Kurzgeschichten aus Israel

Shulamith Hareven: Der Zeuge


Ich hatte es nicht geschafft, mich auf Schlomiks Kommen in unsere Schule angemessen vorzubereiten, trotzdem ich die Klasse einige Tage vorher vorbereitet hatte. Ich hatte ihnen gesagt, dass diese Woche ein jüdisches Kind aus dem Krieg in Polen zu uns kommen würde, und dass ich überzeugt sei, dass ihn alle mit Wärme empfangen und ihm ein Gefühl von zuhause vermitteln würden. Unsere Schule, sagte ich, ist wie unsere Herzen. Das Schicksal war bitter mit ihm, sagte ich. Er kommt, sich uns anzuschliessen. Trotzdem. Pflanzen, bauen, gebaut werden.

Vielleicht hätte ich die Rede nicht so lang fassen sollen. In der achten Klasse herrschte ein Mass an Trotz - oder vielleicht war dieser Trotz in jenen Tagen gegen mich, ihren Erzieher gerichtet. Manchmal, wenn ich vor dieser Klasse stand, dachte ich, dass ich an ihnen vorbei sprach, Meine Worte, in meinem Innern wie ein Licht, erlöschten plötzlich auf ihrem Weg nach aussen. Oder vielleicht fiel meine Stimme auf irgendeine Wand, die zwischen ihnen und mir stand, und drehte die Herzensrichtung um, trug den Klang meiner Stimme zu mir zurück und wurde zum Gespött, zugemauert und ohne Echo. Ich bin überzeugt, dass es in der Welt keinen Erzieher gibt, der nicht solche Tage in seiner Klasse kennt. Und ich, ich bin ein gefühlvoller Mann. Ruta, die Psychologin, unsere Beraterin, die ich auf dem Weg zum Esssaal traf, sagte mir: "Sag, Jotam, bist du sicher, dass du nicht zu viel von ihnen verlangst?"

Ich war nicht sicher. Nie bin ich sicher, wenn ich mit Ruta spreche. Eine ausgedörrte und sarkastische Frau. Aber wie sollte ein Erzieher seine Klasse nicht auf ein so ausserordentliches Ereignis vorbereiten. Schon seit den zehn Monaten, die sich der Weltkrieg hinzog, verfolgte die Klasse alle deutschen, polnischen und französischen Bewegungen auf der grossen Karte, die seit vergangenem September an der Wand ihrer Baracke aufgehängt war, hörte Radio wie einen endlosen sportlichen Wettkampf, doch noch waren wir nicht direkt vom Krieg berührt worden. Unmittelbar, sozusagen. Boas war überzeugt, dass ihm das neue Kind den Unterschied einer Messerschmitt und einer Stika erklären könne. Einige Mädchen, deren Eltern aus Polen kamen, sagte, sie würden ihn bitten, zu erklären, wie es geschah, dass die hochgelobte polnische Kavallerie so schnell geschlagen wurde. Joram und Eli sagten, es läge an ihnen, sich mit dem neuen Kind zu beraten, wann England seine Niederlage in Dünkirch überwinden und zum praktischen Kämpfen auf europäischem Boden zurückkehren würde. Es war also Erwartung, wie auf das Kommen eines Fachmanns.

Dann gab es wie gewohnt Verkehrsverspätungen, und statt dass Schlomik am Morgen vor dem Eintritt in die Klasse zu einem langen Gespräch mit mir erschien, stand der SüdjudaAutobus bis zur Mittagsstunde in unser Kasuarinenallee. Ich hörte am Morgen nichts von ihm, und als Schlomik hereinkam, fand er mich vor dem Spiegel, meine Haare ordnend. Es ist nichts schlechtes daran, wenn ein Erzieher sich kämmt. Im Gegenteil, der Mensch hat die Pflicht, nett und ordentlich zu sein, und ich habe viele Locken auf dem Kopf und es fällt mir schwer, sie zu bändigen. Der Reichtum wird für den Besitzer zum Schaden. Trotzdem ich mich im Stillen sorgte, dass das erste Treffen mit ihm so und nicht anders war, blieb jedoch keine Zeit, ich musste ihn mit mir nehmen und schnell vor der Mittagspause in die Klasse gehen.

Ich weiss nicht, was ich erwartete, aber einen solchen Schlomik erwartete ich nicht. Erstens war er nicht besonders bleich, zwar sehr dünn, aber nicht bleich. Es stellte sich heraus, dass er auf dem Meer, auf dem Deck irgendeines Schiffes einige Wochen lang rumgelümmelt hatte und gebräunt war. Zweitens konnte er wenig Ivrith, so ein Ivrith einer "Tarbut"Schule, ein Ivrith, das bei uns sozusagen alten Leuten vorbehalten ist, und ein Junge, der so spricht, scheint sich das Recht Erwachsener anzumassen. Auch seine Kleidung war erwachsener als meine: lange Hosen trug er, sehr, sehr ordentliche Hosen, eine sorgfältige Falte an der Hosenbeinfront. Wer bei uns lange Hosen trug, war sehr alt, mit weissen, wie rasierten Beinen. Wir alle gingen Sommer und Winter mit nackten Beinen herum, und sie sind haarig und warm. Berg und Hügelspringer sind wir, und Ziegenbeine sind unsere Beine. Manchmal berührt das Bein eines unserer Mädchen den haarigen Pelz auf dem Bein eines Jungen, und schon springt ein Funke. Ich möchte damit sagen, dass es in unseren Klassen viel gesunde Lust gibt. Von Ruta kommen jedoch kritische Bemerkungen darüber. Ruta ist überzeugt, dass man bei uns in diesen Dingen frühreif ist, weil die Kinder getrennt von ihren Eltern aufwachsen. Wühl ein wenig in den Lebensläufen der Kinder der landwirtschaftlichen Schule, und in vielen Fällen wirst du etwas darin finden. Ich bin nicht gleicher Meinung wie Ruta. Manchmal sehe ich die Mädchen der zwölften oder sogar der elften Klasse zur Abendzeit in der Nähe des Zauns zur Obstplantage, und der Duft von Orangen ist natürlich der Duft von Orangen, und ich bin nicht sicher, ob all diese ihre Reife tatsächlich davon herrührt, dass ihre Eltern weit weg oder geschieden sind oder einfach zuhause keine Kinder haben wollen. Sie haben etwas Natürliches. Ruta begreift das ganze natürliche Bedürfnis nicht. Ich kann Beispiele nennen. Michal zum Beispiel, in der elften, ist ein sehr natürliches Mädchen. Ran Slozki, der Erzieher ihrer Klasse versteht sie schlichtweg nicht. Ich bin sicher, ich hätte für sie den offiziellen Lehrplan etwas zurechtgebogen, wäre ich ihr Erzieher gewesen. Natürlich nicht in der Regel, nur in bestimmten Situationen. Ich sagte dies einmal im Lehrerzimmer und ich denke, die meisten waren mit mir einig.

Und so reichte es Schlomik nur, mir zu erzählen, dass er in einer ziemlich grossen Stadt geboren sei und in der "Tarbut"Schule gewesen war, und bei Kriegsausbruch mit seiner Familie in ein Dorf geflohen sei - und schon waren wir an der Klassenzimmertür, verschwitzte Mittagsmüdigkeit, Hunger und Ungeduld. Ich bat die Englischlehrerin um Verzeihung und sagte: Und hier, Freunde, ist euer Bruder." - "'chbin nicht sein Bruder", ertönte die Stimme von Boas, und drei oder vier brachen in nervöses Lachen aus. Schlomik schaute Boas erstauntinteressiert an, dann blickte er zu mir.

"Schlomik", sagte ich, "bitte erzähl uns, was der Zustand des Krieges ist, dort, wo du herkommst." Schlomik schaute mich lange an, sehr erstaunt, dann sagte er traurig: "Es gibt keinen Krieg." - "Was heisst das, es gibt keinen Krieg", erhoben sich Stimmen aus der Klasse, "Was sagst du?" - "Es gibt keinen Krieg.", sagte Schlomik, "Der Deutsche in Stadt und Land, kein Mensch kämpft mehr gegen ihn, denn stark ist der Deutsche, sehr." Boas spukte einen Strohhalm aus dem Mund und sagte: "Angsthasen." - "Nicht Angsthasen.", sagte Schlomik und seine Stimme wurde lauter, als er erregt erklärte: "Nicht Angsthasen. Aber gibt keine Kraft und kein Heldentum vor ihnen." - "Ich bin sicher es gibt.", sagte Boas, "Ich bin sicher, es gibt Menschen, die mit den Deutschen kämpfen, wie es sich gehört, auch unter Besatzung. Ich bin sicher, dass nicht alle Angsthasen sind, wie einige Leute, die hier stehen." Schlomik schaute mich mit demselben eindringlichem Erstaunen an und ich sagte: "Boas, richte deinen Nächsten nicht, bis du an seiner Stelle stehst."

