Regentag

Herbst 1989


"Regentag" ist eine kleine, leichte, und dennoch kontemplative Erzählung, ein Tag aus dem Leben einer Frau, die äusserlich immer tiefer ins Wasser gerät, dabei aber zunehmend zu sich selbst findet und sich von ihrer gewohnten Umgebung löst.


  1. Perlen am Fenster
    Intermezzo
  2. Aus-Steigen
  3. Eine Krone von Edelsteinen
  4. Kreise, die Fragen stellen
  5. Abwasch
  6. Tauchen...
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1. Perlen am Fenster

Perlen am Fenster. Weihnachtsbaumkugelartig schimmernd. Langsam, bedächtig, schneckenartig sich fortbewegend. Nur manchmal, manchmal, wenn eine in die noch feuchte Spur einer Vorgängerin mündete, beschleunigte sie ruckartig ihren Gang, rutschte schneller nach unten, bis sie ihre Vorgängerin erreichte und beide sich vermischend und überkugelnd, nichts mehr von der früheren Ruhe wissend, links und rechts Nachbarn mitreissend, immer schneller über das kalte Glas rollten - hinter sich eine Spur von winzig kleinen Perlen lassend, denen das neue Tempo unhaltbar worden war - und unten auf dem Holz des Fensterbrettes eine kleine Pfütze bildeten. War diese gross genug, so entleerte sie sich wie ein Sturzbach auf die ein Stockwerk tiefer liegende Strasse. Das Spiel konnte von neuem beginnen.

Perlen am Fenster. Jede mit einer Handvoll goldfarbenen Punkten versehen: Da war einmal das Lämpchen auf dem Pult der Arztgehilfin, die zwei Birnen des Leuchters im Korridor, die Stehlampe im Wartezimmer und - nicht zu vergessen - die periodisch aufleuchtenden Birnchen des modernen, seinen Zweck nicht verratenden Geräts im Dunkelraum neben dem Sprechzimmer.

Perlen am Fenster. Man konnte nicht sagen, dass es ein grauer Tag war. Im Gegenteil: Der nasse Asphalt spiegelte nicht nur die bereits beinahe laublosen Bäume wider, sondern auch die bunten Fassaden der Häuserreihe vis à vis. Es war viel getan worden, seit sie vor zwei Jahren mit Peter in diese Stadt gezogen war. Man konnte beinahe behaupten, die Farben seien wiederentdeckt worden. Ehemals stumpf vor sich hin grauende Fassaden versuchten sich nun gegenseitig in immer kräftiger werdenden Pastelltönen zu übertrumpfen. Braune, rote, grüne, goldene Fensterläden unterstrichen den speziellen Charakter der sonst so ähnlichen Bauten, reliefartige Blumen- und Tierornamente, die sich zwischen Fassade und Dach geschoben hatten, wichen eine Nuance vom Grundton ab. Die Freude am Wohnen und das Lachen des Frühlings waren festgehalten worden. Diese Fassaden so detailgetreu auf dem glänzenden Schwarz des Asphalts, hier und dort von weissen und gelben Markierungen unterbrochen, durch die Fahrrinne eines Autopneus verzerrt, von grünen und leuchtendgelben Kinderstiefeln durchplantscht... man konnte wirklich nicht sagen, dass es ein grauer Tag war.

Hundert Lichtlein erloschen. Beim genaueren Hinsehen bemerkte Alexandra, dass sich die Arztgehilfin vor ihr Lämpchen gesetzt hatte. Doch noch war sie zu sehr beschäftigt, um die neu eingetretene Kundin zu bemerken.

Ein blauer Bus hielt, Leute stiegen aus und ein. Drei Kinder rauften sich um eine rote Schultasche, die mit ihrem Spiegelbild ein Paar lustige Akzentpunkte auf dem schwarzglänzenden Asphalt bildete. Übermütige Hände liessen die Punkte zu einem fliegenden Doppelpunkt werden, aufeinander zufallen und um sich spritzend in ein Komma verwandeln, Tränen der kleinen Besitzerin zeigten an, dass der Spass seine Grenze erreicht und das Farbenspiel nicht jedermanns Geschmack getroffen hatte. Die Kinder bogen um die Ecke und entkamen Alexandras Blickfeld.

Die Arztgehilfin hatte noch immer keinen Blick von ihrer Arbeit geworfen. Eigentlich war es ja auch nicht nötig gewesen, hierher zu kommen. Alexandra wusste, dass sie schwanger war. Anfangs dritten Monat spürte sie stets deutlich die veränderten Reaktionen ihres Körpers. Auch wenn es das erste Mal war, hatte sie diese gleich richtig interpretiert. Man spürt ja, wenn etwas in einem wächst. Es ist ein ähnliches Wachsen wie bei Gedanken, Bildern und Liedern. Nur natürlich viel intensiver.

Man spürte es, ja. Aber der Partner nicht unbedingt. Peter arbeitete geistig immer noch an seinem Projekt: wann wollen wir ein Kind haben, wann ist der ideale Geburtstermin und wie machen wir es, damit es dann auf jeden Fall klappt? Peter rechnete gerne. Als sie ihm einmal ihre Vermutung geäussert hatte, hatte er geantwortet: "Juni? Nein, nicht gut. Dann fallen die Sommerferien ins Wasser." Ferien. Das hiess: in das kleine Haus am Apenin fahren und eine Woche lang nur schlafen und essen. Einmal hatte sie heimlich ein Buch mitgenommen und nachts in der Küche gelesen, um ihn nicht zu stören. Doch als er erwacht war und bemerkt hatte, dass sie nicht bereit neben ihm lag, als er sie sogar auf dem Küchenschemel in Hauptmanns Fuhrmann Henschel vertieft angetroffen hatte, war er ausgerastet: Ferien sind zum Erholen da, lesen kannst du daheim. Ferien hab ich mir verdient und du kommst nur mit, damit ich auch einmal etwas von dir habe.

Auf dem Asphalt spiegelten sich nun Kindergärtler. Kindergärtler mit grossen Tüten in den Händen. Nikolaustüten. Nikolaus hatte damals einen Schulreifetest gebracht. Eine Art Hauptprobe für den richtigen. Nur die Grossen hatten ihn ausfüllen dürfen. Die Kleinen hatten in der Puppenstube weitergespielt. Die Kleinen und sie. Nikolaus hatte ihr keinen Test gebracht. Vielleicht, weil sie schon lesen konnte. Leise hatte sie im Pupphaus der Puppe mit den goldenen Haaren aus einem Pixi-Büchlein vorgelesen und ihr versprochen, sie dürfe auch bald zur Schule gehen. - Doch bereits ein Vierteljahr später hatte Alexandra sich dieses Versprechens nicht mehr erinnern können und die Puppe nicht mitgenommen.

Perlen am Fenster. Vier mächtige schillernde Perlen scharten sich um eine winzig kleine. Oder vielleicht war die kleine nur durch Zufall da. War sie überhaupt eine Perle oder nur eine Unreinheit des Glases? Es war nicht auszumachen.

Vier Kinder hatte es in ihrer Familie gegeben. Zwei Knaben und zwei Mädchen. Und, ach ja, Alexandra. Ihre beiden Schwestern hatten stets zusammen gespielt. Es gibt unzählige Spiele, die man nur zu zweit spielen kann. "Eile mit Weile" zum Beispiel. Dann hat jeder Mitspieler zwei Farben. Oder all die Kartenspiele. Denn die vielen Regeln sind für Aussenstehende nicht zu begreifen. Oder Federball. Oder Ping-Pong. Bei Ballspielen ist es schon schwieriger. Da braucht es zusätzlich die beiden Knaben. Die Kleine? Die ist zu ungeschickt. Und die liest ohnehin den ganzen Tag.

