sich vor uns auf, spitze Steine und weitere Pfützen am Boden, hohe Dornenhecken lassen nur einen engen Weg frei, dem wir folgen müssen, um uns labyrinthartig dem Haus zu entfernen und näheren. Eine Verletzung mit den Dornen juckt stark, hinterlässt aufgeschwollene rote Spuren. Unterwegs ganze Schwärme von Stechmücken, die wir viel später erfahren, Krankheiten wie Cholera und Typhus übertragen. Am schwierigsten sind die Wegverzweigungen: welcher Weg führt vom Haus weg, welcher zurück, welcher in eine Sackgasse? Wir können nur der eigenen Intuition folgen, manchmal unterstützt durch den Willen, nicht ganz von der Gruppe getrennt zu werden, denn allein sein will hier niemand.

Trotz all dieser Schwierigkeiten findet das Häufchen, das von unserer Gruppe übriggeblieben ist, schliesslich einen Ausgang aus dem Irrgarten und wir stehen auf einer von hohen Bäumen umsäumten Wiese. Nette Herren kommen uns entgegen, für jeden einen, erkundigen sich nach dem Befinden, stellen Fragen, die rasch und spontan beantwortet werden müssen. Harmlose Fragen zum Teil, manchmal sich wiederholende, zum Teil sich in Nuancen unterscheidende. Was erst mit der Zeit klar wird: die Antworten werden gepunktet. Am Schluss die Wahl: Macht 50 Punkte. Willst du 50 jetzt oder 20 später? Auf Rat eines Souffleurs antworte ich 50 jetzt und schon kommen zwei Gehilfen, die mich festhalten, während der Fragende mir 50 Daumennagelkniffe in die Nase verpasst. Schon die ersten sind äusserst schmerzhaft, ab dem fünfzehnten ist meine Nase ein einziges grosses, Schmerzzentrum, ab dem dreissigsten glaube ich den Rest des Körpers nicht mehr zu spüren und zähle fiebrig mit, um nicht mehr als nötig zu erhalten. Aber man nimmt's genau hier.

Ich werde entlassen und auf die Wiese hinaus gewiesen. Taumle vorwärts, lieber etwas am Rande, in der Nähe der Bäume, und nach einer kurzen Schonfrist nähert sich mir der nächste nette Herr und stellt ähnliche Fragen. Meine Antworten sind nicht mehr so spontan. Das Prozedere wiederholt sich, ich bemühe mich, die berechnete Anzahl Nasen- und Ohrenkniffe sofort einzustecken, in Gedanken dabei irgendwelche sinnlosen Kinderverse vor mich hin zitierend, um den Schmerz besser verdrängen zu können, nur nichts auf eine spätere Prüfung übertragen, wer weiss, was noch folgt. Mein innerer Rückzug hilft mir, etwas ausserhalb der Situation zu stehen und zu registrieren, was um mich herum geschieht: von den Leuten aus meiner Gruppe sehe ich kaum einen mehr. Bei einigen der Befragten werden Antworten zurückgewiesen, was stets mit einem markanten Anstieg der Punktzahl begleitet ist. Wer sich Hautätzungen zugezogen hat, wird bevorzugt am Rande dieser gekniffen. Viele der Befragten haben deutlich gerötete, angeschwollene, zum Teil blutende und verunstaltete Körperteile, vor allem an Kopf und Hals, viele sind zusätzlich an der Psyche verunstaltet. Flehen um Gnade, suchen Trost beieinander, indem sie sich umarmen, stecken sich aber nur gegenseitig mit Krankheiten an, die sich auf dem Weg durchs Labyrinth eingefangen haben, oder übertragen sich Dosen der verschiedenen Flüssigkeiten, die sich in Kleider und Haut gefressen haben. Es kommt auch vor, dass Trostsuchende nach Küssen mit sabbernden - Mitgefangenen? Folterknechten? Spielobjekten? - umfallen und sofort weggeräumt werden.

Einen auffallend Standhaften sehe ich, der nach seiner letzten Befragungs- und Bestrafungsrunde angewiesen wird, sich eines aus dem Dornenlabyrinth neu in den Park eingetretenen Jünglings anzunehmen und mit Befragen zu beginnen. Nach dem Gequältwerden kommt als nächste Stufe also die seelische Pein des Quälenmüssens. Schaudernd frage ich mich: wer ist was? Wer quält wen? Was darf man, was nicht? Gibt es einen Ausweg? Was kommt als nächstes?

Eine Huis-Clos-Situation. Die Aufgabe aller ist letztlich das Quälen der anderen. L'enfer, c'est les autres. Die Quälenden sind selbst Prüflinge, wollen bloss weiter- und entkommen. Nur: ist der Aufstieg ein Hinein, oder gibt es auch die Option des Herauskommens? Der Aufstieg ist notwendig, denn ein Verweilen auf einer Stufe bedeutet ein Anreichern mit spielstufenspezifischen Giftstoffen oder eine unnötige Zunahme seelischer Zermürbung. Trost suchen bei Mitspielern kann tödlich sein. Also Aufstieg als einzige Lösung? Gibt es keinen Ausgang? Führt jeder Weg nur in schlimmere Varianten? Oder, wie auf einer der Postkarten stand: gibt es ein Leben jenseits des Spiels?


  An den Anfang

Heimkommen - 17.1.2000

Ein Ausflug meiner Internatsgruppe führt am Haus meiner Eltern vorbei, das um etwa zehn Parzellen gegen das Dorf hin versetzt steht. Ich setze mich ab von der Gruppe, trete zur Gartentür ein, klingle an der Tür, mir wird geöffnet. Alle meine Geschwister sind erwachsen geworden, niemand erkennt mich mehr. Die jüngste Schwester grüsst mich distanziert, die verstorbene Zweitälteste zeigt keine Anzeichen, dass sie mich in ihrer Erinnerung irgendwo einordnen kann, von der dritten weiblichen Person in ungefähr meinem Alter weiss ich nicht einmal mehr den Namen. Ich trete ins Haus als Fremde, ohne Gepäck.


  An den Anfang   audio

Das Lager - 18.1.2000

Ich weiss nicht, ob Sie unser Städtchen kennen. Ein kleines Städtchen am Rande der Berge. Kaum bekannt. Heute war es in den Medien. Eine kurze Meldung in den Morgennachrichten: auch bei uns gebe es eines dieser Lager. Sie wissen schon. Wissen? Was können Sie schon wissen.

Ich arbeite in einem der alten Gebäude in der Nähe des Schlosses. Nette Räumlichkeiten, heitere Büroatmosphäre, viele junge Leute. Sondereinheit für die Leitung. Viele kleine Spezialaufträge. Es braucht etwas Phantasie, um sich vorzustellen, wofür die Abklärungen dienen, an denen zuweilen wir arbeiten. Puzzleteile eines Ganzen, das aus unserer Perspektive unmöglich zu schauen ist. Oder doch? Eines weiss ich: auch wir sind Versuchspersonen. Auch an uns wird ausprobiert. Aber für die Auswertung der Informationen, die wir liefern, sind andere zuständig. Was die sich wohl denken? Wofür sie unsere Puzzleteile brauchen?

Beim Mittagessen ist die Mediennotiz natürlich auch Thema. Neben den aktuellen Sportresultaten und sonstigen Belanglosigkeiten. Und dem Essen. Manchmal gibt es seltsame Ingredienzen und ein heiteres Ratespiel, worum es sich handeln könnte, begleitet die Mahlzeit. Von "Experimentalfleisch" spricht man. Manchmal können wir auch Produkte aus der Fabrik testen. "Alternativleder" zum Beispiel, Spezialfette, neuartige Öle, Seifen. Heute gibt es zum etwas trockenen, leicht süsslichen Fleisch eine weisse Sauce, "Rahmersatz". Ein ungewohnter Geschmack, etwas sauer, festere Konsistenz, leicht körnig, auf der Schwelle zum partiellen Festwerden, fast bricht die Sauce. Belustigt unterhalten sich meine Bürokollegen, woraus die Sauce wohl gewonnen sei. Pflanzlich? Tierisch? Synthetisch? Ja, etwas Synthetisches muss es sein. - Beim Servieren rutscht der Kellner aus und schüttet mir eine halbe Kelle auf die Hose, knapp unter dem Gürtel, und es ist ihm peinlich. Natürlich ist der Fleck rasch weggewaschen. Dennoch bleibt der Gedanke. Nein, es ist nicht rein synthetisch, es ist gewonnen aus etwas, und ich ahne woraus. Darf man soweit denken? Ich schweige, versuche mitzulachen, wenigstens äusserlich, innerlich suche ich fiebrig nach Anhaltspunkten. Passt dieses Puzzlestück wirklich in das von mir Rekonstruierte?