Doch Boas antwortete nicht. Der ganze Eintritt Schlomiks in die Klasse rollte nicht ab wie geplant. Ich fühlte mich unbequem, meinen krausen Haare, die ich nicht mit dem Kamm hatte pflegen können und mit der speziellen Flüssigkeit, die wegen Schlomiks plötzlichem Eintritt bei mir im Zimmer stand, verstärkten meine Unbequemlichkeit, wie wenn man mich nackt und unvorbereitet gefunden hätte.

"Schlomik", sagte ich, "erzähl über dein Zuhause und deine Familie!" Ein langer Moment verstrich, bis er sprach. Es schien, als ob er nicht mehr wagte, seinen Mund zu öffnen. Dann sagte er leise wie in stillem Gebet: "Meinen Vater hängten sie an einen Baum. An Pessach hängte man ihn. Meine Mutter und zwei meiner Brüder, mit Schüssen töteten sie sie, als sie Brot einkaufen gingen. Vier Tage und vier Nächte trug man sie nicht zum Grabe, denn der Winter war lang und Schnee und die Erde war sehr hart. Man..." er machte mit seinen Händen die Bewegung des Grabens, und ich sagte: "Graben, man grub nicht." - "Man grub nicht," sagte Schlomik und fuhr in der selben klageliedähnlichen Art fort: "und noch sehr viele wurden an diesem Ort umgebracht. Und der Name meines grossen Bruders ist Eliahu und der Name meines jüngeren Bruders ist Josef und der Name meines Vaters ist Itzchak und der Name meiner Mutter ist Bilha."

"Bis hier die Lesung des Wochenabschnitts." ertönte Elis Flüstern. Die Klasse war einen Moment lang still, dann war ein Durcheinander. Viele Stimmen klangen durcheinander. "Was sagt er da? Was blufft er uns vor? Was soll das, dass die Deutschen Bürger umbringen, die Brot holen gehen, hat er nicht selbst gesagt, es gäbe keinen Krieg, nur eine Besatzung, was soll dann dieser ganze Quatsch?"

"Ruhe in der Klasse!" schrie ich ein zweimal, vergeblich. "Ruhe in der Klasse, Ruhe!" - "Also wirklich", sagte Rina, deren Vater Musikwissenschaftler aus Deutschland war, "im Krieg, das verstehe ich, geschehen alle möglichen Dinge, aber einfach so Bürger umbringen, das leuchtet nicht ein. Das hat er bloss erfunden." - "Ich glaube, ich glaube, vielleicht hat er einen Schock." mischte sich eines der kleinen gutmütigen Mädchen ein. "Das gibt es im Krieg manchmal, wisst ihr, da erhält man einen Schock und sagt alle möglichen Dinge. Das geht vorüber und danach erinnert man sich an nichts, nichts." Schlomik blickte sie an, dann mich. "Du kannst sitzen, Schlomik", sagte ich. Ich war verlegen. Ich war mir bewusst, dass ich es nicht geschafft hatte, die Herrschaft über die Klasse zu behalten. "Wo mein Standplatz?" fragte Schlomik, und diesmal machte er mich beinahe wütend. Wo mein Standplatz, also wirklich. Ich setzte ihn neben die kleine Edna, das gutmütigste Mädchen der Klasse, kurzhaarig wie ein Baby, wie es schien auch gradherzig, jedenfalls nicht böswillig. Ich war besorgt darum, dass Schlomik weit weg von Boas sass. Doch dann stellte sich heraus, dass Schlomik zu gross war und den kleinen Eli hinter sich versteckte und ich musste noch einmal einige Änderungen an der Sitzordnung vornehmen, was am Ende des Schuljahres nicht beliebt ist. Unterdessen sah ich Edna im Geheimen einen Kaugummi aus der Tasche ziehen und ihn Schlomik geben. Er konnte damit nichts anfangen.

In Zwischenzeit ertönte die Mittagsglocke. Die ganze Gemeinde der Hungrigen brach nach draussen, spülte die Englischlehrerin und mich mit sich und Schlomik in meine Nähe. Trotz der leichten Verwirrung, die ich spürte, umfasste ich andeutungsweise seinen Schulter. Er schmiegte sich an mich, etwas, was ich bei Jungen nicht mag, es ist nicht natürlich. "Die Klassenkameraden mögen mich nicht", sagte er sehr traurig. "Sie werden sich an dich gewöhnen", sagte ich übertrieben optimistisch, "und du wirst dich einleben und bald wirst du aussehen wie wir alle, sprechen wie wir alle und nicht fühlen, dass du nicht von hier bist. Auch die Kleidung wird sich anpassen." - "Die Kleidung?" Er verstand nicht. "Bei uns gehen alle Jungen mit kurzen Hosen herum", sagte ich "und nur wer von der Diaspora kommt, trägt lange. Morgen vormittag, Schlomo, wirst du zum Lager gehen und Batya um ein Paar kurze Hosen bitten und sie tragen." Ich klopfte ihm auf seine Schultern. "Du wirst bald ein Sabre sein, Schlomo, sorge dich nicht und alles wird gut."

Ich war mir nicht sicher, dass alles gut würde. Überhaupt nicht. Schlomiks Worte zeugten von einem Übermass an Übertreibung und ungezügelter Phantasie. Ich vermutete, dass er seine Familie bei der Bombardierung verloren hatte, oder dass er an Schuldgefühlen litt, sie dort gelassen zu haben während der Flucht, von der ich noch nichts wusste. Vielleicht wusste er überhaupt nichts von ihrem Verbleiben und entschädigte sich, indem er erschütternde Geschichten über ihren sonderbaren Tod erfand. Wie viele Knaben und Mädchen bei uns, die familiäre Probleme haben, erfinden Geschichten über ihre Eltern, aber normalerweise sind es Geschichten über Ehre und Respekt von Vater und Mutter. Ein Besitzer eines bescheidenen Unternehmens wird in der Phantasie des Kindes zum Millionär aus Kanada. Eine Mutter, die an Familienfeiern singt, wird zur Opernsängerin. Hier traf ich zum ersten Mal in meiner Erfahrung als Erzieher auf ein Kind, das die Ermordung seiner Eltern auf diese Art phantasierte. Ruta hätte sicher von Ödipuskomplexen gewusst. Und betreffend der Brüder würde sich der Komplex des mittleren Kindes bestätigen. All diese Dinge gehören nicht zu meinem Fachgebiet. Ich vermutete, dass es an mir lag, mich mit Ruta zu beraten, und das mochte ich nicht. Eine Klasse, in der Ruta sich zu sehr einmischt, ist keine gute Klasse in unserem Mossad. Und bis jetzt war meine Klasse eine gute, d. h. normale Klasse gewesen.

Im Lehrerzimmer tröstete man mich: Bald wird Schlomik ein Kind wie alle sein, man wird keinen Unterschied mehr merken, sagte man. Alle Kinder verzichten auf diese Phantasien, wenn sie sich anpassen und Selbstbewusstsein schöpfen. Erinnerst du dich nicht, wie Boas Phantasierte? Oder Rina? Ein halbes Jahr hatte Rina Geschichten von Onkel und Tante erzählt, die es nicht gab, bis sie aufgenommen wurde und sich beruhigte. Ich hörte es und nahm es zur Kenntnis.

Am Morgen stellte sich heraus, dass Schlomik nicht hatte warten können, bis das Lager offen war. Er hatte aus einem der Zimmer eine Schere entwendet und seine langen Hosen geschnitten, bis sie sehr, sehr kurz waren. Im Dunkeln tat er dies: er wagte es nicht, Licht im Zimmer zu machen.

Ich gebe zu, dass ich mich in den Tagen danach nicht viel mit Schlomiks Angelegenheiten beschäftigte, denn ich hatte private Probleme, die ich schlicht nicht zu lösen schaffte. Nur in einem einzigen Fall wurde ich gebeten, mich einzumischen, beim Thema Bett. Schlomik beanspruchte für sich das Bett, das am nächsten zur Zimmertür im Zimmer am nächsten zur Barackentür stand. Auf diesem beharrte er und gab in keiner Weise nach. "Man kann denken, dass du ausreissen willst", sagte ich ihm, aber ohne etwas zu erreichen. Er liess mich einfach wissen, dass er an einem andern Ort nicht schlafen werde. Wir gaben ihm nach, trotzdem die Sache weitere Verschiebungen bedingte. Aber ich bemühte mich, Schlomik entgegenzukommen, so weit ich konnte.