Alexandra war nicht die jüngste, sondern Nummer vier. Das heisst, die zwischen Matthias, der Nummer drei und der rechtmässigen Nummer vier, der jüngeren Schwester Barbara. Sie hatte sich im Kindergarten das Lesen beigebracht und Bilder aus Buchstaben gemalt. Sie hatte Finger gezählt, mit ihren Fingergelenken gespielt und Tränen geschluckt. Sie hatte nachts unter der Bettdecke gewürfelt und sich im Schein der Taschenlampe vorgestellt, einmal im "Eile mit Weile" mit der grünen Farbe, ihrer Lieblingsfarbe, zu gewinnen. Den Würfel hatte sie erst verstauen können, als Mutters Schritte definitiv im Schlafzimmer verschwunden waren. Nur nicht etwas verschlampen!

Ein blonder Wuschelkopf hob sich. Hundert Augenpaare blickten aus der beperlten Scheibe fragend auf die in aller Stille eingetretene Kundin. Jetzt erst drehte diese sich um, machte die paar Schritte zur Anmeldung hin, blieb jedoch vor der erstaunten Arztgehilfin abrupt stehen und wandte sich der Türe zu. Nein, entschied sie, es sollte noch ihr Geheimnis bleiben. Nicht einmal der Arzt sollte es erfahren...


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Intermezzo

Kann ich dir helfen?" Doch die kleine, dick vermummte Person arbeitete sich ganz selbständig auf den Metallkasten. Zwischen zwei hohen Hüpfern presste sie hervor: "es geht schon!" und war wirklich bald schon oben, allerdings nicht ohne die Hilfe des Geländers, hinter das sie jetzt die Arme klemmte, um nicht wieder hinunter zu rutschen. Stolz blickte sie um sich. Alexandra wandte sich wieder ihrem Büchlein zu und las vor sich hin. Zweimal hielt das Tram, liess Leute aus- und einsteigen und vorne auf den Bänken Platz nehmen und fuhr wieder an, bis die Kleine allen Mut beisammen hatte, um zu fragen: "Was lesen sie da?"

Alexandra zeigte ihr das Buch. Es war ein Bildband mit Meditationstexten. Die Bilder waren gross und sehr farbig. Es war nur schwer auszumachen, dass es sich um Fotographien und nicht um gemalte Bilder handelte. Das aufgeschlagene Bild zeigte ein lindgrünes Grasmeer mit unzähligen, zum Teil verschwommenen Klatschmohnblüten. Ein Zweig mit weissen Blüten legte sich horizontal ins Bild. Wenn man die Augen zukniff, konnte man relativ streng getrennte Farbflächen grün-weiss-rot unterscheiden. Öffnete man die Augen, so bildete sich sofort wieder die Wiese; der Zweig legte seine dominant-trennende Rolle ab und verschwand als unscheinbares Detail im roten Blütenmeer. Daneben - in gedichtartig angeordneten Worten Gedanken der Autorin zum Aufbrechen einer Blüte, begleitet von einem Loblied auf ihren Mut trotz eigener Schwachheit und Kälte des Windes. Die letzte Strophe war ein rauschendes Dank-Finale an die Schönheit der Schöpfung.

Die Kleine betrachtete das Bild. Wie zuvor Alexandra kniff sie die Augen zusammen öffnete sie, kniff sie wieder zusammen und öffnete sie wieder. Immer wieder. Einmal langsam, einmal schnell. Auch ihr schien das Spiel mit dem weissen Zweig zu gefallen. Ihr zierliches Gesicht spannte und entspannte, spannte und entspannte sich. Die feine helle Nase mit vereinzelten Sommersprossen hob sich in der gespannten Lage leicht und die langen blonden Wimpern zitterten. Plötzlich gab sie sich einen Ruck und wandte sich Alexandra zu: "Und was steht geschrieben?" Langsam, Wort für Wort betonend las Alexandra ihr vor. Ihre tiefe, ruhige Stimme sang dazu ihr eigenes Lied. "Ich habe alles verstanden, es ist schön!" sagte die Kleine und schob ihr Näschen etwas weiter aus dem grosszügigen violetten Schal. "Lesen sie gerne solche Sachen?" -"O, ja!", sagte Alexandra und strahlte. "Du nicht?" - "Ich bin schon in der zweiten Klasse. Und ich lese gerne." Alexandra blickte sie an und sagte in die hellen, aufmerksamen Augen hinein: "Sie ist so schön, die Welt der Bücher. Du öffnest ein Buch und eine ganze Welt öffnet sich dir. Du liest das Buch, schliesst es wieder, aber die Welt verschwindet nicht. Im Gegenteil: Sie bleibt drin und lebt in dir weiter. Dann brauchst du das Buch nicht mehr." Die Kleine widersprach: "Wir kaufen die Bücher. Dann haben wir sie immer wieder zum Lesen. Man kann sich nicht alles merken, was in den Büchern steht, die man einmal gelesen hat, sagt Mami." - "Hast du schon einmal ein Buch zum zweiten Mal gelesen? Dann hast du sicher bemerkt: es ist eine ganz andere, eine ganz neue Geschichte." Die Kleine log: "Ja ja, ich lese Bücher immer mehrmals. Aber es ist immer die selbe Geschichte drin." Um ihre Nervosität zu verbergen, musste sie ganz fest mit den Beinen strampeln. Eine lange blonde Strähne rutschte ihr aus dem wie ein Turban um den Kopf gewickelten Schal. Sie öffnete geräuschvoll den Reissverschluss ihrer hellblauen Windjacke und pustete: "Phu, ist das heiss hier!". Schnell wechselte sie das Thema: "Was sind sie von Beruf?" Jetzt war es Alexandra, die ein bisschen log: "Ich war Lehrerin. Nun bin ich verheiratet.." In Wirklichkeit war sie gar nie zum Schule-Geben gekommen. Die Sache mit Peter hatte zu früh begonnen. "Haben sie auch Kinder?" - "Nein." sagte Alexandra erstaunlich gelassen. "Dann können sie ja noch arbeiten." sagte die Kleine. "Bei uns werden wie verrückt Lehrer gesucht. Der Lehrer von der dritten Klasse hört auf. Und sie finden niemanden." Alexandra schaute die Kleine nur ruhig abwartend an. "Zu ihnen würde ich schon gerne in die Schule kommen." Sie erklärte, wo der Ort lag; drei-, viermal erklärte sie es - sehr ernsthaft und Alexandra eindringlich mit den Augen fesselnd. Und ganz nebenbei, wie zufällig, eine Erklärung: sie sei im Moment nur in der Stadt, weil ihr Lehrer krank sei und sie daher ein paar Tage bei der Grossmutter verbringen dürfe. Nach einem kleinen gedanklichen Seitensprung zu ihrer eigenen, leider viel zu früh verstorbenen Grossmutter lachte Alexandra: "Toll. Du hast dich sicher fest gefreut auf diese Tage!" Die Kleine nickte vehement und sagte dann schnell: "Das Bild mit den roten Blumen ist so schön. Lesen sie das Gedicht noch einmal?" Es war Alexandra nicht ganz recht, dass sie dauernd mit "Sie" angesprochen wurde. Trotzdem las sie das Loblied nochmals, langsam, leise, konzentriert.

Als sie fertig war, wurde die Kleine gerufen. Das Tram drosselte sein Tempo bereits. Schnell sagte die Kleine: "Schenken sie mir ein Bild? Sie sind so schön." Denn hinten im Buch hatte Alexandra ein paar Ansichtskarten der selben Fotografin stecken. Sie zog eine hervor, die auch ein rotes Blütenmeer im vom Wind durchblasenen hohen Gras zeigte und steckte es der Kleinen zu, deren Grossmutter bereits ausgestiegen war und auf dem Trittbrett wartete. "Adé und vielen Dank!" rief die Kleine und hüpfte in den Regen hinaus. Alexandra lachte und wandte sich wieder dem Buch zu.