Über diese Themen darf man mit niemandem sprechen. Jeder Mitwisser kann gefährlich sein, jeder kann sich verplaudern, kann Informationen weitergeben. Jeder kann aber auch zur Täterseite gehören. Oder sind wir alle Täter? Mittäter? Muss man Mitwisser sein, um Mittäter zu sein? Wo genau liegt die Grenze zwischen Mitarbeiter und Mittäter? Zwischen Testperson und Mittäter? Wo diejenige zwischen Konsument und Mittäter? Wie gewiss muss das Mitwissen sein, um einen Mittäter mitschuldig zu machen? Was genau konstruieren wir da zusammen? Was genau wird in unserer Fabrik hergestellt und woraus? Ich habe die leider unbelegbare These, dass unsere Abteilung eine Aussenstelle ist, eine Art Privilegiertenlager. Oder ist das nur mein Verfolgungswahn? Wie sie doch witzeln und scherzen, flirten und kokettieren, ich unter ihnen, nur nicht auffallen, und doch...
Während des Nachmittags arbeite ich weiter an meinem Spezialprojekt, bald ist Abgabetermin, die Auswertung muss optisch aufbereitet werden, die Berechnungen müssen sauber nachvollziehbar sein, die Schlüsse einfach und klar formuliert. Item, der Nachmittag ist schnell vorbei, und beim Eindunkeln mache ich einen kurzen Abstecher in die Stadt.

Auch im Bus ist die Mediennotiz des Vormittags Gesprächsthema. Wer kommt auf diesen Gedanken, in unserem Städtchen, was die Medien doch alles erfinden, da hat sich einer wichtig gemacht, und doch könnte etwas daran sein, da gibt es doch diese Fabrik, oder die andere, oder das verlassene Kasernenareal, immerhin besteht die Möglichkeit, und man muss abwarten, was die Journalisten weiter herausfinden - aufbauschen, wirft ein älterer Herr ein - was auch immer, meint die Dame hinter ihm, die Augen offenhalten und sich selbst ein Urteil bilden.
Wir fahren an unserem Fabrikareal vorbei. Licht in den Lagerhallen. Ein Aufatmen geht durch den Bus: Nachtschicht. Ein ganz normaler Produktionsbetrieb. Wussten wir's doch. Sturm im Wasserglas, bei uns, da gibt's sowas nicht. Und schon schweifen die Gesprächsthemen und Blicke ab. Nur meiner nicht. Ich bin noch nicht überzeugt. Da - es wird ein Blick auf den Innenhof frei; ein fast leerer, kasernenartiger, asphaltierter Hof. Im rosa Dämmerlicht erkenne ich einen Haufen, mein Herz stockt - Haufen aus Menschenleichen? - nein, nun atme auch ich auf, es sind Affenkörper. Vielleicht sehe ich vor lauter Ahnungen wirklich schon Gespenster. Ich drücke den Halteknopf und steige an der nächsten Station aus.

Mit der Spezialberechtigung des Privilegiertenlagers habe ich zu allen Räumlichkeiten unserer Firma Zutritt, auch zu den Produktionsbetrieben. Kein Portier fragt nach einer Begründung, und wenn, genügt das Wort "Spezialeinsatz". Ich betrete den Innenhof. Eine unterdrückte Hektik ist zu spüren. Aufseher sind keine zu sehen. Es muss ein Apéro sein, eine Spezialübung, eine zentrale Informationsveranstaltung, eine Reaktion auf die Mediennotiz. Jedenfalls sind Aufseher nicht sichtbar, vielmehr, sind sie sichtbar abwesend. Die - Häftlinge? Arbeiter? Insassen? - suchen die Gunst der Stunde zur Flucht zu nutzen. Zum unsichtbaren Untertauchen, zum nicht-nachspürbaren Entkommen. Eine Massenflucht würde auffallen, eine Bresche würde die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die Abwesenheit der Aufseher kann eine Falle sein, überall können weitere Fallen lauern, die Flucht muss perfekt und effizient sein, muss in der Nacht weit genug führen, an einen Ort, wo der Häftlingsstatus nicht mehr erkennbar ist, kein Weg darf zurückführen, niemand darf wissen, ein Mitwisser, auch unter den Häftlingen kann ein schwaches Glied sein, ein versteckter Aufseher, ein Wasserträger, der zur Schaffung eigener Privilegien andere verrät. Da sind sie wieder, die Gedanken vom Mittag: wo ist der Unterschied zwischen Opfer und Täter? Sind nicht viele Opfer Mittäter? Werden sie im Falle eines persönlichen Angriffs, einer Zurredestellung zu Tätern? Sind die Opfer allein durch ihre Opferbereitschaft Mittäter? Sind die Täter Mitopfer? Alle? Nein, es gibt nicht nur den Graubereich. Es gibt auch eindeutige Opfer und eindeutige Täter. Täter, die im vollen Bewusstsein und ohne Not handeln und Opfer, die trotz eigener Anstrengung nur verlieren können.

Ich habe schweigend den Hof überquert, trete in ein Gebäude und fahre mit dem Lift ins Stockwerk J. Beim Verlassen des Liftes stehe ich genau im Schnittpunkt zweier sich rechtwinklig schneidender Korridore. Zögere einen kurzen Moment, um mich zu orientieren. Da kommt von beiden Korridoren je ein Mensch auf mich zu - ein Aufseher von der einen, ein flüchtender Häftling von der anderen Seite. Ich drücke den Liftknopf, die Tür öffnet sich, der Häftling schlüpft hinein, ich drücke für ihn den Knopf F - gute Fluchtmöglichkeit, falls er sich richtig anstellt, doch ich kann ihm nichts verraten, alles geht so schnell - die Tür schliesst sich, der Lift fährt ab, da erreicht mich der Aufseher, was ich hier mache, wohin ich ihn geschickt habe, ich antworte, Stockwerk E - der sichere Tod - er atmet auf, dann ist ja alles gut. Keine Frage nach meiner Identität, ich bin als Arbeiter des Privilegiertenlagers erkennbar. Der Aufseher biegt in den Korridor ein, aus dem der Häftling gekommen ist; ich nehme den nächsten Lift vorbei am G-Stockwerk, der Experimentalabteilung, von der ich weiss, dass sie Laboratorien zur Gewinnung von Alternativmaterialien beherbergt, "Menschen, die alles hergeben zum Wohle der Firma", "echte Vorbilder", wie bei uns oft betont wird.

Im F-Stockwerk gibt es eine Terrasse, auf die trete ich in die kühle Nachtluft. Es ist schon fast dunkel geworden und spürbar kehren die Aufseher zurück. Die unterdrückte Hektik ist irgendwie kompakter. Ich trete zur Seite, stelle mich in den Schatten des Gebäudes, lehne mit dem Rücken an die Hauswand. Kurz nach mir quillt eine Gruppe von Häftlingen aus der Glastür, blickt sich suchend um, da schlägt einer von ihnen, der mir irgendwie anders scheint als die andern, zentral angestellt, habe ich den Eindruck, begründen kann ich diesen Eindruck nicht, schlägt er den andern vor, hinunterzuspringen, in den Abwasserkanal, der am Balkon vorbeiführt. Blickwechsel, Schweigen, da ergreift ein anderer die Initiative, versuchen wir's doch, im Wasser zu waten verursacht keine Spuren, das Wasser muss irgendwo hinausführen, in die Freiheit, kommt, es ist ein Versuch wert. Und springt. Die andern springen ihm hinterher, ausser dem irgendwie Anderen, beginnen hörbar zu waten, dann plötzlich ertönen Schreie, nicht lange, Gurgeln und wieder herrscht Stille. Der irgendwie-Andere wendet sich zur Glastür, tritt ins Haus. Ein versteckter Aufseher. Mich hat er nicht gesehen. Ich wechsle meinen Standort auf die andere Seite der Glastür, verberge mich im Schatten der Hausmauer, diesmal mit Blick auf den Kanal, in dem jetzt nur noch blanke Knochen schwimmen. Die Flüssigkeit im Kanal ist gar kein Wasser. Im Dunkel bewegt sich etwas. Jemand. Ein Mensch, er springt von Stein zu Stein, läuft auf den erhaltenen Resten des Betonmäuerchens am Kanalrand, versucht der Flüssigkeit auszuweichen, ist ziemlich erfolgreich darin. Und wieder tritt eine Gruppe von Flüchtenden aus der Glastür, begleitet vom irgendwie Anderen. Wieder schlägt er in harmlosem Tonfall vor, kommt, lasst uns springen, wieder springen die ersten und er wendet sich zurück zum Haus. Doch noch sind nicht alle gesprungen. Unter den Hinteren schöpfen zwei Verdacht, da stimmt was nicht, schau mal diese hellen Dinger, die da schwimmen, das sind doch .... Der auf dem Mäuerchen Gehende und von Stein zu Stein Springende versucht die Neuen zu warnen, ohne Erfolg, sie hören nicht, und er erhöht nur das Risiko, sich vollzuspritzen, muss zusehen, wie sie verderben, muss seinen Weg allein gehen, hinter ihm geht alles so schnell. Der irgendwie Andere dreht sich um, stösst die Zweifelnden übers Geländer, sie fallen direkt ins Nass ...und schon kommen die Schreie.