Mein privates Problem war eigentlich eine Gewissensfrage: ob es einen Unterschied zwischen der zwölften und der elften Klasse gibt. Es war in unserer Schule gang und gäbe, dass die Mädchen der Zwölften in jeder Hinsicht erwachsen waren, schon die Tatsache, dass einer unserer Sportlehrer vor einigen Jahren der Freund eines Mädchens aus der Zwölften war, hatte nichts Beschämendes. Michi, d. h. Michal, war noch in der Elften, und die Sache bereitete mir seelische Probleme und Schlaflosigkeit. Manchmal schien mir, dass sie mir mit einem Hauch vollständigen Verstehen zulächelte. Oftmals bedauerte ich es, dass Ran Slozki der Erzieher ihrer Klasse war und nicht ich. Doch gerade in jener Woche erkrankte der Lehrer für Literatur und ich wurde angefragt, an seiner Stelle in der elften Klasse eine einzige Stunde zu halten. Dies war einer der Tage, die ich gewiss bis zum Ende meiner Tage nicht vergesse. Ich unterrichtete Tschernichowski: Melodie ist mir und Musik ist mir. Ich gebe zu, dass ich aufgewühlt war: dieses Gedicht wühlt mich immer auf, und an jenem Morgen schwebte ich wie auf Flügeln. "Wer bist du, mein Blut, das in mir kocht", sagte ich, und diesmal kam meine Stimme nicht leer zurück. Die Klasse hörte mächtig gespannt zu, einer jener Momente, in denen die Klasse und die ganze Welt dir ist. Wer bist du, mein Blut, das in mir kocht. Schön war meine Stimme, das wusste ich, und in dieser Stunde war sie schöner als sonst, wie wenn eine spezielle Kraft in ihr geherrscht hätte. Auch über mein Haar musste ich mich nicht schämen an jenem Vormittag. Dann gab ich Michi, d. h. Michal ein Zeichen, dass sie einen Vers lese. Sie schaute mich sehr direkt an, wie wenn sie von demselben meinem Sturm ergriffen sei und sagte: "Steig auf den Hügel, spring auf dem Feld, alles, was du siehst, ist erlaubt!"

Dies war einer der Momente, für die der Beruf des Unterrichtens geschaffen ist. Das starke Gefühl von Mission erhob sich in mir und wollte ausbrechen. Ich war überzeugt, wenn in jener Stunde der Aufruf einer Nationalen Organisation an uns gelangt wäre, ich hätte vor diese Klasse stehen und sie durch alles, was von uns verlangt worden wäre, führen können. Dies ist die Kraft von Dichtung.

Es war schwer, von einer so wundervollen Stunde zu prosaischen Dingen zurückzukehren, doch auch an Prosa mangelte es nicht an unserer Schule. Und darum ging es: wie gewohnt musste man Kuchen backen: jeden Freitag pro Baracke einen Kuchen. Tatsächlich gab es einen Streit zwischen den beiden Köchinnen und dem Schulleiter über die Arbeitszeiten: Am Freitag, punkt zwölf Uhr mittags, Sommer und Winter, rannten sie schnell durch die Kasuarinenallee, stiegen in den SüdjudaAutobus und fuhren heim; und wenn der Freitag nicht schon kurz genug gewesen wäre, oder wenn es Probleme mit dem Ofen gab, der wirklich alt und nicht immer einwandfrei war - so blieben immer zwei oder drei Baracken ohne Schabbatkuchen. Ich war überzeugt, dass die Köchinnen nicht vom rechten Geist von Brüderlichkeit durchdrungen waren, und einmal in derselben Woche, erbat ich mir von ihnen Red und Antwort dazu. Ich versuchte, aber es nützte nichts. Sie lärmten mich an. Von dieser Stunde an sorgte ich dafür, immer, wenn ich diesen Köchinnen begegnete, die sich am Freitag zur Bushaltestelle so beeilten, meinen totalen Verdruss über dieses Wegrennen, über dieses aufgeregte Gerenne, ein Gerenne, das in keiner Art und Weise zu einem Erziehungsmossad passte, in einem Gesichtsausdruck von Abscheu auszudrücken. Ich denke nicht, dass man sich in meinem Gesichtsausdruck irren könne. Denn nicht alles und jedes muss in ausdrücklichen Worten gesagt werden.

So steckte ich zwischen Geistigem und Materiellem, wenn man sich so ausdrücken darf, denn nicht nur vom Brot allein lebt der Mensch. Und ich weiss, dass ich an jenem Tag und an den Tagen danach Schlomik nicht viel Aufmerksamkeit schenkte. Einmal sah ich ihn mit brennenden Augen in einer Gruppe mit einigen Schreihälsen der Klasse, und ich näherte mich, um zu fragen, was los sei.

"Schlomik lügt wieder", Joav hüpfte mir wie ein Hahn mit wildem Kamm entgegen, "wir können seine Lügen schon nicht mehr ertragen, jetzt erzählt er, dass sie zur Zeit der Besatzung während zweier Wochen ausser ein paar Kartoffeln nichts gegessen hätten. Stimmt's, dass das Bluff ist? Sag Jotam, ist es wahr dass dies Bluff ist? Dass so etwas nicht sein kann?"

"Schlomik", sagte ich, "komm zu mir." Er trennte sich von der Gruppe und näherte sich mir. Ich begann mit ihm die Länge des Korridors auf und abzuschreiten. Vielleicht versuchte er wieder, sich an mich zu schmiegen, aber ich liess ihn nicht, er musste sich stählen, um ein Mann zu werden. "Schlomo", sagte ich ihm milde, "wenn du einer von uns werden willst, verärgere die Klasse nicht." - "Mein Lehrer", sagte Schlomik, und seine Stimme wurde weinerlich. "glaub mir, so wahr ich lebe, wir assen nichts als ein paar Kartoffeln." - "Jotam", sagte ich, "nicht: mein Lehrer." - "Jotam." - "Weisst du, Schlomo," sagte ich, "es besteht nicht immer die Notwendigkeit nach absoluter Wahrheit. Jeder Mensch hat seine eigene Wahrheit. Du befindest dich hier unter Freunden, und wir alle wollen, dass du ihnen gleichst. Dass du wie sie wirst, damit sie dich lieben. Ist dir der Ausspruch bekannt: 'Freundschaft oder Leben'?" - "Bekannt." sagte Schlomik und wischte seine Augen. "Aber an unserer Schule gab es eine andere Interpretation. Freundschaft. Auslegung: Gruppe von Lernenden. Toralernenden." - "Und wer sind wir, wenn nicht eine Gruppe von Lernenden," besiegte ich Schlomik, "siehst du?" Er lächelte bitter, sehr schnell; Ruta sagte einmal, er lächle wie ein Soldat, der auf dem Schlachtfeld ein Streichholz entzündet und es schnell mit der Hand abdeckt. "Ich sehe," sagte er sehr müde.

Er gab sich Mühe. Ich weiss, wie sehr er sich Mühe gab. Seine körperliche Fähigkeit war überhaupt nicht schlecht, und auch dieser Umstand half, seinen Ruhm zu vergrössern. Einmal kam er sogar als erster beim 500m Lauf an und er strahlte vor Glück. Ich der Kleine gehöre stets zu jenen, die an die Redensart glauben, dass "ein gesunder Geist in einem gesunden Körper wohnt", und ich sah viele Schüler in meinem Leben, denen eine gute Körperbeherrschung viele seelische Probleme löste. So ist z. B. bekannt, dass in einer gemischten Schule, wo Jungen und Mädchen zusammen lernen, mit gemeinsamen Zimmern und offenen Duschen, in der Pubertät nicht wenige seelische Probleme entstehen können und man kann sehen, förmlich zusehen, sie eine gute Stunde harten Mittagslauf unsere heranwachsenden Jungen die seelischen Probleme vergessen lässt. So ermutigen wir in unserer Schule sehr zum Sport und auch wenn gesagt wird: "der Fremde soll dich loben, nicht dein eigener Mund", bin ich sehr stolz auf die paar Pokale, die wir von den regionalen Sporttagen zurückbrachten, und vielleicht ist mir erlaubt zu sagen, dass meine Klassen nie unter den letzten waren, wirklich nicht.

Einmal fragte ich die kleine Edna: "Nu, was ist mir diesen Geschichten von Schlomik?" - "Weiss nicht, Jotam", sage sie, "diese sowas wie biblischen Geschichten. Das ist fast zu viel für uns." - "Quäle ihn nicht ihretwegen", sagte ich, "in einiger Zeit wird er von selbst damit aufhören." - "Ich quäle ihn nicht. Nur einige der gestörten Jungen." Ich streichelte ihren Kopf. "Diese Jungen werden Helden werden, Gottesmänner, und auch Schlomik wird sich anpassen und wird einer der Helden, der Gottesmänner sein. Nur Geduld, alles wird sich arrangieren."