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2. Aus-Steigen

An der Endstation stieg sie aus und ging der Stadt entgegen. Als sie vor der kleinen Brücke zur Abzweigung kam, nahm sie automatisch den Weg durch das Nobelquartier zum Wald hin und stieg parallel zum Bächlein die Anhöhe hinauf. Es tat gut, der Stadt den Rücken zu kehren. Gedanken bildeten sich in ihrem Kopf. Zuerst richtige Sätze und Zusammenhänge: "Du bist schwanger". "Peter wird Freude haben". "Nun wirst du endlich eine richtige Frau sein". Die villenartigen Häuser des Quartiers hatten grosse Gärten gegen den Weg hin. "Das Kind wächst". Hinter den Häusern waren hie und da schattige Parkanlagen mit hohen alten Bäumen zu erahnen. "Noch ist seine Welt heil. Warm, weich und dunkel." Mit Efeu dicht umrankte, knorrige alte Hecken grenzten die Pärke gegeneinander ab. "Es soll eine schöne Zeit haben in mir drin. Damit ihm das Leben etwas leichter fallen wird." Genugtuung erfüllte sie. Sie würde bald alles besser machen.

Der schlängelnde Weg bot immer wieder Abkürzungen in Form von langen, steilen Treppen an, die Alexandra natürlich vorzog. Auch in ihrem Kopf bildeten sich Abkürzungen und steile Treppen: "Schwanger." - "Peter. Peter?" - "Bei ihnen würde ich gerne in die Schule gehen." Langsam schlich sich ein ungutes Gefühl in ihr Denken ein. Sie ging schneller. "Schule geben, endlich Schule geben!" Es war das Wort "Schule", bei dem ihr unwohl wurde. Leise rief eine Stimme zur Beschleunigung. "Soll ich Schule geben oder schwanger sein?" Sie ging schneller und begann, immer zwei Stufen auf einmal zu nehmen. "Peter wird Freude haben. - Was bringt mir seine Freude?" - "Schwanger sein ist kein alltäglicher Beruf." - "Ein Stadtkind? Nein danke!" - "Kann ich schwanger Schule geben?" Sie beschleunigte ihren Schritt stetig, je näher sie dem Wald kam. Bei der letzten Treppe rannte sie beinahe. Ihre Füsse berührten den Boden nur noch flüchtig. Die braunen Schuhbändel hüpften hin und her. Letzte, längst verblühte Astern und mit viel Tannenreisig bedeckte Beete flitzten an ihren Augen vorbei, wie auch Gedankenfetzen an ihrem Hirn vorbeiflitzten. "...das Leben leichter fallen." - "Seine Freude ist wichtiger." - "Schule". Leise begann ein Stechen in ihrer Seite spürbar zu werden. Ihr Herz pochte bald heftig von der Anstrengung und ihr Blick klebte wie gebannt an ihren Füssen. Die Grössenverhältnisse um sie herum änderten sich. Die Füsse wurden schwanger und schwollen an. Die Farben der Quartiergärten verschwammen vor ihren Augen und sammelten sich in grossen Flecken. Die alten Tannen schrumpften zu Setzlingen und froren im Wind. Die Kiesel auf dem Asphaltweg wurden zu echten Hindernissen. Die ledernen Schuhe platzten aus den Nähten. Sie schlurfte ein paar Schritte lang am Boden entlang, bis sie sie verlor. Die aufgequollenen Füsse spürten den Boden kaum noch. In einer schmerzhaften Geburtsszene brachten sie viele kleine, froschartig hüpfende Füsschen zur Welt, die sich wie wohlerzogene Schüler in Reih und Glied vor Alexandra hinsetzten, mit grossen Augen zu ihr hochblickten und ihr den Weg zu verstellen suchten. "Peter ... Freude" Sie trat über sie hinweg, doch die Fussfröschchen folgten ihr quakend. Angeekelt versuchte Alexandra sie abzuschütteln. Ihr Atem wurde immer heftiger und das Stechen in ihrer Seite immer durchdringender.

Flitzende Beete und quakende Füsse machten ein geordnetes Denken unmöglich. "ind" - "nger" - "tiger": hüpfend sprang sie von Silbe zu Silbe. Schwer und stossweise kam ihr Atem dazu. 'Es' atmete, nicht sie. "eude" - "uhle" Die Silben verwandelten sich in Paukenschläge und übertönten das Quaken. Der Weg wurde zu einer nassen Rutschbahn, die konnte nichts unternehmen gegen die stete Beschleunigung. Hagelkörnerartig trommelten die Paukenschläge in ihren Ohren. Das Paukenkonzert nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Die Fussfröschchen konnten ihrem Schritt nicht standhalten und lösten sich in Luft auf. Ein Paukenfinale dröhnte und das Stechen in ihrer Seite wollte und wollte nicht aufhören.

Als sie die letzten Häuser und damit auch die Stufen hinter sich gelassen hatte, wurde das Seitenstechen unerträglich. Sie hielt abrupt an, halb betrunken von der Anstrengung und dem Pochen in ihrem Kopf. Beinahe wäre sie gestolpert und hingefallen. Hielt an und krümmte sich. Sie atmete ein paarmal tief durch. Mit jedem Atemzug, den sie einsog, rang sie nach Ruhe, mit jedem, den sie auspustete, spukte sie Wort- und Satzfetzen vor sich hin auf die Strasse. Nur langsam ging der Schmerz. Mit ihm legte sich auch das Durcheinander in ihrem Kopf. Erstaunlich nüchtern tönte es in ihr drin: "Es wird nicht leicht sein, mich zu entscheiden."

Dann setzte sie sich wieder in Bewegung und begann, bewusster nach dem eigenen Schrittempo zu suchen. "Pro Atemzug zwei Schritte, pro Schrittpaar einen Atemzug", hatte sie einmal festgestellt. Langsam drosselte sie ihr Tempo, versuchte es vorerst mit drei Schritten, dann mit zweieinhalb, und schliesslich, als sich der Atem und das Herzklopfen gelegt hatten, mit nur noch zwei pro Atemzug. Sie liess Schritt für Schritt das neue Tempo einpendeln und seine Ruhe über den ganzen Körper kommen. Die Ruhe übertrug sich bald auch auf ihre Gedanken. "Zärtlichkeit, das ist der Wind in meinen Haaren und Regentropfen auf der Brille." Diese selbstgefundene Lebensweisheit aus ihren Kinderjahren brachte sie wieder dorthin zurück, wo sie bis heute morgen noch gewesen war. Kräftige Sonnenstrahlen in ihr drin folgten dem heftigen Sommergewitter. - Was war das nur für eine seltsame Hektik gewesen, vorhin?


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3. Eine Krone von Edelsteinen

Alexandra genoss das kühle Element. Sie streckte ihre Hand aus, liess ein paar Tropfen darauf fallen, drehte den Handrücken nach oben, dann wieder die Handfläche, beobachtete die Perlen, die darauf fielen und liess abwechslungsweise sich selbst, Bäume und Himmel darin spiegeln. Ging sie nahe an die schimmernde Perlenoberfläche heran, wuchs ihre Nase und wurden ihre Augen zu kleinen Schlitzen hinter den grossen eulenartigen Ringen der Brille. Sie spürte die Luft, nahm eine Handvoll, zerrieb sie langsam vor ihren Augen und warf den Haufen der imaginären Flocken ein paarmal in die Luft, bis sie keine mehr mit der Hand auffangen konnte. Sie beobachtete die Wirkung der kühlen Luft auf die Handoberfläche und die Wirkung der Hand auf die Luft: Wie sich die Poren öffneten und die Haut tief zu atmen begann und wie die durch ihre Haut erwärmte Luft heiter tänzelnd aufstieg und der schwereren, kalten, Platz liess. Sie drückte ihre Nase in die Handoberfläche und sog diesen kühlen, feuchten, diesen entspannten Geruch ein.