Sobald ich wieder allein bin, verdrücke ich mich zurück ins Gebäude, fahre per Lift zum Lieferanteneingang, suche nach einem Weg zurück zum Hof, komme am Kanal vorbei, sehe weitere Flüchtende springen, kann ihrem Verenden schon nicht mehr zuhören, muss mich taub stellen, um mich selbst zu schützen, sehe in einiger Distanz den Springenden sich am schmalen Mäuerchen des Kanalrandes entlangdrücken, sehe ihn wieder springen, wie lange noch, frage ich mich, hoffe für ihn, hoffe, dass hoffen nützt, helfen ist unmöglich, ist lebensgefährlich. Ich finde den Fabrikhof, gehe wo immer möglich im Schatten von Gebäuden, der Fabrikhof füllt sich zunehmend mit Aufsehern, die Aufregung wird mehr oder weniger kultiviert, nie mit offener Gewalt niedergedrückt. Ordnung stellt sich ein, wird unter Mithilfe von eifrigen, auf den eigenen Vorteil bedachten Häftlingen wiederhergestellt.

Ich finde den Ausgang am andern Ende des Fabrikareals, trete hinaus, bin fast im Stadtzentrum, haste durch die Gassen der Normalität, besuche eine Bekannte, kann ihr nichts sagen, darf mir nichts anmerken lassen, niemand weiss, was sich hinter der Fassade des Anderen verbirgt, frage nach ihrem Befinden, erhalte eine nichtssagende Standardantwort, trinke mit ihr einen Kaffee, bitte um einen Alltagsgegenstand, den sie mir ohne Rückfrage gibt, ein harmloses Haushaltshilfsmittel, verabschiede mich, es ist schon spät, ich muss zurück. Mit dem erhaltenen Gegenstand gehe ich auf dem kürzesten Weg durch die Gassen dem Schloss entgegen, treffe auf einen verängstigten Flüchtenden, drücke ihm wortlos den erhaltenen Gegenstand in die Hand, weiss, dass er ihm im richtigen Moment helfen wird, wenn er klar denkt und sich richtig anstellt, meide jeden Augenkontakt, kann ihm nichts sagen, auch er könnte eine Falle sein, die Zeit ist knapp, gleich ist der Ausgang vorbei, wenn ich nicht schnell zurück bin, geht es auch mir ums Leben, haste den Berg hoch. finde mein Zimmer, ziehe mich zurück, bin mit mir und meinen Gedanken allein.

Beim Ausziehen fällt mir wieder der beinahe weggewaschene Fleck vom Mittagessen auf, Stockwerk G denke ich, wie werden die Menschen wohl gehalten, von deren Drüsen dies gewonnen wird, und was geschieht mit ihnen, wenn sie nicht mehr genügend produzieren, ist dann das nächste Produkt an der Reihe, bis sie verwertet sind? Und wohin führt der Abwasserkanal? In die andere Fabrik? Werden dort die Eiweisse herausfiltriert und zu neuen Produkten aufbereitet? Zum Beispiel zu Alternativfleischkonserven? Ein ganz normaler Produktionsbetrieb denke ich, und nein, in unserem Städtchen gibt es sowas nicht, die Medien haben übertrieben, etwas aufgebauscht, und wie soll ich jetzt noch einschlafen können, damit man mir bei der Arbeit morgen nichts anmerkt...


  An den Anfang   audio

Gebärklinik - 12.7.2000

Ich bin auf dem Weg zur Gebärklinik, per Tram und zu Fuss, habe unterwegs mehrere Wehen, die 33. vor dem Eingang, wo ich mich am Fensterbrett neben der Tür festhalte. Als sie abgeklungen ist, trete ich ein und bitte um Aufnahme, aber man hat kaum Zeit für mich, weil da eine Patientin ist, die kurz vor ihrer ersten Wehe steht und dringend Betreuung benötigt.

Tatsächlich steht eine Handvoll Pflegerinnen und Pfleger neben einem Bett, die einen halten einer Dame in hellgelbem Spitzennachthemd und aufgelöstem, dunklem, langem Haar die Hand, andere tupfen ihr kühle Tücher auf die Stirn oder reden ihr gut zu. Ich bleibe abwartend im Aufnahmeraum, stelle mich neben ein Bett, habe schon meine nächste, die 34. Wehe und merke, jetzt geht's los, lasse mich darauf ein, presse, spüre, wie die Fruchtblase kommt, und viel Wasser und Blut, und dann der Kopf des Kindes, halte mich am Bettrand fest und kauere mich teilweise hin, das Kind, dass ihm nur nichts geschieht...

Da kommt es, ich sinke in die Knie und es fällt einigermassen sanft auf die Bescherung am Boden. Noch immer interessiert sich kein Mensch für mich, für uns. Ich atme einmal tief durch, nehme das Kind auf und teile einer Schwester mit, dass es da was zum Putzen gäbe, und sie macht sich mechanisch ans Putzen, ohne einen Blick von der Frau zu werfen, die wirklich Hilfe benötigt. Ich gehe zum Klo, beginne das Kind und mich zu waschen, noch immer habe ich mein weites Kleid an, mit dem ich gekommen bin. Nur hat es jetzt ein paar Flecken bekommen. Ich hebe es zum Waschen bloss hoch, jemand fragt mich noch, ob ich allein zurechtkomme, doch bevor ich antworten kann, ist die Person schon weg. Eine rhetorische Frage. Jetzt müsste ich das Kind an Haut nehmen, denke ich, es ist das beste für das Kind, aber wie soll ich das Kleid ausziehen, mit dem Kind in den Händen, diesem kleinen, warmen, schreienden, aber immer noch klebrigen Ding, und da ist ja noch die Nabelschnur, die müsste man durchschneiden.

Ich gehe hinaus ins Aufnahmezimmer und bitte, ob mir jemand die Nabelschnur durchschneiden könne, doch die sind alle so furchtbar beschäftigt, ob ich nicht ein bisschen Geduld haben könne, die Patientin da, sie stehe ganz, ganz kurz vor ihrer ersten Wehe, die bräuche Betreuung etc. Jemand reicht mir eine alte, teilweise verrostete Schere und ich schneide zaghaft und auf dem glitschigen, zähen Strang immer wieder ausrutschend, die Sache durch. "Naja, allzu schön ist es nicht geraten, denke ich, aber Hauptsache, es ist getan.

Geburt Variante III - 9.3.2004

Die Dritte Variante Geburtstraum:
Nach einer unbeschreiblich unkomplizierten Schwangerschaft bin ich noch am Geburtstermin unsicher, ob ich überhaupt schwanger bin, "ach nein, ich mein es nur."
Die Niederkunft selbst ist extrem leicht und braucht keine Hilfe. Mehr mechanisch als unter den vielbeschriebenen Schmerzen nehme ich das Baby entgegen, lege es an die Brust, es schreit kaum, ist ganz mager für einen Säugling, und natürlich runzelig und verschorft. Erst an der Brust schaue ich nach: ist es ein Mädchen oder ein Junge? Ein Junge sehe ich, und teile es dem Vater per e-Mail (!!!) mit - übrigens nicht nur im Traum, sondern nach einiger Überwindung auch real, und der reagiert ganz amüsiert.


  An den Anfang

Hausführung - 25.12.2000

Von Hans Eder geträumt, der nach der Jahreswende als neunte Generation sein Familienunternehmen weiterführen wird. Er habe uns, u.a. Samuel und mich, durch seine herrschaftliche Familienvilla geführt. Ein herrschaftliches, in der Grosszügigkeit des 19. Jahrhunderts gebautes englisches Landhaus mit Windfang, Felsenkeller und mehreren Eingängen für Personal, Boten, Familie, Gäste.