In unserer Schule haben viele Spitznamen. Auch Schlomik erhielt einen: Kaftorek. Wieso Kaftorek? Die Mädchen hatten die Hand im Spiel. Ich sage nicht, dass sie Schlomik besonders verehrten, - er war nie eine so bedeutende Persönlichkeit in der Klasse wie zum Beispiel Boas oder Joav, aber sie hassten ihn auch nicht. Schlomik war einer jener Jungen, die sich nicht schämten, sich ab und zu in Gesellschaft der Mädchen aufzuhalten und für sie sogar die Strickwolle zwischen den Händen zu halten, die sie zu Knäueln wickelten.

Einmal fragten die Mädchen Schlomik so zum Spass die Namen der Wochentage in polnisch und der Name des Dienstag gefiel ihnen: Wtorek. Ihr wundert euch, wie ich dieses Detail kenne, es ist so: ein guter Erzieher weiss normalerweise, was sich in der Klasse ereignet, besser als die Klasse überzeugt ist, dass er es weiss. Und ihr wundert euch vielleicht weiter, wie ich, Jotam Ras ein Wort auf polnisch kann, es ist so: auch meine Eltern kamen aus Polen und brachten mich als Fünfjährigen mit, obwohl, wer mich sieht, kann das gar nicht ahnen, weil ich durch und durch ein Sabre bin, aber so ist es. Man kann darauf nicht gross stolz sein, aber auch schämen muss man sich nicht, denn viele der Gründer unseres Landes, von der Generation der grossen Pioniere kamen von dort. Und daher erinnere sogar ich, Jotam Ras, früher Rosovski, Sabre in jeder Hinsicht und Erzieher von Sabres, mich noch undeutlich daran, dass Wtorek Dienstag heisst. Die Mädchen sagten Wtorek, Wtorek, Ftorek, Kaftorek. Schlomik blieb Kaftorek.

Einmal, gegen Ende des Jahres, gingen wir auf einen Klassenausflug in einen der Wälder. Als wir Pause machten, kam Schlomik zu mir und frage mich, wann wir im Wald seien. Ich sagte ihm, dies sei der Wald. Schlomik schaute um sich und grinste, sein Grinsen gefiel mir nicht. Vielleicht ist der Wald klein, vielleicht ist er noch nicht dicht, doch unser Wald ist er , vom jüdischen Nationalfonds, die Kraft der Hände des Pionierlagers war es, die ihn pflanzten. Ich war der Ansicht, dass Schlomik ein wenig bescheidener hätte sein können bei seinem Urteil über das Land.

Aber alles in allem sah ich, dass sich die Mühe bezahlt machte und sich Schlomik anpasste. Zwei Zwischenfälle sind mir noch vom Ende des Jahres in Erinnerung, in einem davon entschied ich zu seinen Ungunsten, in einem zu seinen Gunsten. Und ich war überzeugt, dass ich damit ein gesundes Gleichgewicht pflegte. Tatsache ist, dass Schlomik Hausmeister war und Boas mit voller Absicht Abfall auf den Rasen warf. Schlomik las auf, was er auflesen konnte und verlor schliesslich seine Geduld und wandte sich zitternd vor Wut an Boas: "Wer verschmutzt, soll bittschön auflesen!" - "Was noch", sage Boas und warf das Schutzpapier seines Sandwichs, das er kaute, weg. "Sei so gut, auflesen", sagte Schlomik und zitterte. "Kommt mir nicht in den Sinn, so gut zu sein", sagte Boas. Schlomik machte einen Fehler. In der Hitze seines Zorns beging er einen Fehler. "Bei uns tut man das nicht", sagte er. "Ich bin überzeugt, dass man dies bei euch in der schmerzvollen Diaspora nicht tut", sagte Boas, "also kehrst du vielleicht zurück in die schmerzvolle Diaspora und hörst auf, uns verrückt zu machen?"

Schlomik überfiel ihn. Es war ein seltsamer Kampf, denn Boas war der unangefochtene König der Klasse und wenn er nicht überrumpelt worden wäre, hätte er Schlomik zerquetscht. Doch Boas wurde überrumpelt und schon wurde er zu Boden geworfen, Schlomik zerquetschte ihn, und einige der Mädchen, die um sie herumstanden, kicherten vor Überraschung und Verwirrung und riefen mutig: "Kaftorek, Kaftorek, bravo, Kaftorek, nimm ihn, nimm ihn!"

Ich hatte keine Wahl. Manchmal muss ein Erzieher zulassen, dass die Dinge sich von selbst entwickeln, und manchmal muss er sich einmischen. Boas war der Leiter der Klasse, alles hörte auf ihn , viele Angelegenheiten der Klasse baute ich auf Boas auf und noch war ich überzeugt, dass die Führer der Haganah im kommenden Jahr, wenn sie für diesen Jahrgang herkämen, zu Recht Boas als einen der Kommandanten auswählten. Ich sah ihn als Beispiel des Mutes, des gesunden jüdischen Stolzes, viele jener Eigenschaften, die wir in unserer Erziehung heranziehen sollten. Ich konnte nicht hinnehmen, dass seine Führungsposition erschüttert wurde. Ich trennte die beiden.

Boas stand auf und kotzte Schlomik an: "Was für ein Glück du hast, dass Jotam gekommen ist, du Schwächling !" Danach hörte ich ihn den Jungen erzählen, Schlomik, dieser Angsthase hätte die Hilfe Jotams gebraucht, sonst wäre überhaupt nichts von ihm übriggeblieben. Auf diese Art rächte er sich an den drei Mädchen, die Zeuginnen des Vorfalls gewesen waren und Schlomik ermutigt hatten. Ich griff nicht ein. Ich wandte die Regel an, wie ich Schlomik gesagt hatte: nicht immer besteht die Notwendigkeit nach absoluter Wahrheit. Meine Aufgabe als Erzieher war, hier eine neue Generation aufzubauen, eine stolze und bescheidene und grausame Generation. Die Optik des Volks war in meinen Augen stets wichtiger als die Optik des einzelnen. Auch wenn nicht von Schlomik die Rede gewesen wäre, hätte ich mich so verhalten und ich meine nicht, dass ich ausgerechnet zu seinen Gunsten einen Unterschied hätte machen sollen, da er sowieso eine Ausnahme war. Ein Erzieher muss manchmal auch unpopuläre Beschlüsse fassen können.

Trotzdem verhielt ich mich in einer anderen Begebenheit genau zu seinen Gunsten. Von überallher kam man zu mir und beklagte sich über ihn, dass er überall, wo er eine leere Fläche fand, auf der er sich abgrenzen konnte, auf die Wand seines Zimmers, auf die Türen, sogar in Baumstämme ritzte, schrieb, kritzelte. Der Schriftzug war immer derselbe: J39, B37, E12, J8. Ich vermutete dass in diesen Buchstaben und Zahlen irgendein persönlicher Code Schlomiks steckte, aber ich achtete seine Privatsphäre und fragte ihn niemals, was er da schreibe. Manchmal muss ein Erzieher es verstehen, sich nicht in die Privatsphäre des Heranwachsenden einzumischen. Die Hormone haben ihre eigenen Befehle. Und manchmal kommen diese Befehle in sonderbaren Schriftzügen zum Ausdruck. Sogar ich, der schon über 26 bin, ertappte mich einmal selbst, wie ich fast unabsichtlich in den Stamm einer Kasuarine den Buchstaben "M" einritzte - und ich hielt mich selbst zurück, bevor ich den Rest der Buchstaben hinzufügte, denn ich bin kein Junge, sondern ein Lehrer und Erzieher. Ich vergab Schlomik also im Fall seiner geheimnisvollen Buchstaben. Siehe, das gehört zu den verständlichen Schwächen des Menschen.

Und so verschwanden, wie ich prophezeit hatte, mit seinem steigenden Status in der Klasse und mit der Anpassung, auch seine Lügen und Phantasien. Ich brauchte gottseidank die Einmischung Rutas nicht und der Bogen meiner Klasse blieb, wenn man so sagen darf, frei von einem Schandfleck.

Und so kam die Zeit der grossen Ferien. Gewöhnlich gehen bei uns in den grossen Ferien alle Schüler, die können nach Hause, wer nicht kann, bleibt, und mit ihm bleibt eine beschränkte Mannschaft an der Schule. Ich erhielt Ferien und ich fuhr; Schlomik blieb natürlich am Mossad, auch Ruta blieb, und in meiner Abwesenheit "machte" sie hinter meinem Rücken und versuchte ihn zum Sprechen zu bringen. All dies wurde mir natürlich erst nach den Ferien bekannt, und ich war wütend auf sie.