Sie wich vom Weg ab und trat dicht vor einen Baum hin, der dick, stark und geduldig in seinem Dasein harrte und betrachtete die tief durchfurchte Rinde. Langsam liess sie den Blick nach oben gleiten, bis ihr Hinterkopf auf dem obersten Muskel ihrer Schulterpartie anstiess. Noch hatte ihr leicht gesenkter Blick die Baumkrone nicht erreicht. So hob sie, Millimeter um Millimeter ihre bis in die Fingerspitzen gespannten Arme, damit sie sich noch weiter nach hinten beugen konnte. Ihr Rücken spannte sich in dieser neuen Lage des hohlen Kreuzes und gab ihr mit einem Gefühl von ausstrahlender Wärme zu verstehen, wie wohl er sich fühlte. Erst als ihre Hände mit einem leisen dumpfen Geräusch zusammenschlugen, bemerkte sie, dass sie auf den Zehenspitzen stand. Das Licht zwischen dem Astwerk flutete selbst durch ihre geschlossenen Lider - erst als diffuse, helle Masse, doch nach und nach Formen annehmend. Nach einiger Zeit konnte sie sogar die dunkeln Partien der Baumkronen ringsherum erkennen. Regentropfen fielen aus dem nassen Laubwerk weit oben auf ihr Gesicht, rannen ihre Wangen hinunter und sammelten sich an ihrem Hals in kleinen Bächen.

Sie öffnete ihre Augen um ein paar Grad. Genau so weit, dass das Tageslicht zwar auf ihre Iris, nicht aber auf ihre Pupillen fallen konnte. Ein gleissendes Weiss zerstörte die Hell-Dunkel-Strukturen und löschte den rötlichen Schein der durchschienenen Lider aus. Sie musste den Mund öffnen, um in dieser gespannten Lage verharren zu können. Regentropfen fielen kalt auf ihre vor Spannung zitternden Lippen und raubten ihre Konzentration, so dass sie, ohne genauere Betrachtungen gemacht zu haben, ihre Arme senken, sich auf die Fussohlen stellen und den Kopf in Normalstellung zurückbringen musste. Das laute Knacken eines Halswirbels kam nach einiger Zeit als Echo zu ihr zurück. Als ihre Augen sich wieder an die Dunkelheit des Waldes gewöhnt hatten, erkannte sie zwischen den glänzenden Tropfen auf der Brille wieder die durchfurchte, von Wind und Wetter erzählende Rinde vor ihrer Nase. Ameisenwege strukturierten die Furchen, kreisrunde Portale führten über Wurmgangsysteme ins Innere der äussersten Rindenschicht. Ein Paar gespannt zuckende Fühler verrieten einen sich in seinem Versteck nicht so sicher fühlenden Käfer. Von den weiter oben sichtbaren Klopfspuren eines Spechtes war hier nichts mehr zu sehen. Was mochte der Baum, dieser geduldige Bruder wohl schon alles erlebt haben?

Ihre scheue Frage hallte mehrmals zwischen den nassen Stämmen hin und her und kehrte schliesslich unbeantwortet zurück. Ein Menschenleben ist zu kurz, zu kurzlebig, zu hektisch, als dass solch tiefgreifende, solch lebenswichtige Fragen beantwortet werden können... Sogar für eine Regenprinzessin, wie sie es im Moment war, galt dieses uralte, bedrückende Naturgesetz.

Jetzt hob sie auch ihren Blick. Es regnete noch immer. Tief sog sie die feuchte Luft ein und begann, Gerüche zu unterscheiden. Den Holzstoss, an dem sie vorbeiwanderte, hätte sie ohne Mühe auch mit geschlossenen Augen erkannt. Sie stellte sich so nahe an ihn, dass ihre Füsse die unteren Holzstücke berührten. Sie schloss die Augen wirklich und unterschied sorgfältig die Komponenten der Geruchsmischung. Da war einmal der bittere Geruch des Harzes, der feinwürzige des nassen Holzes, der versteckt-derbe der feuchten Rinde, aber auch Spuren von Motorenöl. Sie tastete mit den Fingerkuppen blind ein paar der Holzstücke ab, Buchenstücke vor allem, und merkte bald, dass nicht alle mit der motorisierten Säge, sondern einige auch mit der Handsäge zerteilt worden waren: Bei den Motorsägestücken spürte sie deutlich die Jahresringe, während bei den meist kleineren Handsägestücken relativ regelmässige, parallele Furchen vom rhythmischen Hin und Her der Sägearbeit erzählten. Alexandra glaubte die Sägegeräusche zu hören und die Regentropfen verwandelten sich in Holzspäne. Weich wie Schneeflocken segelten sie vom Himmel und bildeten schon bald eine warme, dicke Decke über dem Laub des Waldbodens. Die ganze Luft begann nach diesem frisch geschnittenen, noch lebendigen Holz zu duften. Sie öffnete die Augen wieder und strich noch einmal über die verschiedenen Sägeflächen.

Bei ihrer Betrachtung war sie unweigerlich in die Hocke gesunken. Hier unten kamen ganz neue Gerüche hinzu: Ein grosser, brauner Pilz gedieh auf der Schnittfläche eines der unteren, schwarzen, vor sich hin morschenden Holzstücke, Schnecken krochen auf ihrem penetrant riechenden Schleim. Herbsüsslich duftete der Waldboden, wo eine dicke Schicht von Blättern durch die eindringenden Regentropfen aufgeweicht wurde. Kleinlebewesen aller Art liessen es sich in diesem Schlaraffenland wohl sein. Unter dem Schirm des Holzstosses raschelte ein Käfer.

Alexandra stand auf und ging langsam weiter. Regentropfen fielen ihr ins Haar wie Edelsteine und bildeten ein mit Diamanten besetztes Netz. Ein Netz, so stellte sie sich vor, das wie eine Krone auf ihrem dunkeln Haar lag. Sie fühlte sich wie eine Prinzessin. Von Zeit zu Zeit schüttelte sie ihre Locken, so dass die Tropfen durch die Luft wirbelten und wurde doch stets neu beschenkt.


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4. Kreise, die Fragen stellen

"Eins, zwei, drei, vier, fünf." zählte sie. Der fünfte, das hatte sie beobachtet, der fünfte wackelte. Die meisten Kinder mieden ihn angstvoll, seit jenem "Unfall". Noch während sie ihn mit all ihrer Kraft aus der Halterung stemmte, liefen wie im Film die Geschehnisse vor ihrem inneren Auge ab: Eine Handvoll Kinder, Dritt- oder Viertklässler vielleicht, hatten vor ein paar Wochen hier gespielt. "Holz, auf einem Bein!" hatte der Befehl plötzlich geheissen. Alle waren sie zum nächsten der in Reih und Glied aufgestellten Baumstümpfe gerannt, waren hinaufgekraxelt und hatten ein Bein angezogen. Der kleine blonde Michael, der stets etwas ungeschickter als die andern war, hatte den fünften erwischt, sich aber nicht auf einem Bein halten können, weil der gewackelt hatte. Er war gestürzt und hatte sich neben den inneren Schmerzen, wieder einmal verloren zu haben, auch noch äussere zugezogen. Weinend war er nach Hause gelaufen.