Der repräsentative Eingang führt zu einer Empfangshalle mit dominantem Haupttreppenhaus. Im einen Nebentreppenhaus, das zu den ehemaligen Bedienstetenräumlichkeiten führte, begann es: an der Nische eines zugemauerten Fensters war ein Schild angebracht, auf dem Name und Lebensdaten eines vor ungefähr 180 Jahren verstorbenen Eders erinnerte. "Was ist das?" fragte Samuel, doch Hans winkt ab: unwichtig.

Doch bald geht es weiter. Hie und da führen von den geschmackvoll mit historischen Möbeln eingerichteten Zimmern aus niedere Durchgänge zu höhlenartigen, kühlen Grüften, in denen Gebeine von Angehörigen liegen, die meisten mit sorgsam gepflegten Inschriftentafeln. Zum Teil liegen die Skelettteile ganz an der Oberfläche der gestampften Erde, schimmern weiss im dämmrigen Licht - ziemlich gruselig. "Zehn Generationen der Eder-Familie", verkündet Hans mit stolzgeschwellter Brust, aber auch mit einem leise besorgten Nebenton.

Ich versuche zu ergründen, wer in eine Massengruft kommt, und wer Anrecht auf eine Fensternische oder gar auf ein einzelnes Grab hat. Es ist auch zu sehen, dass nicht alle Anwesenden auch hier verwest sind, einige scheinen nach ihrer Ausgrabung vom Friedhof hierher transferiert worden zu sein. "Es gibt auch unrichtige, uneigentliche Eders", erläutert Hans vage auf einen fragenden Blick meinerseits: "angeheiratete, erbunberechtigte jüngere Geschwister, oder Angeheiratete von erbberechtigten Geschwistern zum Beispiel." Er deutet einige familieninterne Nuancen in den Bestattungsriten an - wer Anspruch auf welche Art von Begräbnis habe - eine ziemlich komplizierte Angelegenheit.

Die Skelette in der Grossen Gruft, die wir am längsten besichtigten, liegen praktisch alle frei, eines scheint mit der Hand zu winken. Eine fette Henne in dunkelgrauem, mit weissen Sprenkeln versehenen Federkleid rennt zwischen ihnen herum. Hans packt sie und schlägt sie gegen eine verputzlose, ruinenartig halbzerfallene Steinwand innerhalb der Gruft. "Falls du Lust auf Hühnersuppe hast", ruft er über die Schulter Samuel zu, der die Grüfte bald zu meiden begonnen hat, und der im wunderschönen, mintgrün bemalten klassizistischen Raum nebenan die weissen Stukkaturfiguren studiert, "musst du es jetzt sagen." Doch es kommt keine Antwort und Hans kässt das Huhn weiterrennen. Ich nehme mir vor, Samuel nach unserem Besuch zu fragen, ob auch dort im Stuck Familientradition und -geschichte dargestellt ist, und was für Geschichen und Anekdoten erzählt werden, wache aber viel zu früh auf, um eine Antwort zu erhalten ...

Tja. der Hans - denke ich mir beim Aufwachen - bei dem gilt's jetzt ernst mit Familientradition-Weiterführen...


  An den Anfang

Flug - 5.2.2001

Im Traum mit einem Zweiplätzer über eine wunderschöne südmediterrane Landschaft geflogen, mit farbmasrierten Felsen wie um Petra, über Pinien, Akazien, Ölbäume, Zitrushaine wie am Kinneret, mit Strassen, die wie von der Produktionsstange direkt auf die gestampfte Erde gewalzt sind, wie um Rom, daneben aber in sauberen Rechtecken angeordnete und von Bewässerungskanälen umrahmte allzu grüne Wiesen wie um Netanya. Mal tief über dem Boden den verwachsenen alten Baumstämmen entlang gesteuert, mal abgehoben und weit über der Landschaft Runden gezogen. Jede Sekunde genossen und kaum genug bekommen können von der wechselnden, stets überraschenden Landschaft.
Dem Mitfahrer das Steuer überlassen, aber nach kurzem festgestellt: du fliegst zu langsam für diesen Gang, der Motor überdreht, gib Gas oder schalte runter, bitte. Trotzdem weiterhin den Flug aus vollen Zügen genossen.

Zum Schluss Richtung Brig gesteuert, dessen Berge in den Jahren, in denen ich sie nicht mehr gesehen habe, gewaltig erodiert zu haben scheinen, so dass mein "geliebtes Städtchen" nur noch zwischen Hügeln liegt. Grüppchen von rotbemützten Studenten herumstehen und -gehen sehen, am Saltinarand beim Schwesternfriedhof gelandet, ausgestiegen, die eigene Mütze auf den Kopf gesetzt und zur Stadt hinunter spaziert. Hallo, Hallo, sieht man dich auch wieder mal, und in mir drin dieses vor Glück beinahe platzende Herz - der Flug war einfach toll.


  An den Anfang   audio

Schlangen - 21.3.2001

Im Traum zuhause gewesen. Ein mir unbekanntes Haus. In einem oberen Stockwerk wohnen die jüngste Schwester und der Bruder. Es gibt ein hinteres Zimmer, das betrete ich und treffe unsere zweitälteste, verstorbene Schwester. Ein dicker Teppich liegt am Boden, der ist von grober grüner Textur. Hier und da taucht aus diesem Teppich ein Schlangenkopf auf. Man muss Acht geben, dass man nicht auf ihn tritt.

Hier und da? Je länger ich mich auf dem Stockwerk bewege, desto mehr eSchlangen ntdecke ich, bis ich bemerke: es ist nicht ein grüner Teppich, es sind ausschliesslich Schlangenkörper. Eine an der andern biliegen sie da und ich n nie auf etwas anderes als auf sie getreten. Die jüngste und die zweitälteste Schwester sind im hinteren Zimmer, verhandeln im Flüsterton, sitzen in aller Seelenruhe zwischen (nicht auf!!!) ihren giftgrünen Mitbewohnerinnen. Lassen sich einzelne Exemplare durch die Hände gleiten. Die Zweitälteste fragt nach dieser und jener Art, ganz viele müssen es sein, ich hab alle Bezeichnungen schon vergessen, offensichtlich alles sehr giftige Species und eine Sammlung von Einzelstücken.

Angeekelt erwache ich, something fishy going on.


  An den Anfang   audio

Weihnachtsplätzchen - 25.3.2001

Einen ehemaligen Mitstudenten an seinem Arbeitsplatz besucht. Die zweitgrösste Schweizer Bank, Abteilung Weihnachtsplätzchenbacken. Auf einem Fliessband kommt der ausgewallte Teig an einem guten Dutzend Leuten vorbei, von denen jeder ein Förmchen in der Hand hält, um es hie und da, mit viel Rücksicht auf andere Stecher und grosszügigen Zwischenräumen, so gut es geht in den vorbeilaufenden Teig stechen. "Das kann doch nicht sein", denke ich, "so viel Teigverschwendung!" Neinnein, beruhigt man meinen ungläubigen Blick, kein Grund zur Sorge, die Bank hat viel Geld, und dies ist eine Sonderaktion, die darf was kosten. Das liebevoll verpackte und mit einem Mäschchen mit Firmenlogo zugebundene Celophansäckchen à 4 Stück wird dann für 6.50 verkauft. "Könnte man auf 2.50 bis 3.- senken", denke ich, "man müsste eine Ausstechmaschine einbauen", ich stelle mit einen Zylinder vor, der direkt hinter der Walze installiert ist, die Förmchen samt minimiertem Abstand bereits fix eingebaut hat, vom Teigband angetrieben wird und mittels eines leichten Gewichtes in den Teig gedrückt wird. "Kostet zwar ein paar Stellen, nutzt aber dem Produkt und dem Firmenruf." Werde die Idee wohl so rasch wie möglich dem Management eingeben.

Ich schaue mich um, erkenne die meisten der Fliessbandarbeiter aus Studienzeiten wieder, sie lächeln mich müde an, als wäre ich ein Stellenbewerber, "einer mehr" höre ich sie denken; jemand stellt die Maschine ab, für eine Rauchpause, wo man mir erklärt, dass dies die einzigen Stellen seien, die es für Geisteswissenschaftler shalt so gäbe. Doch ie seien zufrieden, es sei eine nette und &gemütliche Atmosphäre. quot;Vielleicht nicht mehr lange", denke ich mit einem Seitengedanken auf meine Stechwalze, und "eigentlich schade, dieses nette kleine Paradieschen zu zerstören."