"Du brauchst dir keine Sorgen zu machen Jotam," sagte die ausgedörrte Frau, "dein Schlomik hat den Mund kein einziges Mal geöffnet. Verschlossen und versiegelt, wie wenn er irgend einen Grabhöhleverschlussstein vor sein Herz gelegt hätte. Ich fragte ihn wiederholt, warum er nicht spreche, und er lächelte dieses schlaue Lächeln und sagte: 'Ruta, du wirst kein Wort aus mir herausbringen. ' Ich fragte ihn, wovor er sich fürchte, er senkte seinen Kopf: 'Hier ist mir verboten zu sprechen, Ruta, und du wirst mich nicht zum Straucheln bringen. ' Und danach, du glaubst es nicht Jotam, umging er mich auf weitem Weg, wie wenn ich der gefährlichste Mensch der ganzen Schule für ihn sei." - "Des Menschen Wille ist sein Himmelreich" , sagte ich Ruta. "vielleicht ist dies ein Zeichen, dass Schlomik hier neugeboren wurde. Du selbst hast gesagt 'Grabhöhleverschlussstein', und ich bin ein Mensch, der sensibel für Worte ist, Ruta. Schlomik begrub seine Vergangenheit, und ich sehe darin eine positive Entwicklung. Menschen werden hier neu geboren, du weisst dies so genau wie ich." Ruta schaute mich an und schwieg. Dann nagte sie am Rest ihres Daumennagels und sagte: "wir sind an dieser Schule etwas zu klein um Hebamme zu sein." Das sagte sie und ging. Ich wusste nicht, was sie wollte. Aber ich kannte Ruta schon ungefähr acht Jahre und wusste, dass sie manchmal Sachen sagte, bloss um originell zu sein. Was man krampfhaft originell nennt. Aus den einfachsten Sachen machte sie eine verwickelte Angelegenheit. Ich dagegen liebe die einfachen Dinge. Kein Mensch wird gerettet durch ein Übermass an Psychologie.

Nach den Ferien war Schlomik praktisch angenommen. Ein einziges Mal noch, zu Beginn des Jahres, schickten ihn die Leithammel der Klasse weg, er solle die erste Meerzwiebel von der Anhöhe bringen, sieh dort, dort, sie sticht ins Auge, schau gut Kaftorek, dort hat es eine schöne - und es stellte sich heraus, dass es nichts als ein schneckenübersätes Liebesgras war. Schlomik, der so etwas wie die Meerzwiebel nicht kannte, brachte es.

Aber schon hatte ich Beweise für seine Anpassung. Schon verwechselte er männlich und weiblich, z. B. sagte er "schtemesre elef" (12'000) wie ein echter Sabre, und ich protestierte nicht. Soll Schlomik "schtemesre elef" sagen, sagte ich mir, Hauptsache, er passt sich an. Damit er beliebt wird. Ich wusste, dass in der Klasse die Reinheit der Sprache nicht die beliebteste Eigenschaft war. Vielleicht bin ich in Sachen Sprache wirklich zu streng, vielleicht muss man vergeben, auch ein Erzieher muss den Jugendlichen manchmal vergeben können. Denn die Zukunft gehört ihnen und nicht uns. Ich bin deswegen in ständigem Streit mit dem Literaturlehrer, vielleicht weil er sich vor allem mit Dingen der Vergangenheit beschäftigt und kein Herz für die Zukunft hat, während ich Erzieher bin und Furchen pflüge für die Zukunft.

Und schon sah ich Schlomik erröten, wenn er gefragt wurde, in welchem Alter er eingewandert sei, er sagte "klein", ohne zu detaillieren oder zu erklären. Wie jene unter uns, die das Glück nicht haben, im Lande geboren zu sein. Auch ich antworte so, auch wenn meine Mutter hartnäckig sagt, ich sei bei meinem Herkommen elf Jahre alt gewesen, vor Menschen behauptet sie das, und erzürnt mich sehr. Sie ist eine alte Frau und ihr Verständnis von den natürlichen Dingen ist begrenzt.

Inzwischen ging der Krieg weiter, und wir bewegten die Fähnchen auf unserer grossen Karte, wir hörten das Läuten des Big Ben und den Klang "weit ist mein Heimatland" um Mitternacht aus Moskau und wussten, dass die freie Welt lebt und existiert und sich verteidigt, sie würde nicht fallen und nicht in die Knie sinken vor dem bellenden Feind, und wir zündeten Chanukkakerzen an und der Winter war ein (strenger) Winter.

Ein grosser Kummer widerfuhr mir nach den grossen Ferien und noch (heute) schmerzt mein Herz, wenn ich daran denke. Ich sagte schon, dass ich nicht für Komplizierungen bin, so will ich in vollendeter Einfachheit die ganze Wahrheit sagen: Michal wurde schwanger, meine Michal wurde schwanger von einem dieser Mannsbild von Schüler, er wurde von der Schule entfernt und sie, ihre Eltern kamen, um sie zu holen und nach Hause zu nehmen. Nicht nur die Sache selbst schmerzte mich - sie schmerzte mich so sehr, dass mein Kissen viele Nächte lang heftige Zahnbisse erfuhr - sondern Ran Slozki, ihr Erzieher, de Erzieher ihrer Klasse, hätte es wissen sollen, aber er wusste nichts, doch unter seiner Nase, doch ... verzeih ihm Gott, dem Ran Slozki, ich verzeihe ihm nicht, nicht als Mensch und nicht als Erzieher. Bei mir hätte so etwas nicht geschehen können, eine so wichtige Sache, die einen meiner Schüler betreffe, die sich unter meiner Nase ereigne und ich nichts wisse. Wie ist doch Ran Slozki mit Blindheit geschlagen.

Ausgerechnet in jenen Tagen hatte sie eine gewisse Öffnung mir gegenüber, von solcher Bereitschaft. Einmal, genau vor Chanukka, ich war der herumgehende Wächter im Hof, da traf ich sie allein auf dem Weg gehend, die meine Seele liebt, ganz eingehüllt in einen kurzen, dicken Mantel, nur ihre nackten Beine waren von Kälte gerötet. Traurig war sie, und ich dachte, wie ihr diese Trauer doch steht. Sie sprach über dieses und jenes und dann, nahe ihrer Baracke, sagte sie: "bist doch ein guter Jüngling, Jotam." Das sagte meine Michal, sagte es und ging. Und mir wurde schwindlig von der Tatsache de Änderung der Beziehung zwischen uns, wie wenn sie plötzlich erwachsen worden wäre. Noch vor einem Jahr hätte sie nicht gewagt, mit mir zu konversieren, so unterwegs durch den Hof, und hätte nicht gewagt, die einfachen Worte zu sagen, die sie sagte, denn sie war eine Schülerin und ich ein Erzieher. Meine Michal ist erwachsen geworden, sie ist erwachsen geworden, dachte ich im Dunkel meines Zimmers, ich brauche mich nicht mehr zu fürchten, morgen geh ich zu ihr und biete ihr meine Freundschaft an, die Freundschaft eines erwachsenen und erfahrenen Mannes, doch am nächsten Tag kamen schon ihre Eltern und schon war Michal nicht mehr an unserer Schule, und wurde mir, dem Liebenden, auf so grausame Weise entrissen, ich wühlte in meinen Angelegenheiten und dachte gar, dies sei die Strafe, die ich wegen der Sache mit der Köchin erlitt.

Ich fürchte, ich habe nicht die volle Wahrheit zum Thema Köchinnen erzählt, aus Scham. Eine Köchin aus Russland war bei uns, und noch eine, eine Jemenitin aus Shearaim, hart arbeitend und sehr arm, und ich, der Teufel hat mich ein, zweimal in den Nächten der Obsternte geritten, als Michal noch in der zehnten oder elften Klasse war, fern wie ein Engel Gottes. Ihr fragt, ob ich das Mädchen aus Shearaim liebte, natürlich liebte ich es nicht, ich hasste es und mich selbst, wie ein Mann hasst, wenn er nicht liebt und nicht weiss, warum eigentlich er all dies tut. Ich bin kein gläubiger Mensch, aber bis heute bin ich überzeugt, dass es diese abscheuliche Sache war, die tatsächlich mehr als ein Jahr weiterging, die mir Michal entriss. Ich war nicht rein. Es gibt gewiss nichts an der Sache, auf das ich stolz sein, oder das ich beschönigen kann, erst recht nicht, da es das Mädchen aus Shearaim war, das sich immer beeilte, am Freitag heimzurennen, mehr als seine Freundin, d.h., es hatte kein bisschen Brüderlichkeit und Zuverlässlichkeit unserer Schule gegenüber. Kurz, die ganze Sache war meines Erachtens abscheulich, und ich bin bis zum heutigen Tag ein reuiger Sünder. Denn in Zwischenzeit wurde mir Michal weggenommen. So rang ich einige Tage, und einmal legte sich der Geist der Verrücktheit auf mich, im tiefsten Winter, am Höhepunkt des Windes,. Ohne Mantel und ohne Strümpfe, in meinen Sandalen reiste ich nach Jerusalem, um am Eingang des Hauses ihrer Eltern zustehen. Draussen stand ich und ging nicht hinein, um sie zu sehen, doch die Läden waren verschlossen und ich sah nichts. Ah, was soll ich sagen. Wie kann sich ein Mensch in seiner Liebe doch zum Gespött machen. Doch sagte sie nicht: "steig auf den Hügel, spring auf dem Feld", sagte sie nicht "bist doch ein guter Jüngling, Jotam", und noch grabe ich in den Tiefen ihrer Worte, tiefer als sie war die Tiefe des ganzen Zustandes. Wenn ich heute Trost finde, bald fünfunddreissig Jahre danach, ist es eines: ich habe meine Schülerin nicht berührt, nicht berührt. Und vielleicht ist darin sogar ein bisschen Stolz: nicht nur Unreinheit ist im Menschen, auch Willenskraft ist in ihm.