Sie hatte sich während des "Unfalls" nicht viel gedacht. Sie gehörte ja nicht hierher. Trotzdem zog es sie immer wieder in dieses kleine Revier unter den uralten Bäumen, zum Kindergelächter, zur heiteren Lebensfreude. Auch wenn die Kinder nicht da waren, war die Luft voll von ihrem Lachen, Rufen und Spielen. So wie heute. Und frisch gewaschen, entschmutzt, lebendig lachend und verspielt singend strich ihr der leichte Wind durch die Haare und barg ihren ganzen Körper, ihr ganzes Da-Sein in seiner Hand. Sie fühlte sich geborgen, sie fühlte sich daheim. Hier, das spürte sie, hier durfte sie nachdenken.

Sie rollte die Nummer fünf an den Teichrand und betrachtete ihn. Er war noch beinahe trocken. Seine Unterseite duftete herb nach Holz und Harz. Die Jahresringe waren regelmässig und lagen weit auseinander. Der Baum hatte sich glücklich und ungestört entwickeln können. Strahlenförmig liefen drei Risse radial zu den Ringen, dunkle Flecken, zufällig verteilt, erzählten von früheren Regentagen, die er in dieser neuen Funktion erlebt hatte. So lebte der Baum noch als Strunk weiter, sprach seine eigene Sprache, erzählte von seinem Werden und Sein. Eine Ameise lief geschäftig hin- und her, unbeeindruckt davon, dass aus der windgeschützten Dunkelheit plötzlich kaltes Tageslicht geworden war, und eine Assel drückte sich in eine Mulde, voll in der Illusion, auf diese Art nicht entdeckt zu werden.

Sie stellte ihn mit der Unterseite nach unten an den Teichrand, setzte sich auf die vom Sand der Kinderschuhe teilweise glattgekratzte Fläche und betrachtete die Wasseroberfläche. Diese war voller Kreise. Kreise, die schnell anwuchsen und wieder verschwanden. Kreise, in deren Mitte sich manchmal kleine bunt schillernde Blasen bildeten, die beim Zerspringen ihrerseits kleine, aber viel schwächere Kreise bildeten. Kreise, die die an andern Tagen spiegelglatte Oberfläche zum Leben erweckten. Kreise, die bewiesen, dass auch der Teich lebte. Kreise.

Eine Weile lang betrachtete sie fasziniert aber ohne speziell nachzudenken das immer neue Muster auf der Wasseroberfläche. Dann kam ihr ein Gedanke: Hatte der Teich, der alte, weise, nicht etwas mitzuteilen? Wenn ja, wie konnte er sich ausdrücken? Die Kreise bildeten immer öfter Muster. War dort nicht ein Hund zu sehen, und da ein Baum? Und hier, ganz in der Nähe des Ufers? Konzentriert betrachtete sie die Stelle. Kreise, wie anderswo auch. Und trotzdem eben andere Kreise. Kreise, die die Aufmerksamkeit eines Betrachters auf sich zogen. Kreise, die einen Blick bannen und festhalten konnten. Kreise, die Fragen stellten.

...Fragen stellten? Alexandra stutzte einen Moment. Was für Fragen denn? Sie kannte die Sprache des Teiches doch gar nicht! Und doch war sie seltsam angezogen von einer Aufforderung zu lesen. Mühsam begann sie zu entziffern. Noch nie zuvor hatte sie so etwas getan. Daher hatte sie Mühe mit Übersetzen. Doch der Teich war geduldig. Er begann mit sehr einfachen Worten: "Bist du glücklich?" Fragte eine Kombination von Kreisen. Kaum hatte sie sie entziffert, waren schon alle verschwunden. Ob sie richtig gelesen hatte? "Bist du glücklich?" wiederholte der Teich. Tatsächlich. Sie überlegte. Das Leben war schön. Unendlich schön. Der kühle Wind in ihren Haaren, der leichte Film von Regenwasser in ihrem Gesicht, das Lachen der Kinder in der Stille, der Duft von nassem Laub, von Holz, von Wasser, das Wissen um die Geschäftigkeit der Ameisen und die Geduld der Schnecken... Wie sollte sie da nicht glücklich sein? "Bist du glücklich?" beharrlich erschien auf der Teichoberfläche diese Frage. Auch zuhause war sie nicht unglücklich. Sie versuchte, das nette Nest in der kleinen Wohnung warm zu halten, um ihren Mann zufriedenzustellen. Sie versuchte, seine Gedanken zu lesen und ihn mit Kleinigkeiten zu überraschen. "Bist du glücklich?" Sich selbst hatte sie diese Frage noch nie gestellt. Man sollte doch die eigenen Bedürfnisse zurückstecken. Was hiess schon glücklich! Wenn jeder den andern glücklich machte, dann waren es schliesslich alle. Die Rechnung war ganz einfach. Zu einfach? Vielleicht. Endlich antwortete sie dem Teich: "Die Frage mit dem Glücklichsein kann ich nicht beantworten. Ich hab sie mir noch nie überlegt. Stell mir eine leichtere!"

Ein paar Tropfen fielen nahe beieinander in den Teich, die Kreise überlagerten sich, sie konnte nichts lesen. Es war, als ob der Teich überlegte. Erst nach einer Weile erschien die zweite Frage: "Liebst du ihn?" Wen, den Teich? Ja sicher, er strahlte so viel Ruhe aus. Lieben war zwar eher ein zu starkes Wort für ihre Zuneigung. Liebe... "Liebst du ihn, Peter, deinen Fels?" Sie erschrak. Was wusste der Teich von ihr? Die Bezeichnung "Fels" hatte sie doch wirklich noch nie ausgesprochen! - Peter? Lieben? Sie hatte ihn doch geheiratet! Was für eine seltsame Frage. Mit Peter teilte sie ihr ganzes Leben. Mit ihm stand sie am Morgen auf, ihm kochte sie Mittag, mit ihm ging sie schlafen. Tag für Tag, Woche für Woche, Sommer und Winter. Peter war ihr Leben... "Liebst du ihn?" Der Teich schien die Gewohnheit zu haben, seine Fragen mehrmals zu stellen. Sie konnte ihm nicht ausweichen. So überlegte sie genauer. Na, lieben war vielleicht auch für ihn nicht genau das richtige Wort. Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, an der Hochzeit ihrer Schulkameradin, da war er ihr nicht als etwas Spezielles aufgefallen. Er war eben einer von denen, die nicht gerade den sonnigsten Platz im Leben ergattert hatten. Einer von denen, die oft übergangen werden. Einer von denen, die kaum um ihre Meinung gefragt werden. Einer von denen, denen man gar nicht viel zumutet. Einer von denen, das hatte sie aber erst viel später erkannt, die sich nicht gegen diese Stellung wehren, sondern stets auf die Sternstunde warten, in der sie "entdeckt", in der sie von einem lieben Geist in die Sonne gestellt werden. Er brauchte viel Geduld, ihr Fels, viel Geduld und viel Mitleid.

"Was weichst du ständig aus? Liebst du ihn?" Lieben. Nein, eigentlich nicht. Sie war auf ihn zugegangen, an jener Hochzeit und hatte mit ihm gesprochen, weil sonst niemand mit ihm gesprochen hatte. Sie hatte mit ihm für den nächsten Abend abgemacht und für den übernächsten und für den überübernächsten und irgendwann hatten sie beschlossen zu heiraten. Es war alles ziemlich automatisch gegangen, man konnte sogar sagen, es hatte sich eben so ergeben, und das schlichte Hochzeitsgewand hatte sie sich selbst geschneidert. Nur nicht zu viel Aufsehen erregen! Er hatte gewünscht, dass sie, wenn schon verheiratet, die Gesangsstunden aufgäbe und sie hatte ihm ohne zu murren, aber schweren Herzens diesen Wunsch erfüllt. Nein, sie liebte ihn nicht eigentlich, sie war einfach für ihn da.