Akademikerflut. Und: nächste Woche Controller-Kurs.


  An den Anfang

Auferstehung - 4.9.2001

Telefon. Der Lehrer meiner Lieblingsnichte, der ältesten Tochter meiner ältesten Schwester, ruft an und teilt mir mit, das Kind komme nicht mehr zum Unterricht, ob nicht ich etwas unternehmen könne.

Ich antworte wahrheitsgemäss und mit unserem familieneigenen Fatalismus: nein, ich kann nicht mehr, habe keinen Einfluss, keine Handlungsgewalt mehr. Fahre fort mit der Erklärung, das Kind befinde sich in einer sehr schwierigen Zeit, da seine Mutter in diesem Alter aus der Schule geflogen sei, was deren Leben den entscheidenden Wendepunkt gegeben habe. Es sei meiner Meinung nach an der Zeit, das Kind in ein Internat zu bringen, damit es in aller Ruhe lernen und sich auf sein eigenes Leben konzentrieren könne.

Der Lehrer hmmmmmt gedankenverloren und verabschiedet sich. Als auch ich abhänge, erhebt sich vor meinen Augen mit aller deutlichkeit ein Bild: unsere zweitälteste Schwester lacht mich mit ihren vom Heroin schwarzen Zähnen breit grinsend an. Das totgeglaubte Böse ist wiedererstanden.

Wie habe ich ein langes Internatsleben lang gebetet? "ich glaube ... an die Auferstehung der Toten..." Würde ich heute noch beten, wäre es: "bewahre uns davor."

Erwacht. Der Regen rauscht in Strömen und draussen heult die Sirene eines Krankenwagens.


  An den Anfang

Sprung ins Nass - 29.6.2002

Ich stehe auf einer Terrasse, gut zwölf Meter über einem Schwimmbecken. Die Luft ist angenehm warm, das Wasser verspricht attraktive Kühle und Erfrischung. Ich springe. Irgendwas muss vorher geschehen sein. Denn mit dem Sprung von der Terrasse hege ich die seltsame Hoffnung, das unvermittelte Eintauchen ins kühle Nass würde meinem Herzen einen tödlichen Schock verleihen.

Beim Eintauchen jedoch realisiere ich: nicht in einem Schwimmbecken bin ich gelandet, sondern in einer Kläranlage. Rotierende Balken schlagen mich wieder und wieder und wieder, tauchen mich ab ins immer dicker werdende Nass. Dann setzen Verarbeitungsmaschinen ein, welche ebenfalls wieder und wieder und wiederkehren, um sämtliche Festsubstanzen im Becken zu verkleinern. Ich reagiere rasch, tauche unter ihnen durch. Einmal, zweimal, unzählige Male. Immer tiefer muss ich tauchen. Doch ich bin erstaunlich fit. Dank rhythmischer innerer Luftpumptechnik - vom Hals zur Lunge, zum Hals, zur Lunge - schaffe ich es beinahe spielend, abzutauchen, naufzusteigen, Luft zu holen, eu abzutauchen. Wie tief ich tauchen muss, spüre ich an den dumpf vibrierenden Maschinen und an den Stahlbürsten, die mich hin und wieder streifen, aufschürfen, aber nie ernstlich verletzen.

Ich bin zwar fit, doch da die Verarbeitungsmaschinen unermüdlich wiederkehren, beginne ich mit der Zeit zu spüren, dass ich hier eine wirklich sportliche Hochleistung vollbringe. Dazu kommt, dass die Masse, in der ich auf- und abtauche immer dicker wird. Butterdick ist sie teilweise, und von menschlichen Gebeinen durchsetzt. Wann kommt die nächste Maschine, denke ich, und schaue mich nach einem Weg aus dem Becken um, und entdecke ein paar Meter entfernt eine Leiter aus dem runden Bottich. Ich überlege, ob ich einen nahegelegenen Oberschenkelknochen als Stütze und Gehhilfe benützen soll, aber ich bin zu müde, zu erschöpft vom Tauchen, kann nicht mehr aus der Masse Steigen und bis zur Leiter gelangen, erwache.

Ob ich überlebt habe, weiss ich nicht. Nehme es aber an, da ich immerhin aus dem Traum erwacht bin.

"Die Bevölkerungs-Durchknetmaschine", denke ich zehn Jahre danach. Den ganzen Teig permanent durchkneten und alles in die längt aus allen Fugen ächzenden Sozialtöpfe pressen, um immer mehr und mehr und mehr Menschen in die sterbende Wirtschaft zu integrieren... Wer wird dies überleben? (Um diese Frge weiterzugeben habe ich diesen Traum in den Beat San eingebaut.)


  An den Anfang

Klone - 19.9.2002

Eine Gesellschaft, aus unfruchtbaren Klonen. Darin ein asiatisches Mädchen, real. Ich, wie oft in Träumen männlich, entdecke sie in der Masse.

Sie ist "Zugbegleiterin" bei einem Transport schwarzer, kaum die Flauschigkeit und Grösse von Daunen übersteigenden Geflügelfedern - der letzten fertilen Genmasse des Universums. Ich beobachte sie still, ruhig, erobere ihr Hez. Still, ruhig, es darf nichts ausgesprochen werden, denn nicht nur Wände, ALLES kann Ohren haben.

Sie beschliesst endlich, sich aufs Experiment einzulassen, nimmt mich mit. Wir lassen alle Federn ausser einer draussen, machen eine Leerfahrt im dunklen, zugeschweissten Wagen, zeugen darin ein Kind, welches kurz nach dem Akt aus einem hockergrossen, schwarzen, mattglänzenden Ei schlüpft.

Nach unserer Rückkehr haben wir zwei Personen zu verstecken: mich und das Kind. Das tun wir zunächst in einer zugdeckten, von einem alten Sofa abgeschirmten Ecke des Transportwaggons, wo wir jedoch nur allzubald entdeckt werden.

Überraschung: statt einer strengen, von Gewalt begleiteten Sanktionsmassnahme findet nur ein nüchternes Registrieren statt.

Unser Kind entkommt, und auch an mit geht das Interesse bald wieder verloren.


  An den Anfang

Drei Generationen - 30.1.2004

Wohl inspiriert von Great Expectations , das ich gestern Nacht während dem monatlichen backupbrennen geschaut habe, habe ich einen kompletten Roman geträumt. Er erstreckt sich über drei Generationen von vier Freunden, die sämtliche früh sterben, jedenfalls wird nach Szenen der Jugend ausgeblendet. Leider mag ich mich nur noch an Fragmente erinnern.

In der ersten Generation kommt mindestens eine der vier Personen überraschend zu Geld, die andern scheinen schon vorher vermögend gewesen zu sein. Sie alle sind waghalsige Vertreter ihrer Zeit und vererben offensichtlich nicht nur grosse Teile ihres Äusseren, sondern auch ihres Charakters an ihre Nachkommen. Ein Genstrang, in allen drei Generationen männlich, ist gewalttätig - es kommt in jeder Generation zu Tätlichkeiten. Ein anderer Genstrang, weiblich mit kurzem blondem Haarschopf, ist sehr temperamentvoll und launisch, schlägt in jeder Generation durch, als leidenschaftliche Avantgardistin und Ziehkraft der Gruppe. Die dritte Person, ebenfalls weiblich, ist in jeder Generation sehr hübsch, apart, grosszügig, mit vollem brünettem Haar und grossen Augen, die treue Mitgeherin und möglicherweise Chronographin. Die vierte Person schliesslich, männlich, wissensdurstig, gütiger Gerechtigkeitssinn und ein Drang zum Helfen und Heilen, gibt mit viel Geduld neuste Forschungsergebnisse, bzw deren technischen Hintergrund an die Freunde weiter, ein stiller Typ, der in sich ruht.

Zweitletzte Szene vor dem Erwachen: etwas mit einem Hochsee-Segelschiff des neusten Entwicklungs-Standards, eine Fahrt der vier Freunde in heftigem Wind, gdie in den Wellen endet, efolgt von einem viel zu kurzen Flash in einem Hotelzimmer, von dem ich leider nichts mehr erinnere.