Mit Schlomik beschäftigte ich mich in jenen Wochen überhaupt nicht, weil es keinen Bedarf danach gab. Er fügte sich ein, wie es sich gehört, im Rechnen und im Englisch überragte er die Klasse und half den andern. Bis eines der Mädchen zu mir kam und erzählte, man könne in der Baracke von Kaftorek, von Schlomik nicht schlafen, d. h. , er schlafe nachts nicht. Sondern schreibe die ganze Zeit irgendwas, drehe sich und wälze sich und zünde eine Lampe an und schreibe und schlafe nicht. Ich fragte, wie lange das schon geschehe, sie sage, vielleicht eine Woche.

Die Woche war festlich bei uns. Schon am Anfang wurde erzählt, wir ständen davor, zu Schabbatbeginn einen Gast zu empfangen, einen Mann von der Jewish Agency, von den Führern des Jeschuv, er komme uns mit seinem Besuch ehren und den Zustand erklären. Es waren seinerzeit die Tage des Vormarsches des Feindes an allen Fronten, und wir befanden uns in schwerer Sorge. Die Deutschen waren unweit der Grenzen unseres Landes. Daher bestand eine besondere Wichtigkeit im Besuch dieses Gastes, man sagte von ihm, er sei einer jener Menschen der tiefsten Geheimnisse, und wenn Bedarf bestände, würde er uns die Abläufe der Kriegereignisse erzählen, die dem einfachen Volke wie uns nicht bekannt seien, nicht dass ich unsere Schule geringschätze, behüte, die ein sehr geachtetes Mossad ist und in dem einige und einige Söhne und Töchter der Grossen des Jeschuvs lernen. Aber im Verhältnis zur grossen Welt sind wir hier trotzdem eingeschlossen inmitten der alltäglichen, grauen pädagogischen Arbeit, und man kann sagen, dass wir einfaches Volk sind, nicht als Beleidigung, Gott behüte!

Die ganze Woche bereitete man bei uns das Fest vor, und ich muss sagen, dass sogar die Köchinnen, jenes Kreuz, das die Schule auf den Schultern trägt, diesmal mitmachten, sie buken und kochten einige Tage im voraus, bis Wohlgerüche aus der Küche aufstiegen. Wir sind alle Tage der Woche einfache Leute, Menschen von Lakerda und Eipulver der Rationierung und Spinat und Zucchettiklöpsen, und nun war es, wie wenn eine zusammengepresste Hand geöffnet worden wäre. Ich sah, dass man einige Waren in die Küche lieferte, die kein Mensch mit normalen Rationierungsmarken erhielt, aber ich schwieg. Ich gehe nicht unseren Rektor beschuldigen, der ein konstruktiver Mensch ist, es gibt wenige wie er in unserem Land, und die Schwäche in solchen Dingen ist menschlich. Kurz, wir rochen viele Gerüche und es gab viel Erwartung und Aufregung. Nur Schlomik schlief nicht in den Nächten.

Am Freitagmittag, als alle Klassen noch auf dem Sportplatz waren, überwand ich mich und erzählte Ruta, dass Schlomik die ganze Nacht schreibt. Sie zögerte kurz. Am selben Tag wartete auch sie auf den Zwölfuhrbus, um in der Angelegenheit Usi nach Haifa zu fahren, ein Junge aus der Zehnten, dessen Vater Arzt und dessen Mutter Psychologin war, und die sich scheiden liessen und nichtscheidenliessen, und dies seit fünf Jahren, und alles auf Usis Rücken. Aber sie dachte nach und sagte dann: "Jotam, lass uns in die Baracke gehen und wenigstens schauen, was diese mysteriöse Schrift ist." In der Kürze der Zeit konnte ich nicht genau klären und ermitteln, ob unser Tun schön war oder nicht. Wir gingen schnell zur Baracke und öffneten Schlomiks Kiste. Etwa sieben oder acht Seiten waren dort, eine helle, enge Schrift. "Ist das polnisch?" fragte Ruta. "Polnisch", sagte ich. Zu meiner Enttäuschung war ich immer noch fähig, diese Sprache zu erkennen und in ihr sogar zu lesen, wenn ich keinen Ausweg hatte. Meine Mutter spricht beharrlich polnisch mit mir, und schreibt mir sogar in dieser Sprache, es schaudert mich. Es ist nicht die Sprache, die ich liebe, das ist die volle Wahrheit.

"Nu, lies schon", sagte Ruta und knabberte. Der Autobus konnte jeden Moment ankommen. "ich kann nicht," sage ich ihr, und ich sagte nicht die volle Wahrheit, "meine Sprachbeherrschung reicht nicht weiter als ein paar Worte." Ruta blickte mich ungeduldig an. "Wenn das so ist, kann ich dir im Moment nicht helfen. Ich komme am Sonntag zurück, dann werden wir in dieser Sache weitermachen, falls dein Schlomik bis dann nachts nicht wieder schläft wie jeder Mensch."

Das sagte sie und rannte zu den Kasuarinen. Vielleicht hätte ich bereut und gelesen, wenn Ruta gewartet hätte, aber Ruta wartete nicht. Nie gibt sie einem Menschen die Gelegenheit, seine Sachen zu bereuen. In ihren Augen ist ein Wort ein Wort, Schluss. Nicht dass ich sie beschuldigen will. Sie war eine beschäftigte Frau, die sich Tag und Nacht mit den Angelegenheiten unserer Schüler abgibt, die sie brauchen. Und ich dachte, was ist hier schon dringend, es geht sowieso um Hormone; und wenn es so ist, werde ich nach Abreise des Gastes mit Schlomik sprechen, denn ich bin nicht von den Alten im Mossad, und auch ich habe ein gewisses Verständnis für jene Sachen. Es gibt fast kein Junge oder Mädchen, die in diesem Alter nicht Tagebuch schreiben. Wenn Schlomik polnisch schreiben will, soll er polnisch schreiben. Vielleicht nur nicht in der Nacht, denn die Kameraden haben nach einem Tag von Lernen und Arbeiten ein Recht auf Schlaf, das würde ich mich bemühen, ihm zu erklären. Doch ich schaffte es nicht, denn die Sache war, wie sie war.

Bei Einbruch der Nacht kam unser Gast wie abgespalten vom Himmel, und mehr als von Rektor und Vizerektor war er begleitet von einer Aura aus zitternder Luft. Ich bemerkte, dass bei wirklich wichtigen Leuten die Luft um sie herum wie zittert, vielleicht eine magnetische Sache, ich bin kein Mensch der exakten Wissenschaften, um dies zu wissen. Der Speisesaal war beleuchtet von zahlreichen Kerzen und Öllampen. Das aussergewöhnliche Licht, die ungewohnten Speisen, und dann noch mit Gerüchen, all das verwirrte unser aller Geist. Wir waren sehr festlich. Der Rektor sprach den Segen und legte den Abschnitt "Nach Speise und Trank in Shilo" aus, d. h. , nach dem Essen und Trinken ist die Reihe an Belangen der Thora. Und der Gast lachte und sagte, mehr als zum Thema Dichtung wolle er diesmal zum Thema Kampf sprechen und wir alle waren gespannt wie Federn.

Was unterscheidet einen grossen Mann vom einfachen Volk? Dass der grosse Mann mit seinen Worten ganze Welten erschafft und es bei ihm keinen einzigen Tag und keinen Moment gibt, an dem seine Stimme umsonst oder ohne Echo zu ihm zurückkehrt. Der Gast stand und hielt uns seinen Vortrag über den Zustand, und grosse Welten entstanden durch seine Worte. Wir sahen Hitlers Soldateska in Russland wüten, und schon näherten sie sich den Städten Leningrad und Moskau. Wir sahen die mutigen Russen zwischen den Ruinen ihrer Häuser kämpfen. Wir stiegen mit den engelsgleichen Luftkampftruppen im Kampfauftrag auf in Spitfires. Fast konnten wir den Geruch des Meeres riechen bei den Inseln des fernen Ozeans, dort fiel durch die Japaner Insel um Insel. Und mehr als alles hörten wir in seinen Worten das Donnern der Panzer Rommels, die immer näher zu uns kamen. Wirklich zu uns.