Das schien die Antwort zu sein, auf die der Teich gewartet hatte. Denn schon erschien die nächste Frage: "Bist du daheim?" Das Wort "daheim" erhielt besonderen Nachdruck durch einen aus dem Laub der alten Eiche über ihr fallenden grossen Wassertropfen, der einen dicken Kreis hinterliess, noch einmal aufsprang, eine hohe Wassersäule mit kugelrunder Kuppel bildete, in sich zusammenfiel und einen zweiten Kreis verursachte. "Daheim". Sie dachte an ihre Kindheit. "Daheim", das war das kleine warme Reich unter der Bettdecke gewesen. "Daheim", das hatte bedeutet: eine Taschenlampe mit Ersatzbatterie, ein Buch, die Puppe, ab und zu ein weiteres Spielutensil und die stete Angst, entdeckt zu werden. "Daheim". Die Illusion, niemand wisse von ihrem Aufenthaltsort und irgendwann würden die andern Familienmitglieder beginnen, sie zu suchen. Der kindliche Traum, dann strahlend hervorkommen zu können und all das unausgesprochene Unverstandensein mit einer ehrlichen Entschuldigung und einer anschliessenden einzigen, herzlichen Liebkosung wiedergutmachen zu können. "Daheim". Die stete Angst, zu hören, was sie längst selbst wusste: "Wieso liest du unter der Bettdecke? Du schadest deinen Augen! Komm hervor und nimm doch wenigstens ein Nachttischlämpchen!" Auch wenn die Angst vor solchen Worten durch all die Jahre geblieben war, war sie nie entdeckt worden. Sie hatte stillschweigend ihre Brille erhalten und später jedes zweite Jahr stärkere Gläsern und damit in ihrem Reich weitergelesen.

"Daheim". Heute konnte sie nicht mehr unter der Bettdecke lesen. Ab einem gewissen Alter tut man so etwas nicht mehr. Aber heute las sie gerne in der Küche - auf der niederen Geschirrkommode hockend. War nun die Küche ihr Daheim? Die Frage war schwer zu beantworten. In seiner Küche hatte er ihr damals seinen ersten Heiratsantrag gemacht. Als sie ihm nach einem harten Arbeitstag mit Überstunden kochen gegangen war. "Liebe geht durch den Magen, was?" hatte sie vor Überraschung gelacht statt zu antworten, während sie ihre nassen Hände an der Küchenschürze abgerieben hatte. Und er war beleidigt gewesen. Zum ersten Mal hatte sie gespürt, was es hiess, wenn Peter beleidigt war. Er war es häufig. Eigentlich immer, wenn sie etwas falsches sagte oder von ihm ein Lob erwartete, obwohl er keinen Grund dazu sah. Wenn sie ihn nach dem persönlichen Befinden fragte, während er in wichtige Gedanken vertieft vor sich hin schwieg. Oder wenn sie eine Unterhaltung anzuknüpfen versuchte, was er als "nicht erwähnenswertes Hausmütterchengeschwätz" bezeichnete. "Bist du daheim?" - "Daheim". Wenn er beleidigt war, hatte sie jeweils für mindestens eine halbe Stunde eine undurchdringliche Wand vor sich. Eine Wand mit dem grossen Vorwurf: "Du liebst mich ja gar nicht!" Der grosse Vorwurf war leicht zu lesen. Am Anfang hatte sie versucht, ihm nachzugehen. Stimmte es denn? Liebte sie ihn tatsächlich nicht? Doch einmal hatte sie dann den kleinen entdeckt "...Denn niemand liebt mich!" und sofort aufgehört mit Nachdenken. Nein, wenn das wirklich so war (und ob es wirklich so war oder ihm nur so erschien, da sah sie damals noch keinen Unterschied), wollte sie nicht sein wie alle! Sie wollte ihn lieben! Sie wollte ihm zeigen, dass es nicht stimmte, gar nicht stimmen konnte, dass ihn niemand liebte! Sie wollte es ihm beweisen. Immer wieder. Bis er es selbst wusste.

"Daheim". Nein, auch in der Küche war sie nicht daheim, denn auf jedem Kochherd, den sie seither sah, stand dieser grosse Vorwurf. Mit dickem roten, wasserfestem Filzstift stand er da. Wenn sie ihn mit scharfen Lösungsmitteln oder mit einer harten Bürste in mühsamer Arbeit abgeschrubbt hatte, bildete er sich nach ein paar Stunden wieder. Die Erinnerung an dieses erste Beleidigtsein war hartnäckig. "Daheim? Nein, Teich, ich bin nicht daheim.

"Was willst du nun tun?" fragte der Teich. Tun? Sie verstand nicht. Und was, nun? "Mit dem Kind." Der Teich konnte also auch normale Aussagen machen. ... Was, das wusste er auch? Gab es denn gar nichts, das sie ihm vorenthalten konnte? Langsam wurde er ihr unheimlich. Argwönisch betrachtete sie die Wasseroberfläche mit dem sprechenden Muster. Was wollte der Teich von ihr? Was sollte diese ganze seltsame Fragerei? Und: übersetzte sie überhaupt richtig? Ein paarmal fiel ein kleiner Tropfen in einen Kreis, wuchs heran, bis beide beinahe gleich gross und kaum mehr unterscheidbar waren. Ein Zeichen, das bestätigte: "Ja, es wächst in dir." War es nicht sogar ein bisschen spöttisch? "Du kannst es nicht aufhalten. Du musst irgend etwas tun." Wie leicht war es doch für ihn, von ihr etwas zu verlangen! Er, der nichts anderes zu tun hatte, als zu sein, belebt zu werden und tief unten in seinem Innern zu harren. "Was willst du tun?" Wie ein ungeduldig auf das Holz eines Tisches pochender Zeigefinger erschien wieder und wieder das Zeichen des kleinen Kreises, das aus dem grösseren wuchs. Mit bedrückender Beharrlichkeit wiederholte es sich. Sie atmete tief und geräuschlos und wartete ab, was geschehen würde. Nichts geschah. Der Teich wartete. Hatte er überhaupt jemals etwas anderes getan als zu warten? Was quälte er sie so? Sie machte sich kleiner und atmete noch leiser. Sie schaltete das Hirn ab und hörte auf zu denken. Etwas tun bedeutete Veränderung. Veränderung konnte gefährlich sein, konnte zerstören, was bequem und sicher schien. Sie ahnte, wohin sie führen würde, wollte den Schritt aber nicht wagen. "Was willst du tun?" Wenn sich in ihr trotzdem Gedanken bildeten, schickte sie sie ins Hirn zurück und verschloss die Tür noch fester. Gedankenfetzen wollten durch die Tür: "Ein Stadtkind? Nein danke!" und "..."seine Freude ist wichtiger." Sie wehrte heftig ab und machte sich noch kleiner. Ihr Atmen wurde bald zu einem leichten, unmerklichen Flattern, das ständige Bohren des Teiches immer penetranter und der Druck hinter der Tür immer unerträglicher. Die Tür hielt zwar erstaunlich gut und war dennoch durchlässig wie ein grobes schmiedeisernes Gitter. Dahinter tobte es. Sie aber wollte nichts davon wahrhaben. Es war gut so, wie es war. - War irgend etwas gut, wie es jetzt war? Stimmen in ihrem Innern riefen durcheinander. Wie lange dauerte dieser stille Kampf? Plötzlich befahlen in einer Linie angeordnete Kreise energisch: "Geh jetzt. Geh jetzt heim und denk nach!" Sie erschrak. Mit vielem hatte sie gerechnet, aber nicht mit einer so autoritären Anweisung. Sollte sie ihr Folge leisten? Zögernd stand sie auf, rollte die Nummer fünf zurück und warf einen schuldbewussten Blick auf den Teich. "Geh jetzt!" stand wieder da.