Letzte Szene vor dem Aufwachen: vier Freunde, Flug mit einem hölzernen Doppeldeckerflugzeug, ein Mehrplätzer, dessen Flügelpaare mit Stahlseilen verstrebt sind. Drei der Freunde (und offensichtlich ein Sohn?) geniessen den Flug im WInd ausser Deck. Sie turteln und blödeln, bis Turbulenzen sie zwingen, in die Kabine zurückzukehren. Kurz nachdem sie alle wieder sitzen und angeschnallt sind, nehmen die Turbulenzen Überhand und stürzt die Maschine ab ins Meer nahe eines Sandstrandes. Die Kamera folgt dem Jungen, der fällt, beinahe wie ein Blatt schwebt, ins klare grünliche Wasser eintaucht, fällt und fällt, doch unerwartet schnell sanft auf sandigem Boden landet - ganz nahe von zwei noch beinahe intakten kleinen Kähnen. Ich erinnere mich sofort: es sind die Kähne, die in der Episode der ersten Generation gesunken sind.

Der Junge stösst sich vom Boden ab, taucht auf und schwimmt zum Ufer. Am Strand, im verzweifelten Glauben, der einzige Überlebende zu sein, wandert er herum und trifft auf eine Gruppe Feriengäste, die ihn zu einer schwer verletzten, im Sand liegenden Frau führen. Zu dieser stösst nach einiger Zeit auch der Mann vom Typ ihr gemeinsam Erste Hilfe. Offensichtlich wird sie überleben. vier, sie leisten

An mehr erinnere ich mich leider nicht mehr.


  An den Anfang

Mondlandung - 16.2.2004

Geträumt, ich sei mehr irrtümlich als geplant auf dem Mond gelandet.

Es herrscht inzwischen ein reges Treiben dort. Man hat eine Forschungsstation gebaut, sowas wie ein Unigelände, natürlich mit Mensa, vielen Gebäuden, grosszügigen Strassen und Plätzen. Auch Autos wurden heraufgebracht. An die geringe Schwerkraft gewöhnt man sich schnell, nur in der ersten Stunde muss man sich an den Seilen festhalten, die entlang der Gebäude angebracht sind, damit die Neuankömmlinge nicht wegschweben. Nach der Zeit der Umgewöhnung kann nam beginnen, aufrecht zu gehen.

Das Licht ist phänomenal. Einige Landstriche sind mit Seilen abgetrennt, da sie noch nie jemand betreten hat - sie sind völlig unerforscht. Alle Leute auf der Forschungsstation disputieren und beraten sich heftig - es herrscht Aufbruchstimmung.


  An den Anfang   audio

Stufenweises Erwachen... - 12.3.2004

Vor lauter samstagnachmittäglichem Nichtstun auf der Couch beim Hörbuchhören eingenickt. Eine Weile später beschlossen, aufzustehen, doch die Kraft dazu nicht aufgebracht.

Tief Luft geholt, mich aufgerafft, es nochmals versucht. Doch keinen Boden unter den Füssen gespürt und realisiert: ich liege noch immer.

Nächster Versuch: Decke weggeworfen, Beine auf den Boden gestellt, bis ich ihn spürte, langsam das Gewicht darauf verlagert, aufgestanden. Dabei einen Blick in die spiegelnde Fensterscheibe geworfen und festgestellt: noch immer liege ich, noch immer liegt die Decke über mir.

Also nochmals. Decke weg, Beine auf den Boden gestellt, diesmal ganz deutlich dessen Kühle gespürt, aufgestanden, mich gestreckt, ausgiebig, gegähnt - Blick in die Fensterscheibe, noch immer liege ich, unverändert zugedeckt.

Nochmals und nochmals aufgestanden. Auch einige Schritte gemacht, zur Wohnungstür gelaufen, den kantigen Schlüssel, die kühle Tischplatte unter meinen Fingern gespürt - Blick in die Fensterscheibe: noch immer liege ich zugedeckt und schlafe.

Aufgestanden, zur Wohnungstür gelaufen, den Schlüssel gedreht, festgestellt, dass nicht abgeschlossen ist. Dies nachgeholt und mich zur Couch umgedreht- Blick in die Fensterscheibe: noch immer liege ich zugedeckt, habe mich nicht einmal gerührt.

Erst mit dem Piepsen des Gutenacht-Weckers es geschafft, aufgestanden, natürlich ist abgeschlossen, einen Schluck Eistee genommen und die Treppe hinaufgestiegen, die Zähne geputzt. Mich dabei gefragt, was mich so sicher macht, dass ich diesmal real erwacht bin. Nach unten gegangen, zur Couch, mich darauf liegen gesehen, unverändert.

Darüber nachgesinnt, wie ein Mensch eindeutig beurteilen kann, ob er wacht oder schläft: die Härte und Kühle des Fussbodens unter den Sohlen? Der Geschmack des Eistees im Mund? Das leichte Schwindelgefühl beim erklimmen der Wendeltreppe? Die Schärfe der Zahnpasta? Die Gewissheit, sich selbst nicht mehr schlafen zu sehen?

Müde innerlich abgewinkt, mich weiter schlafen lassen.


  An den Anfang

Fosch-Stil - 8.8.2004

Ich habe einen neuen Schwimmstil entdeckt: die Arme ganz weglassen, alle Kraft auf den Beinen. Ich nenne ihn Frosch-Stil. Im 50m-Schwimmbecken ist er etwas unangenehm, da ich mit zwei, höchstens drei Zügen-Hüpfen das Becken durchquert habe, und dauernd wenden muss; im 25m-Becken sind sogar Hüpfer von Rand zu Rand möglich, was man definitiv nicht mehr als Schwimmen bezeichnen kann.

Also beginne ich im See zu üben, treffe dort eine bekannte Schwimm-Weltmeisterin und frage sie, ob sie mit mir den Test macht, den See bei 1.4km Breite zu überqueren. Sie willigt ein. Angefeuert durch eine Handvoll Zuschauer starten wir, und ich kann tatsächlich mit ihr mithalten, ohne mich allzusehr zu verausgaben. Nach etwa 500m schlägt sie vor, das Experiment abzubrechen, und wir schwimmen gemütlich zum Ufer zurück.

Beim Umkleiden diskutieren wir die neue Technik - sie teilt mir mit, dass mein neuer Stil vom Olympischen Komitee keinenfalls angenommen werden könne, da es sich nicht um Schwimmen im engeren Sinne handle.

Beim Erwachen realisiere ich, dass sie diese Bemerkung natürlich machen musste, da ich ihren Titel in Frage gestellt hätte.


  An den Anfang

Die Einheit - 8.8.2004

Ein Leiter von fünf Zehnereinheiten abseits auf dem Land führt eine sogenannt einmalige Mission erfolgreich durch. Anlässlich der Schlusspräsentation vor seinem Vorgesetzten erhält er den Befehl: jetzt alle beseitigen - umbringen und verbrennen.

Er beginnt mit Baracke eins: ein speziell präparierter Schlummertrunk, dann Benzin über die reglosen Körper leeren und anzünden. Schnelle, beinahe geräuschlose Angelegenheit.

Er wiederholt das Procedere in Baracke zwei bis vier - nichts stellt sich ihm entgegen.

Dann schreitet er auf Baracke fünf zu. Dort sind zwar alle ordnungsgemäss in ihren Kajüten, doch noch munter. Er tritt ein, beginnt die säuberlich aufgereihten Missions-Utensilien zu prüfen und entdeckt neben seltsamen, deutlich "un-männlichen“ Helmeinstellungen unter anderem ein farbiges Seidentuch.

Er fischt es heraus, öffnet es, hält es über den Kopf, schnuppert daran und überlegt, halblaut hin und her, ob es einem "Softie“ gehört, und realisiert endlich: es gehört einer Frau, in dieser Zehnereinheit gibt es eine Frau, gut getarnt. Er zieht das Tuch wie ein Kopftuch über den Kopf, wirft mit künstlich hoher Stimme die Frage in den Raum, wie sie sich wohl vorstellt, es benützen zu können, erntet Gelächter.

Er stöbert weiter und findet Schritt für Schritt heraus: nicht eine Frau ist in dieser Zehnereinheit - es sind ausschliesslich Frauen. Diese Tatsache bringt ihn aus dem Rhythmus seiner Pflichterfüllung. "Los, erfüll deinen Auftrag und geh!“, scheint ihm der Betrachter zuzuraunen. Stattdessen verzettelt er sich, lässt sich ablenken, stellt Fragen, beginnt seine "Männer“ zu verstehen. Ein gravierender Fehler.