Aber nicht nur Abschnitte der Zerstörung waren im Mund des Gastes, sondern auch Abschnitte des Trostes. Er verbarg nicht vor uns, dass der Zustand wirklich ernst sei, sehr ernst. Aber die Schätze Amerikas, sagte er zu uns. Und das mutige russische Volk. Und der Schnee. Denkt an Napoleon, sagte er, wie diese Sache für Hitlers Armee Bedeutung habe. Der Panzer kann schlammige Erde und Schnee nicht bewältigen, sagte er, und wir wiederholten flüsternd seine Worte und fassten Mut: schau mal, der Mensch, der gutes bringt, sagt uns, dass der Panzer Schlamm und Schnee nicht bewältigen kann, d.h., es gibt Hoffnung in Russland. Und im Mittelmeer sind die drei grossen Bollwerke Gibraltar, Malta und Alexandria. Sie seien noch nie gefallen und würden nie fallen. Und was General Auchinleck in der westlichen Wüste betrifft, was ist Auchinleck, sagte der Gast, wir haben schon die Nachricht, dass die Briten ihren Fehler in dieser Ernennung eingesehen haben und die Vermutung hat Hand und Fuss, dass er innert Kürze durch einen besseren ersetzt wird. Und hier erhob der Gast seine Stimme zu wirklicher Erhabenheit: "Und wisst, Freunde, dass der Fremde und der Feind keinen Fuss in unser Land setzen wird."

Das sagte er und setzte sich. Der Saal applaudierte. Der Rektor dankte bewegten Herzens und dankte nochmals, ging zurück und goss Saft ein und fragte zum Spass, ob niemand Fragen habe. Er war überzeugt, dass nach einer so zerschmetternden Rede wie dieser so sehr der Wind der grossen Welt in unser kleines Dorf geweht habe, dass niemand wagen würde, eine Frage zu stellen, die nur Verlegenheit bringen und die Feststimmung verderben könne. Doch Schlomik stand sofort auf, seine polnisch beschriebenen Bögen Papier in der Hand. Der Rektor blickte ihn unzufrieden an und sagte: "Wenn du sicher bist, dass deine Frage weise ist, frag nur mein Sohn, frag." - "Kaftorek, setzt dich schon", zischte jemand. Ich schaute Schlomik an, mir fiel auf, wie schön er seit seiner Ankunft geworden war, wie gross die Arbeit, die wir in ihn gesteckt hatten, und wie schön ihre Früchte waren. Und weiter sah ich, dass Schlomik scheinbar wirklich einige Nächte nicht geschlafen hatte, oder war dies nur ein Spiel der Lichter auf seinem Gesicht, das den Speisesaal mit ungewohnten Öllichtern beleuchteten.

"Mein Herr", sagte Schlomik, und der Gast unterbrach ihn: "Genosse Banjo, ich bitte dich, hier sind wir alle Genossen." - "Genosse Banjo", sagt Schlomik, "ich habe eine Frage an dich. Es gibt endgültig besiegelte Zeugenaussagen, dass die Deutschen sämtliche Juden Europas vernichten, die unter ihrer Herrschaft sind. Hat deine Organisation Kenntnis darüber, und falls ja, was gedenkt sie zum Thema zu unternehmen?" Der Gast blickte ihn erstaunt und ungeduldig an. Während der anderthalb Jahre hatte Schlomik schon vieles seiner polnischen Aussprache des Tarbuthebräisch verloren und er schien wie ein Sabre in jeder Hinsicht im Reden. Der Gast trank Saft und sagte: "Ich Krieg, weisst du..." - "Ich spreche nicht von Krieg", sagte Schlomik, und alle waren überrascht, wie er es wagte, den Gast zu unterbrechen, "ich spreche von einfachem Mord." Der Gast senkte seinen Kopf und sagte: "Nu, woher weiss ein so begehrenswerter Jüngling wie du solche fundierten Dinge?" - "Kaftorek hör auf, setz dich, spül jetzt das Klo", ertönte eine weitere Stimme, es schien die Stimme Boas zu sein.

"Genosse Banjo", Schlomik stand ganz gerade, "ich kam vor anderthalb Jahren hierher, und bevor ich kam, töteten die Deutschen durch Schüsse und Erhängen einen Viertel der Männer unseres Dorfes. Und im Nachbardorf brannten sie alle jüdischen Familien in der Synagoge nieder. Hier ist die Niederschrift des ganzen Zeugenberichts, an den ich mich erinnere, Daten, Namen, alles." - "Kaftorek, bist du gekommen, um zu hören, oder um gehört zu werden?" rief eines der Mädchen. "Nu, nu", sagte der Gast verwundert, "wie geschah dir das Wunder, dass du dort herausgekommen bist? Woher kommst du? Du scheinst ein vollendeter Sabre zu sein, ein Sabre in jeder Hinsicht." Schlomik winkte ungeduldig mit der Hand ab. "Genosse - wie heisst du? Schlomo? Genosse Schlomo, eine gewichtige Frage hast du gestellt, und ich beabsichtige, sie zu beantworten. Denn wisse, Genosse Schlomo, dass auch wir einige Nachrichten erhalten haben, die ähnlich dessen sind, was du hier erzählst, vielleicht nicht so extrem, vielleicht nicht so entschieden, trotzdem waren einige Stimmen zu hören. Wisset, Genossen, dass wir nicht ohne Informationen sind, auch nicht aus jener Welt, über die sich vollkommene Dunkelheit gesenkt hat, denn ihr sollt wissen, dass es mutige Menschen gibt, die ihr Leben auf Spiel setzen, um uns aus dem Herzen der Dunkelheit Nachrichten zu überbringen, ich sage jetzt nicht wer und woher und wie." Ein Rascheln von Erregung ging durch die Menge. "Und ich möchte hier etwas wichtiges sagen, Genossen. Wir haben diese Nachrichten höchstselbst mit vollkommenem Ernst abgewogen. Schliesslich und endlich ist euer Genosse Schlomo nicht der erste, dessen Zweifel an uns gelangen. Und niemand soll sagen, dass wir das kleinste bisschen Nachrichten missachten, das von dort kommt. Behüte. Aber ich sage euch, Genossen, selbst wenn diese schwere Nachricht oder ein Teil davon als richtig befunden wird - und ich persönlich glaube, dass sie wirklich sehr übertrieben ist und dass allerhöchstens von vorübergehenden Grausamkeiten die Rede sein kann, die aufhören werden, wenn sich der Zustand der Besatzung teilweise stabilisiert hat - ich sage euch, Genossen, dass wir auch dann nichts tun können." - "Warum?" fragte jemand aus der Menge, und es war nicht Schlomik. "Ich hab euch gesagt, Kaftorek lügt", flüsterte Eli. Und wieder fragte der erste: "Warum?" - "Warum? Eine gute Frage, eine grosse Frage, ich werde sie beantworten. Warum, Genossen, können wir nichts tun? Weil unsere erste, heilige Pflicht den hier versammelten Überlebenden gilt, wir haben keine höhere Pflicht als die grosse Pioniertat, denn nur hier in diesem Land gibt es Hoffnung für die Überlebenden Israels.

Der Rektor begann zu klatschen und nach ihm die ganze Menge. Auch ich war berührt. Ich wusste, dass der Mann uns grosse Dinge hatte hören lassen, schwere Dinge, die vielleicht nur ein besonders einzigartiger Geist zu sagen wagen, über seine Lippen bringen konnte. Dies ist der Unterschied zwischen grossen Führungspersönlichkeiten und dem einfachen Volk wie wir. Einfache und klare Worte, wie prophetisch. Ich verliess den Saal mit der ganzen grossen Menge, die den Gast zu seiner Schlafgelegenheit im Zimmer des Rektors begleitete. Der Rektor lieh ihm sein Zimmer für jene Nacht. Wir scharten uns noch eine ganze Stunde an der Tür und hofften noch ein tiefstes Geheimnis aus dem Mund des Gastes zu hören, der nicht jeden Tag unter uns weilte.

Es war schon ein Uhr nachts, als ich zu meinem Zimmer ging und als Edna, das kleine gutmütige Mädchen mir entgegeneilte, das Schlomiks erste Banknachbarin gewesen war. "Jotam, hör mal Jotam, Kaftorek ist verschwunden." Verschwunden? Ich stutzte. Was heisst das, verschwunden? Und wenn, wohin kann ein Junge unserer Schule allein verschwinden, ohne Waffe, unweit der Dörfer der Gewalttäter? Natürlich war er nicht verschwunden, natürlich versteckte er sich wegen seiner Aufgewühltheit, wir hatten ja alle gesehen, wie er sich während der Gesprächsstunde de Gastes ereifert hatte, er war sogar zurückgefallen und hatte fürchterlich übertrieben, wie wir es gottseidank schon lange nicht mehr von ihm gehört hatten, mehr als ein Jahr nicht mehr, auf einmal liess er sich von seiner Aufgewühltheit mitreissen. Natürlich wird er in irgendeinem Versteck gefunden werden.