Sie warf den Kopf zurück und wandte sich der Stadt zu. Ein bisschen unwahrscheinlich kam ihr die Sache schon vor. Wer war sie, dass ein Teich zu ihr sprach? Dass sie sich einbildete, aus den Regenmustern auf einer Teichoberfläche persönliche Fragen ablesen zu können? Dass sie sich von einem Teich befehlen liess, ihren Spaziergang abzubrechen und nach Hause zu gehen? Trotzdem kamen ihr ihre Schritte wie eine Flucht vor. Aber sie taten wohl, denn mit jedem Schritt hatte sie die Gelegenheit, dieses hochmütige "Was willst du nun tun?" zu zertrampeln. Sie trampelte, bis der Boden vibrierte und keine Wasserkreise mehr erkennbar waren. Sie ging weiter. Der Waldweg bog in einen breiteren ein, in den tiefe Karrenfurchen eingraviert waren. In ihnen hatte sich in vielen Pfützen Wasser gesammelt. Sprach der Teich in ihrem Rücken nun nicht mehr mit ihr, so taten es nun die Pfützen. Wann immer sie an einer Pfütze vorbeiging, stand es wieder da, dieses "was willst du nun tun?". Sie wehrte sich. Sie las ein paar Steine vom Weg auf und warf sie in die ersten beiden Pfützen. Tropfen sprangen hoch, fielen zurück und bildeten neue Kreise, die die alten überlagerten. Endlich war die Frage ganz verschwunden. Bei der nächsten Pfütze brauchte sie bereits weniger Steine, um die Frage zu zerstören. Und bei der übernächsten noch weniger. Nach kurzer Zeit war das Kreismuster in den Pfützen wieder das alltägliche, das ungeordnete, zufällige. Keine Spur von Frage liess sich mehr erkennen. Erleichtert atmete sie auf.


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5. Abwasch

Endlos wie ein Faden floss der dünne Strahl auf den weissen Keramik, ringelte sich an dessen gewölbtem Rand und verschmolz schaumbildend mit der etwas dunkleren Wassermasse im Spülbecken. Als sie den Teller fallenliess, schwappte der Schaum hin und her. Wie früher. Sie erinnerte sich an ihr kindliches Abwaschen damals. An die Schaumburgen, die sie sich ausgedacht hatte. An die Schaumburgen mit Schaumprinzen, Schaumhunden, Schaumpferd. An Ausritte hoch zu Schaum, weit ins lachende schaumfrische Schaumland hinein. An den endlosen Faden der Phantasie, der immer neue Geschichten gesponnen hatte, wie der endlose Faden aus der Leitung noch heute immer neues Wasser ins Becken brachte. Wo waren nur all die Träume hingekommen?

Alexandra streifte ihren Ring vom Finger und tauchte ihre Hände ins warme Nass. Sie streckte und beugte die Finger und spürte das Wasser. Sie tastete sich vor zu einem Teller, fuhr seinen Konturen entlang, wischte ihn dann sauber und zog ihn unter dem Schaum hervor an die Luft. Ein Kontrollblick bestätigte seine Sauberkeit, sie liess ihn ins Becken mit dem klaren Wasser gleiten. Wenn es doch nur so einfach wäre! "Geh heim und denk nach!" Worüber sollte sie nachdenken? Sie tastete sich zum zweiten Teller vor, drehte ihn nochmals von der einen in die andere Hand, wischte gedankenverloren die Frühstücksbutterresten ins Spühlwasser hinein, kontrollierte ihn und liess ihn zum andern plumpsen. Gedämpft schepperten sie aneinander. "Was willst du nun tun?" Was gab es denn schon zu tun? Sie fischte sich eine Tasse heraus und betrachtete sie lange, bevor sie sie auf die Oberfläche des sauberen Wassers legte. Etwas tun bedeutete Veränderung. Und Veränderung? Die Tasse schaukelte hin und her und füllte sich langsam. Veränderung... sie sträubte sich gegen jedes Wort, das sich in ihrem Hirn bildete und trotzdem durch irgendwelche Ritzen hervorquoll. "Veränderung ...bedeutet ...Neuanfang. Allein." Wie ein Stein versank die Tasse.

Allein. Nun war das Wort trotz allem gefallen. Sie nahm die zweite Tasse und erspürte ihre Konturen. Allein. Das bedeutete, dem Weg folgen, der sich ihr heute überraschenderweise geöffnet hatte. Es war die Tasse mit dem Sprung. Wie ein Blitz verlief dieser vom oberen Rand über den dicken Keramik bis zum Boden. Im Sprung hatten sich mit der Zeit Kaffeeresten abgesetzt. Man konnte seine dunkle Präsenz kaum übersehen. Allein. Das bedeutete, endlich mit Schule-Geben beginnen. Allein, das bedeutete... Sie fuhr mit dem linken Zeigefinger der dunklen Linie entlang. Plötzlich rutschte ihr die Tasse aus der Hand und hüpfte wie von selbst ins saubere Becken hinein. Tropfen sprangen auf und fielen wie Regen zurück ins Wasser. Für den Bruchteil einer Sekunde bildeten sie ein Kreismuster. Für den Bruchteil einer Sekunde nur, aber gerade so lange, dass Alexandra lesen konnte: "Ist dein Kind wirklich eines aus Fleisch und Blut?" Kurz stutzte sie. Doch dann waren die Kreise verschwunden. Eine Täuschung? Alexandra war seltsam aufgewühlt und trotzdem unberührt von dieser Frage.

Sie suchte sich das Besteck zusammen, rieb es sauber, schwenkte es kurz im klaren Wasser, nahm das frische Geschirrtuch vom Haken und trocknete es damit sogleich ab. Mechanisch lief heute alles ab. Mechanisch tauchten ihre Hände auch wieder ins warme Spülwasser ein und wühlten es auf. Doch es gab nichts mehr zu reinigen. Sie zog den Stöpsel heraus und hängte ihn an seinen Haken.

Allein, das bedeutete... Gedankenverloren trocknete sie ihre Hände an der Schürze ab und ging zum Telefon. Wie in Trance wählte sie eine fast schon vergessene Nummer. Dreimal summte es. Erst, als sich eine weibliche Stimme meldete, erwachte sie. "Barbara? - Hier ist Alexandra." Seltsamerweise war kein Laut des Erstaunens von der andern Seite des Drahtes her zu hören. "Ich habe gehört, in eurem Dorf werde dringend ein Lehrer für die dritte Schulklasse gesucht. Kannst du mich für ein paar Tage bei dir beherbergen? Ich möchte mich bewerben." Auch jetzt war die jüngere Schwester nicht überrascht. Sie fragte nicht einmal nach Peter, sondern willigte einfach ein: "Soll ich dich abholen, oder kommst du mit der Bahn?" Im Zug würde sie noch Zeit zum Nachdenken haben, spürte Alexandra, verabschiedete sich mit wenigen Worten und ging von einer tiefen Ruhe erfüllt in die Küche zurück. Sie nahm das Geschirrtuch in die Hand und begann abzutrocknen. Was für ein Werden sollte es denn sonst sein, wenn nicht eines aus Fleisch und Blut, das Kind in ihrem Bauch?