Eine der Frauen verlässt unter dem Vorwand Toilette den Raum, entdeckt die säuberlich aufgereihten, enthaupteten, verkohlten und anschliessend gewaschenen Männer der anderen Baracken, kehrt zurück, rapportiert im Flüsterton ausserhalb der Aufmerksamkeit des Leiters, schlägt lautlose, rasche Flucht vor. Doch schon fallen erste, noch unangezündete Kerzen durch die geöffneten Fenster herein. Die nächste Truppe naht, will ein unberührtes Camp übernehmen.

Zwei Frauen schleichen sich katzenhaft aus der Baracke, werden abgefangen und vor den Augen der anderen lebendig mit Benzin übergossen und verbrannt.

Jetzt beginnt auch in der Baracke Benzin zu fliessen, aus Röhren in der Decke, in den Wänden. Der einzige Weg hinaus sind die Fenster, und von dort kommen immer stärkere Hagel von Kerzen geflogen. Der Leiter sieht’s, begreift’s, auch für sich: der einzig bleibende Weg hinaus ist der Tod - das gilt auch für ihn. Er setzt sich in jene Ecke, in welcher der Benzinfluss am stärksten ist, duscht sich gründlich und systematisch, tränkt seine Kleider, erhält einen Extra-Becher mit Schlummertrunk, ein fein ornamentierter Metallbecher, trinkt ihn mit raschem Zug aus, füllt ihn mit Benzin, schüttet sich dieses am Nacken zum Kragen hinein, seufzt wohlig, wenigstens soll’s rasch gehen.

Durch die Fenster dringt der grölende Gesang der Herannahenden: "ein warmes Lager werden wir beziehen“ aus dem Dunkel. Noch keine Flammen, doch kein Zweifel, wie die Szene enden wird.

Erster Gedanke beim Erwachen: in der Abteilung meines neuen Projektes sind auffällig viele Frauen. Frauen in Männerberufen. Frauen, die störenderweise und störrischerweise immer noch im Berufsleben verharren.

Zweiter Gedanke: die Mittelschicht muss weg. Was versteifen sie sich auch so hartnäckig darauf, am Leben zu bleiben!


  An den Anfang

Einmarsch - 31.1.2006

Einen sehr ähnlichen Traum gehabt, wie auch schon - obwohl ich ihn in keiner Aufzeichnung finde.

Eine Schulklasse auf Ausflug in einem felsigen und bergigen Waldstück nahe einem tief eingeschnittenen Fluss. Sie steigen das eine steile Hangstück hinunter, überqueren von Felsbrocken zu Felsbrocken springend den reissenden Fluss, erklettern das gegenüberliegende steile Hangstück, bis sie zu einem fest in die Landschaft eingepassten weiss getünchten burgähnlichen mehrstöckigen Steinhäuslein gelangen. Ohne zu fragen, betreten sie es, erforschen es, Zimmer für Zimmer, Stockwerk für Stockwerk. Ich kenne dieses Gebäude aus dem früheren Traum.

Im obersten Stockwerk werden die beiden einzigen Mädchen der Klasse von der sonoren Stimme des Klassenleiters mit österreicher Dialekt weggeschickt - die "wertvollsten der Klasse“, sie sollen draussen warten, man werde hier ein Lied singen und ihnen dann folgen.

Die beiden Mädchen steigen verträumt-glücklich die Stufen hinunter, wollen sich in einer Nische hinter einem Fensterladen der Hochparterres versteckt halten, wollen dem Lied zuhören, insbesondere der vierten Strophe, die Lieblingsstrophe der Mädchen. Doch ungleich dem früheren Traum lässt sich der innere Fensterladen von der Nische aus nicht fixieren.

Etwas verstört steigen die Mädchen weiter die Treppen hinunter. Keine der Läden lässt sich nach innen gedreht vor seiner Nische schützend fixieren. Noch hält oben das Lied der Knaben an. Da stossen die Mädchen im Erdgeschoss auf eine Gruppe deutscher Männer in mittlerem Alter. Einen Teil von ihnen ignoriert sie, andere schieben sie liebevoll-sorgend-erzürnt von sich, weg von ihrer Mission: die Kanone, ins Haus zu bringen, über die Steinbrücke, die sich hoch über dem inzwischen weiss gischenden Fluss spannt, die Kanone muss, will in den Krieg.

Eine uralte, gusseiserne Kanone ist es, mit einer dicken Schicht schwarzen Lacks bepinselt, begleitet von einem Rudel ungefähr löwengrossen, kahlrasierten Bluthunden, von denen einer einem schlammgrünen, dicken, nilpferdartigen Wesen begegnet und mit ihm, mehr zufällig, einen langsamen Liebestanz voller Sehnsucht nach körperlicher Nähe beginnt.

Man lässt die beiden Tiere gewähren, voller Verständnis und dennoch ungeduldig abwartend, denn man muss weiter, die alte Kanone muss weiter, zieht in der alten Geschwindigkeit weiter, ins Haus, durchs Haus.

Unzählige weitere Männer überqueren die Brücke, ein endloser Zug von Soldaten. Soldaten übrigens, in voller Ausrüstung, unter ihnen einer mit einem aus Aststückchen und Seilen gebastelten Gerät, das das eine Mädchen fasziniert fixiert: ist’s ein Instrument zum Weben? Ein Klöppelgerät? Ein Musterinstrument? Die Soldaten singen, ihr Gesang vermischt sich mit dem Gesang der Knaben im Turm, dasselbe Lied mit unendlich vielen Strophen - doch wie anders ist die Tonlage!

Während das eine Mädchen auf das Instrument starrt und das andere auf das ungleiche Paar Bluthund - Nilpferd, erwache ich, wie gelähmt vor Entsetzen und gleichzeitig geschüttelt von Schluchzern, und mein grosses, grünes Plüsch-Nilpferd fest umarmend.

Der selbe Traum, bloss ist das Kriegsgeschehen diesmal deutlich näher, sozusagen zum Greifen nahe.

Der diesjährige Pep-Talk der Firmenleitung kommt mir in den Sinn: "ein unerbittlicher Kampf ist es, in dem nur wenige überleben werden. Ich möchte mit keinen anderen Streitern in dieses Schlachtfeld ziehen, ihr seid die besten Krieger - die besten Krieger, die mir zur Verfügung stehen.“ - "What a pep-talk ey!“, war meine gedankliche Reaktion mit einem Seitengedanken an meinen Traum vom 13.8.2005, "meine Abteilung wird nicht überleben. Angst. Hoffentlich bin ich bis dahin bereits fort.“

Eine Illusion. Flucht, sagt der Traum vom 13.8., Flucht wird nicht funktionieren. Ich werde all meine Nerven brauchen, um bis zum geplanten Ende dabeizusein. Werde mich damit ablenken, mit aller Konzentration das beste Tool zu bauen, das es braucht - dessen ich fähig bin. Mit voller Kraft auf einen Abgrund zurennen.

Nächster Gedanke: zwei Mädchen überleben. Welches wird das andere sein? Wer ist das Nilpferd, wer der Bluthund? Fragen, die mich während Wochen nicht loslassen. In der Unruhe die Leiterin Human Ressources aufgesucht und sie gefragt, ob eine grössere Restrukturierung geplant sei. Bloss ein gütiges Lächeln als Antwort erhalten.


  An den Anfang

Die neue Lust an der Frau - 30.3.2006

Die Einlieferung in diese Klinik dauert lange. Befragungen und Untersuchungen werden mit einer Gründlichkeit durchgeführt, welche sich die Klinik auf die Visitenkarte schreibt: "Ihre Patientengeschichte wird bei uns ernst genommen."

Stundenlang liegt die Neuangekommene in einem der fensterlosen Aufnahmezimmer der Notfallstation, irgendwo unter der Erde und ohne coverage für Mobiltelefonie. Zwar wird sie sofort in eines dieser hübschen kleingeblümten rückenfreien Nachthemden gesteckt und an einen tropfenden Beutel mit Natriumchloridlösung gehängt - 'mit Medikamentenzusatz' steht da zwar, frägt sie jedoch nach, lautet die lakonische Antwort: "ach, nichts ist drin, es gäbe einfach die Möglichkeit.“ - und von den verschiedensten medizinischen Fachpersonen befragt und untersucht, mehrfach nach Schmerzen befragt - immer wieder werden Schmerz- und Schlafmittel angeboten - obwohl sie zwischen Untersuchungen jeweils in tiefen, traumlosen Schlaf versinkt, also ganz offensichtlich keine Einschlafschwierigkeiten zeigt.