Aber Schlomik war wirklich verschwunden. "Schlomik, Schlomik", riefen die Schüler die ganze Nacht draussen, im Hof, in der Plantage, im Kuhstall, auf der Strasse, "Schlomik, Kaftorek, es reicht, komm schon zurück, man erwartet dich." Der Rektor telefonierte zum Polizeiposten der Gegend und sie kamen mit einem Schnellastwagen, teilten sich auf und suchten. Es war eine Mondnacht, sehr kalt, die ersten Stengel des Affodills standen wie Gespenster auf dem Hügel. Boas, der tatsächlich schon eingezogen worden war, nahm den Revolver aus dem Waffenschrank, steckte ihn unter seinen Mantel und ging mit Joram und Usi bis zum Morgen auf den Wegen des Wadis und des Wäldchens hinunter; Schakalspuren fanden sie, zurückgelassene Eier von Steinhühnern fanden sie, ein in der Plantage gestohlenes Rohr fanden sie, Schlomik fanden sie nicht.

Am Mittwoch erhielten wir mehrere Nachrichten gleichzeitig. Wie Schlomik in derselben Nacht allein Jerusalem erreicht hatte, ohne Mantel, in seinen Sandalen und kurzen Hosen, weiss ich nicht, wie er zwischen den Araberdörfern hindurchschlüpfte, auch das weiss ich nicht. Aber Schlomik kam in Jerusalem an, fragte sich zum Palast des Hohen Kommissärs durch und schaffte es trotz der aufgestellten Wachen, eine Mauer zu passieren, erst im inneren Hof fassten ihn die Wachen. Er sagte, er müsse dem Hohen Kommissär einen Zeugenbericht einreichen, die Sache sei eilig. Dass sein Zeugenbericht in polnisch geschrieben war, machte ihn für die Engländer verdächtig. Es stellte sich heraus, dass man ihn mehrere Tage und Nächte lang untersucht hatte, nicht gerade mit Zartgefühl. Schliesslich, ich weiss nicht wie, wahrscheinlich telefonierte ein Engländer einem andern, gelangte Schlomik zum Haus einer mächtigen Frau der Jugendalijah, die ihn empfing und hörte, was sie hörte, und telefonierte, was sie telefonierte, d.h., dass Schlomik nicht an unsere Schule zurückkehre.

Vielleicht wollte Schlomik ja zurückkehren, ich weiss nicht. Ich mag diese Art von mächtigen Frauen nicht, die an der Spitze ihrer Verwaltung sitzen und nichts verstehen von all der Arbeit, die in den Felder steckt. Als man mir im Zimmer des Rektors sagte, dass Schlomik nicht zurückkehre, ich gebe zu und bekenne, packte mich sowas wie ein Gefühl, wie wenn er mit gegenüber undankbar sei, mir gegenüber und uns allen gegenüber. Ich war überzeugt, wenn Schlomik zu uns zurückkehren würde, und wenn nur für einen Tag, dass wir in einem einzigen freundschaftlichen Gespräch alle Meinungsunterschiede unter uns bereinigen würden. Wenn ihn der Spitzname Kaftorek verärgert hatte, ich bin sicher, die Klasse hätte auf ihn verzichten können. Sogar Boas, der sozusagen sein seelischer Rivale war, war er nicht in einer kleinen DreierEinheit in die Nacht hinausgegangen, um Schlomik zu suchen? Ist dies nicht eine Freundschaftstat?

Inzwischen kehrte Ruta zurück. Noch am Sonntag kehrte sie zurück und sie ruhte nicht und rückte nicht vom Telefon, bis Schlomik in Jerusalem gefunden worden war. Während all dieser Tage lag etwas wie Trauer auf ihr. Meine Meinung nach übertrieb sie sehr. Sie liess nicht locker von mir: was genau hatte Schlomik gesagt, wie war er hatte er ausgesehen, was war genau geschehen an jenem Abend mit dem Gast. Wie wenn ich mich an alle Details seiner Begegnung erinnern könnte, das ist doch übertrieben, dies von einem Erzieher zu verlangen. Inzwischen ging Ruta mit mir Schlomiks Sachen in seinem Zimmer durch. Wie es schien, war alles dort geblieben, nur seine Polnisch beschriebenen Blätter hatte er mit nach Jerusalem genommen. Ruta sass auf Schlomiks Bett wie ein Klageweib. Ich konnte ihr Weh und Ach nicht mehr aushalten, das wie Trauer klang. Schliesslich sagte ich: "Sag, Ruta, hast du Schlomiks geheimen Code erkannt? Den er überallhin geschrieben hat? Schau mal, auch hier, an der Wand über seinem Bett. Hast du ihn verstanden?" - "Was gibt es da schon viel zu verstehen", seufzte Ruta trocken. "Sein Vater Itzchak wurde mit 39 Jahren ermordet, seine Mutter Bilha wurde mit 37 Jahren ermordet, sein Bruder Eliahu war 12 uns sein Bruder Josef war 8." Und danach fügte sie hinzu: "Und ich allein entkam , und mir will man die Seele wegnehmen." - "Ruta", sagte ich, "du übertreibst sehr. Wer will Schlomiks Seele wegnehmen, wirklich. Es ist genug, ich bitte dich."

Ich war so wütend, dass ich aus der Baracke ging. Vor meiner Nase ging Ran Slozki vorüber, seit dem Zwischenfall mit meiner Michal hatte ich kein einziges Wort mehr mit ihm getauscht doch nun wurde ich von ihm geschnitten. Ein Mensch, der nicht sieht und nicht begreift, was sich unter seiner Nase abspielt. Und überhaupt musste ich mit ansehen, dass ich allein blieb. Es lag etwas wie ein Fluch auf der ganzen Angelegenheit mit Schlomik, und ich gebe zu, dass ich ihn nicht definieren konnte.

Wie sehr Ruta übertrieb, und jene mächtige Frau in Jerusalem, die der Rektor und wir alle fürchteten, kam nach ungefähr anderthalb Jahren aus. Es begannen Nachrichten zu erscheinen, diesmal vollkommen dokumentierte, über die Aktivitäten Hitlers in Europa. D.h., alles, was Schlomik gesagt hatte, war wahr gewesen. Und wenn es so war, warum hatte er nicht gewartet, bis es sich bewahrheitete? Warum hatte er nicht gewartet, um abzuwägen bis bekräftigende Zeugenaussagen kamen? Jeder Mensch braucht andere, die ihn stützen, nur Schlomiks Hochnäsigkeit hatte bewirkt, dass er sich von den andern absonderte. Und warum war er vor uns geflohen, wie wenn sein Gewissen nicht rein gewesen wäre? Hatte sich aufgemacht und war geflohen und hatte alle Arten von Schuld in der Luft gelassen, die wir auf keinen Fall auf uns nehmen konnten. Und wenn, hätte jemand von uns zur Zeit von Schlomiks Ankunft wissen können, dass die Dinge so und nicht anders lagen? War ein Prophet unter uns? Waren wir klüger als das nationale Amt? ... Beachte nicht, dass ich mich ärgere, immer wenn ich mich an die Sache von Schlomik erinnere, ärgere ich mich sehr, sogar jetzt noch, nach Jahren. Undankbarkeit war in jenem Jungen, sag ich dir, Undankbarkeit. Hier, schau, im selben Jahr wurde sein Zeugenbericht sogar gedruckt in einer der wichtigen Zeitungen, zweieinhalb Spalten. Ich bewahre ihn in er Schublade auf, natürlich bewahre ich ihn auf, alles bewahre ich auf, Alben, Bilder. Boas in Uniform. Reif, reif, wirklich reif. Ein Brief von Eli an die Schule, aus den Tagen der Bereitschaft. Er wurde danach umgebracht im Sechstagekrieg. Eine Karte von Rina aus Norwegen. Ja, das bin ich mit der Abschlussklasse. Siehst du, was für eine Schmalzlocke? Siehst du? ...

Nu, so ist auch der Zeugenbericht von Schlomik bei mir aufbewahrt. Schlussendlich war ich sein Erzieher, der Mensch, der ihn im Lande aufgenommen hat, auch wenn er mir nicht persönlich geschrieben hat, aber wer bin ich, um es ihm nachzutragen, ich bewahre diesen seinen Zeugenbericht auf. Zweieinhalb Spalten in einer sehr wichtigen Zeitung. Und ich bin wütend auf ihn. Auch bei der Wahrheit muss man wissen, wie und wann man sie sagt. Wenn er nur wenige Monate gewartet hätte, wäre er sowieso bekannt geworden und hätte unserer Schule Ehre gebracht, statt eine so verantwortungslose Tat zu begehen. Nachts allein nach Jerusalem.

Ganz einfach, er hat kein bisschen Geduld gehabt.


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