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6. Tauchen im See des Lebens

Das Telefon klingelte. "Peter? Ja, meine Schwester ist hier." sagte Barbara. Und: "ich weiss nicht, ob sie will..." Mechanisch ging Alexandra auf den dargebotenen Hörer zu und nannte ihren Namen. Leise, sprungbereit, voller Angst vor einer Rüge. Er blieb lange stumm. Sie schwiegen einander an. Sie blieb hart und wartete ab. Sie schwiegen aneinander vorbei. Alles war schon entschieden. Nichts mehr blieb zu sagen. Nichts mehr, oder noch nichts? Plötzlich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als gelte es, einen Kampf zu beginnen, der in Wirklichkeit längst verloren war, zog er seine stärkste Waffe hervor. Er sprach ihn leise aber bestimmt aus, seinen grossen Vorwurf: "Du liebst mich ja gar nicht!" Diesen Satz, mehr nicht. Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, sprach er ihn aus. Schwer hing er in der Luft. Sie wollte sich wehren, doch kein Wort kam von ihren Lippen. Der Vorwurf schmerzte wie stets. Und doch tat es irgendwie gut, dass er, der ewig anwesende, er, der ewig trennende, er, der ewig verbindende endlich auch ausgesprochen war. Dieser Erleichterung noch nicht gewiss, versuchte sie sich zu wehren. Tränen stiegen ihr auf und liefen ihr die Wangen hinunter. Sie wuschen den Schlamm weg, der ihre Worte an ihre Hirnrinde geklebt hatte. Die lange gestaute Wut stieg in ihr hoch, legte sich und machte sie ganz weich. "Doch, ich liebe dich." Denn der kleine Vorwurf kämpfte heftig mit. "Aber ich brauche Abstand. Gewähre ihn mir." Er schwieg. Sie sprudelte plötzlich von Worten und Erklärungen. "Ich weiss nicht, wie lange es dauert. Es wird gut sein für uns beide." Er schwieg noch immer. Er half ihr nicht. Sie bettelte. Sie flehte. Er schwieg. Sie suchte nach Worten und fand keine. Sie kämpfte. Sie rang nach sich selbst und fand sich nicht. Er schwieg. Sie hatte nie zu kämpfen gelernt. Alles war so neu. Sie schluckte. Und er schwieg dazu. Einmal mehr eine Wand. Schliesslich hängte er ein.

Sie nahm ihren Mantel und eilte hinaus, ohne ihn erst zuzuknöpfen. Noch immer regnete es. Nur die Art des Regens hatte sich geändert: Ein dichtes Netz von rieselndem Wasser erfüllte die Luft. Innert kürzester Zeit waren ihre Kleider klitschnass. Sie spürte Kälte und Nässe auf ihrer Haut und fühlte sich, als ob sie schwimmen würde. Schwimmen tief unten in einem See. Tauchen.

Sie liess sich fallen und tauchte tief hinunter. Sie spürte das kühle Wasser über ihr Gesicht streichen. Sie streckte ihre Nase weit vor und genoss die Zärtlichkeit des Wassers auf ihren Wangen. Sie wand sich. Sie drehte sich. Sie pustete ein paar Blasen und schaute ihnen zu, wie sie sich dem Licht entgegen nach oben drängten. Sie machte eine einzige grosse Schwimmbewegung und liess sich lange und mit verhaltenem Atem durch das Wasser gleiten. Sie drückte ihren Kopf ganz nach hinten und spürte, wie das Wasser über Brust, Bauch und Beine strömte und hinter ihren leicht angewinkelten Knien Wirbel bildete. Dann zog sie den Kopf ein und spürte den Strom den Rücken hinunter gleiten. Sie zog erneut aus. Der ersten Bewegung folgte eine zweite und eine dritte. Sie steigerte ihr Tempo kontinuierlich. Bald schwamm sie um die Wette mit Weltmeistern. kraftvoll, konzentriert, um Hundertstelsekunden kämpfend, jede unnötige Bewegung zu vermeiden trachtend. Sie keuchte dicke Blasen und atmete wie mit Kiemen Wasser ein. Doch lange konnte sie nicht mithalten. Sie verschluckte sich und hustete. Sie kämpfte weiter, doch der Hustenreiz liess nicht nach. Müde bremste sie ab. Kurzfristig entschloss sie sich zur Musse, drehte sich nach oben und schaute dem hellen Schein der Wasseroberfläche entgegen. Sie schloss die Augen und genoss das Licht durch die beinahe glasklare Flüssigkeit hindurch. Sie machte einen Purzelbaum, tauchte tiefer und suchte den Grund. Ihrem Grund. Das Wasser wurde kälter und beinahe unerträglich kalt. Wirbel versuchten sie an die Oberfläche zurückzuziehen, weg von ihrer Mitte. Der linke Arm wurde ihr auf den Rücken gerissen und ihr Körper drehte sich nach oben. Dumpf prallten die Oberschenkel an ihren Bauch. Sie blieb einen Moment in dieser eng zusammengekauerten Stellung, wurde auf diese Weise jedoch spürbar durch die aufgewühlte Wasserschicht hindurch nach oben gezogen. Sie streckte sich und bremste damit den Auftrieb ab, doch nun flatterten ihre Gliedmassen im bewegten Wasser wie Wäsche im Wind. Wirbel rissen an ihren Haaren. Sie zog Arme und Beine wieder an, schöpfte Kraft und streckte sich dann wieder. Mehrmals duckte und streckte sie sich, bis sie bemerkte, dass sie erheblich an Tiefe verloren hatte. Sie biss sich auf die Lippen und zog ihren Körper mit aller Kraft wieder nach unten. Ihre Ohren verschlugen sich. In etwa der selben Tiefe wie zuvor angekommen schwamm sie einen Kreis, einen zweiten, weniger engen und schneckenartig einen dritten. Als wären diese drei Kreise ein magisches Zeichen gewesen, um einen Sturm zu besänftigen, war das Wasser mit einem Schlag ruhig. Nachdem sie sich von ihrem Erstaunen erholt hatte, schwamm sie in der Tiefe, ihrer Tiefe umher. Sie irrte darin umher und tastete mit den Händen und Füssen um sich, hoffend und suchend. Die Kälte frass sich tief in ihre Haut ein. Ohne etwas gefunden zu haben, was sich von der Materie des Wassers unterschied, wandte sie sich schliesslich fröstelnd um und liess sich langsam nach oben gleiten.

Ein Auto hupte. Erschreckt tauchte sie aus ihrem See auf und überquerte die Strasse. Da erschienen Kreise vor ihr. Kreise, wie die auf dem Kinderspielplatz. "Willst du dein neues Leben mit einer Lüge beginnen?" fragten sie. "Lüge, Lüge, Lüge" hallte die ganze Luft ringsherum und lachte. "Nein!" schrien ihre Gedanken. Sie erschrak ob der Heftigkeit dieses "Neins". Es war ein verzweifeltes "Nein", ein "Nein" eines Menschen, der genau weiss, dass seine Meinung, wenn sie nicht sehr energisch ausgesprochen ist, nichts gilt. Ein "Nein", welches zugleich rief: "Einmal, einmal möchte auch ich etwas zu sagen haben!". "Nein, ich will nicht!" In der nächsten Telefonzelle wählte sie seine Nummer. "Nein, Peter, es stimmt. ich liebe dich tatsächlich nicht. Hab es nie getan. Du mich auch nicht. Ich verlasse dich ganz. Leb allein weiter. Versuch es." Sie argumentierte nicht lange. Sie wartete seine Antwort auch nicht ab. Diesmal war sie es, die aufhängte. Das letzte "Nein", das noch in der Luft lag, lachte einmal melodiös glucksend auf, als der Hörer bereits auf dem Weg zur Gabel war.

Als sie die Telefonzelle verliess, bemerkte sie, dass ihr Gesicht von Tränen überströmt war. Von Tränen jedoch, die der Regen laufend wegwusch. Und abgesehen davon - ihr Bauch wurde ganz warm beim Gedanken an all das, was nun an Neuem auf sie zukommen würde.


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