Untersuchung auch an Körperstellen, die mit den Symptomen nichts zu tun haben, deretwegen die Patientin eingeliefert wurde, u.a. Vaginalspiegelungen für Lungen- Herz- oder Leberbeschwerden (nur durch Zufall bemerkt, da erwacht, als ein kühles Instrument eingeführt wurde. Dabei ein anderes dieser Instrumente in den Händen gehalten. Was 'mecht' ein fremder Mensch an einer schlafenden Frau zwischen den Beinen herum, wieso weckt er sie nicht, bevor er damit beginnt? Müsste die Patientin nicht unterschrieben haben, bevor man etwas mit ihr macht?). Oder der Zufällige behandschuhte Griff in die Vagina bei Stabilisationstests an älteren Frauen, die auf eine Operation eines komplizierten Hüftknochenbruchs warten. (Was hat das mit Hüften zu tun? Wieso muss das Hüftgelenk einer liegenden Frau 'stabilisiert' werden?)

Überraschend Verlegung in ein vertrauenserweckendes Einbettzimmer. Wieder ohne Angabe wieso.

In den Nächten herumschleichende Gestalten, welche die Restbestände der Tropfbeutel mit Natriumchloridlösung kontrollieren, wo nötig ersetzen. Tag-und-Nacht Betreuung wie im Bilderbuch.

Auffallende Schläfrigkeit überall, tagsüber und nachts.

Glückliche und zufriedene Arzte, die bei ihren morgendlichen Visiten dankbar Hände schütteln und tief in Patientenaugen blicken.

Doch unsere Patientin fühlt sich irgendwie unbequem. "Könntest du hier arbeiten, wo alle Männer Götter und alle Frauen fleissige Dienerinnen sind?“, fragt sie eine Mitpatientin. Doch die antwortet, das sei in ihrer Zeit immer so gewesen und störe sie nicht.

Während der Operation wird rasch und effizient gearbeitet, allerdings nicht bloss an jenen Organen, deretwegen die Patientin eingeliefert worden war.

Ist tatsächlich noch niemandem aufgefallen, dass sämtliche Frauen, auch jene jenseits des Klimakteriums, am Tage nach der Operation Blutungen haben? Dass es im ganzen Spital, einschliesslich des Hygieneshops im Parterre keine gewöhnlichen Binden gibt, sondern bloss dicke Windeln für sehr schwere Blutungen?

Irgendwann im Plauderton die Frage einer Hilfskrankenschwester nach dem Beruf. spontan und zu Unrecht "Journalistin“, geantwortet - und nachgedoppelt: "auf Recherche“. Sofortiges betroffenes Schweigen unter dem Krankenhauspersonal, eine Art Erstarren. "Was schreiben sie denn?" - "Verschiedenes. Kolumnen." - "Krimis?" - "Ja, auch Krimis."

Kaum eine Stunde später wird die Patientin überraschend in ein luxuriöses Einzelzimmer versetzt, und die Entlassung am nächsten Vormittag wird in Aussicht gestellt. Die "unschönen Blutwerte“ stehen mit einemmal nicht mehr zur Diskussion.

Kaum im Einzelzimmer angekommen, klopft es an der Tür. Eine dezent gekleidete Dame um die Fünfzig frägt, ob die Patientin noch eine Bestellung für die Hausbibliothek machen möchte. Die Patientin verneint dankend. Weitere fünf Minuten später klopft es erneut. Eine andere dezent gekleidete Dame um die Fünfzig frägt die Patientin, ob sie einen Wunsch für das sonntägliche Haus-Symphoniekonzert hat. Die Patientin verneint und weist darauf hin, dass sie in weniger als zwölf Stunden entlassen wird. Die Dame gratuliert freundlich.

Letzte Arztvisite am Entlassungsmorgen, nach einem Luxusfrühstück: eine Ärztin und Assistenzärztin, begleitet von zwei (nicht fünf!) Krankenschwestern. Niemand geht auf Fragen der Patientin ein, wie sie sich in den nächsten Tagen zu pflegen habe.

***

"Schatz, du fühlst dich ganz anders an“, sagt der Geliebte nach dem ersten Sex zuhause.“

"Mach mir den Gefallen und kontrolliere bitte, ob noch alles da ist, ja?“, antwortet die leicht stutzig gewordene frisch entlassene Patientin.

Wie kann man mit Sicherheit wissen, dass die Gebärmutter noch dort ist, wo sie sein soll? Wieviel bekommt man auf dem Organmarkt für eine Gebärmutter? Was für welche anderen Organe? Was könnte alles fort sein? Wie kann man mit Gewissheit erfahren, ob tatsächlich nichts entfernt wurde?


An den Anfang

Rutsch - 26.1.2011

Neue Anstellung, neue Firma, oberer Zürichberg. Ein grosses Gebäude im Ausbau, das gesamte Personal ist in der Aula zu einer Info-Veranstaltung versammelt. Die Aula steht im Rohbau, kaum mehr. Ein Spannteppich ist rasch über den Beton gelegt, Plastikstühle daraufgestellt. Dennoch ist der Saal randvoll. Die einzelnen Abteilungsleiter stellen sich und ihre Aufgaben vor. Einer fährt mit dem Kickboard nach vorn, erinnert sich unterwegs, dass er mit dem Ding wohl nicht gut am Mikrophon stehen kann, stellt es unterwegs ab, betritt die Bühne, beginnt seine Rede. Da packt jener, bei dem er es stehengelassen hat, das Kickboard und schleudert es ihm in einem kräftigem Wurf nach. Er verfehlt sein Ziel, trifft eine Säule, die während der Rede sehr langsam ins Ungleichgewicht gerät. Im Zeitlupentempo neigt sich die Decke, die Wände knicken in kaum merklichem Ausmass seitlich weg. Ich stehe ruhig auf, verlasse wie zufällig Richtung Bühne und dahinterliegendem Platz den Raum. Einzelne Teilnehmer folgen mir, bald ganze Scharen. Im Schutze eines Wäldchens können wir zuschauen, wie das ganze Gebäude in sich zusammenfällt, als wäre es aus Spielklötzen gebaut.

Nächste Szene. Neue Aula, ähnlich eingerichtet, wieder voll bis zum letzten Platz. Auf der Bühne Vertreter des Personals. Junge Mädchen teilen Plastiktüten aus, darin sind jene Dinge, die vom Arbeitsplatz gerettet werden konnten. Auf den Plastiktüten ist eine lange Aufschrift. Die letzten Worte: 'verlässt die Firma wegen Instabilität.' Ich hebe die Hand, werde nach vorn ans Mikrophon gerufen. Meine Stimme ist belegt und heiser, beinahe nur ein Flüstern. Trotzdem höre ich sie verstärkt im muksmäuschenstillen Saal: 'Entschuldigen Sie, doch verlässt die Firma wegen Instabilität wirft ein völlig falsches Licht auf mich und alle Betroffenen. Wir gehen nicht freiwillig, weil es uns hier zu instabil ist, sondern die Firma muss uns entlassen, weil sie die grundlegende Stabilität des Gebäudes nicht aufrechterhalten kann. Ich spreche hier nicht von einer Bagatelle - es geht um unseren Tod, nicht um den Ruf der Firma. Ich bitte Sie, die Formulierung zu ersetzen durch wurde im Rahmen einer betrieblichen Sofortmassnahme entlassen! Ich werde nicht die einzige sein, die bereits an früheren Stellen aus ähnlichen Gründen abgebaut wurden. Insgesamt ergibt sich der Eindruck, wir verliessen unsere Stellen immer gleich, sobald es uns nicht mehr passt. Dem ist aber nicht so. Schauen wir's realistisch an: so wie wir dieses Gebäude im Zeitlupentempo einstürzen sehen konnten...' - empörter Zwischenruf: 'teilweise einstürzen!' - '...teilweise einstürzen sehen konnten, so sind wir derzeit Zeugen eines Einsturzes der gesamten europäischen Wirtschaft.' - weitere Zwischenrufe, die ich ignoriere - 'Unsere Aufgabe ist es, neue Wirtschaftsräume zu finden, um zu überleben. Das können wir jedoch nicht, indem wir von der Arbeitslosenkasse wegen Selbstverschuldung Einstelltage in Kauf nehmen, um den Ruf einer Firma zu schützen, welche uns unüberlegt eingestellt und direkt wieder entlassen hat!'

Grosser Tumult im Raum, ich muss abbrechen, die Bühne verlassen. Erreicht habe ich mit meinem Votum wahrscheinlich nichts, ausser eine Massenpanik ausgelöst.


 

zur Rinaku-Seite