Kurzgeschichten aus Israel

A.B.Yehoshua: Abendfahrt von Yatir


1

Die Nordwinde allein, die Nordwinde in ihrer Wut, wenn sie gepackt sind mit Schrecken und ausbrechen in Tanz entlang der Rücken der Berge Gasiv-ha-Itanim, in den Wadis heulen, auf den Felsen brummen, und herfallen, die rücksichtslosen Nordwinde, beim Heimsuchen keine winzige Ecke übergehen - sie allein kennen das kleine Dorf Yatir , das verborgene, das einsame am Rande eines der felsübersäten Berge, die sich zum Abgrund des Sochintals erstrecken, das auf seinem langen, gewungenen Weg zur Rabat-Starim-Senke den Fuss des weissen Dorfes erreicht.

Nur dann, wenn die Winde das Dorf erschüttern, zwischen den Häusern rasen, unsere kleinen Gärtchen zerstören und unsere stillen Leben, nur dann spüren wir - wir, die Leute von Yatir - dass sie wirklich kamen, um uns heimzusuchen, uns, die Abgelegenen. Die Gesichter füllen sich mit Sturm, die Herzen leeren sich und brennen von schwerem Gefühl, mondsüchtig taumeln wir im Dorf herum, versinken in den Wogen, leiser Kummer zittert in uns, reisst unsere tränenden Augen auf, während die Winde sich den Weg bahnen und vergeblich die Weite suchen; die Weite, die wir verloren haben, gebremst durch schwere und hohe Berge, die Gipfel des krummen Bergrückens, und ankommen, überwachsen und gezogen, von den Bergen Gasiv.

An normalen Tagen jedoch, wenn der Himmel in dunklem und tiefem Himmelblau erstarrt und der müde örtliche Wind allein durch die Lande schweift, dann liegt auf dem Dorf Gelassenheit und wir warten ruhig auf den Anblick und das langgezogene Pfeifen des Schnellzugs, der vor unseren Augen vorüberzieht und den Berg durchsticht. Der Expresszug. Die Abendfahrt von Yatir.

Wem kam es in den Sinn, in der Verlassenheit der Berge Gasiv dieses Dorf zu gründen? Kein Mensch weiss es. Eine alte Erzählung sagt, dass in den ersten Tagen, als die lange Eisenbahnlinie vom Tiefland der Hauptstadt des fernen Landes Pamias ausgehauen wurde - eine lange Bahnlinie, die die Schwierigkeiten auf den Hindernissen des Bodens der Berge Gasiv bewältigen kann - einige der früheren Arbeiter, die beim Aushub mitmachten, sich in den wilden Wadis ein Haus bauen wollten, in der stillen Hoffnung, hier neues Leben zu schaffen. Andere Erzählungen berichten, dass einige der Arbeiterfamilien sich an diesem fruchtbaren und äusserst vielversprechenden Ort niedergelassen hätten. Sie errichteten kleine Häuser, pflügten den nährstoffreichen Boden am Fusse der Berge, und als Höhepunkt ihrer Arbeit - bauten sie eine Bahnstation im Glauben, dass diese als Verkehrsknotenpunkt und Basisstation im Netz künftiger Eisenbahnlinien, dienen werde, die dieses hügelige Land zerlegen würden. Als bald darauf der Lärm und die Eisenbahnlinie vergessen ging und jenseits der Meere die grossen Kriege ausbrachen, blieb das Dorf einsam und verlassen in seiner Abgeschiedenheit. Plötzlich zeigte sich, dass Yatir erschreckend weit entfernt von jedem anderen bewohnten Ort und seine einzigen Verbindungen im Netz der überwachsenen und verwirrende Bergwege lag. Die Bahnstation, deren Schönheit von den Hoffnungen genährt worden war, wurde zur kleinen und unbedeutenden Gebirgsstation. Nur zwei Züge fahren pro Tag am Dorf vorbei. Der eine hält vor Tagesanbruch - ein Zug, der aus den Opalminen steigt, ein alter, kreischender Zug; und der andere zieht vor Einbruch der Nacht vorüber - ein blankgeputzter Zug, ein Luxuszug, von den besten der Eisenbahngesellschaft, ein Zug, der auf seinem Weg zwei Länder durchquert, die Abendfahrt von Yatir.

Vergeblich versuchten die ersten Dorfvorsteher diesen Zug anzuhalten, ihn beim Dorf Yatir zum Halten zu bringen wenn auch nur für wenige Minuten. Die Leiter der Bahngesellschaft weigerten sich standhaft: einen langen und beschwerlichen Weg mache der Expresszug und die Zeit sei zu knapp, als dass er an einem so unwichtigen Bergdorf anhalten könne. An dieses kleinkarierte, weitsichtige Modell, das ein wunderliches Leben barg, legen die Dorfbewohner ihre werten Hände nicht an. Schnell zieht er an ihnen vorbei, zieht allein vorbei, zieht vor dem Abend vorbei.

Dann kamen die verdorbenen Tage, die grauen Tage. Der Tag war seither eingepfercht in die enge und ausgetretene Fahrrinne des Sonnenuntergangs, während derer der Zug, begleitet von der Milde der letzten Sonnenstrahlen, in verrücktem Galopp vorbeirast. Der Tag ist dieser Stunde ergeben, und nur für sie entstand er. Der Tag ist zweigeteilt in die Zeit vor dem Erscheinen des Zuges und in die Zeit nach dessen Verschwinden. Die wenigen lärmigen Sekunden, wenn dieser am Fusse des hohen Berges vor dem lauernden Dorf erscheint, das ist die Zeit, die "Schreckenszeit", weil jede kommende Generation vom der selben dumpfen Sehnsucht und ohnmächtigem, beherrschtem und zurückgehaltenen Zorn gepackt ist, der den heraufkommenden Zug auf seinem sicheren Weg zum ungewissen Ziel begleitet.

Je mehr die Einsamkeit wuchs, desto klarer wurde die unvergleichliche Grausamkeit, dass das Dorf für immer allein sein werde, und umso stärker wurde das geheimnisvolle Festhalten an der präzisen und zugleich erstaunlichen Pünktlichkeit. Gehorsam und aufmerksam verfolgen wir jeden Tag, jeden Abend die Durchfahrt des Schnellzuges.

2

Im Zugfahrplan steht: der Schnellzug fährt um 6.27 an der Station Yatir vorbei.

Um 4.30 kommen die ersten Schüler, die ihren Unterricht beendet haben, zum Dorfbrunnen am Fusse des grossen Berges hinunter, und bis 5.00 sind dort die restlichen Schüler des Dorfes versammelt. Um 5.30 öffnet Frau Schriri den Laden des Fensters, das zur breiten Brücke blickt, die sich über das Tal spannt, und räumt ein paar Stühle auf den Balkon. Fünf Minuten später treffen Nachbarn und Freunde bei ihr ein. Bis 6.00 sind alle noch so kleinen Fenster geöffnet, die zur Bahnlinie blicken, und Menschenköpfe lugen aus ihnen hervor. Um 6.05 kommt eine ausgelassene Schar von Jungen und Mädchen lärmend beim Feigenbaum neben Frau Schaulis Haus an. Mit grosser Sicherheit geht Herr Terwan im selben Moment selbst vorbei, bleibt staunend und verwirrt stehen und blickt um sich, als ob er etwas suchen würde. Genau um 6.10 ist die tägliche Dorfratsversammlung zu Ende und die Ratsmitglieder und ihr Sekretär treten auf den Platz vor dem Gebäude. Dardaschi kommt wenige Minuten danach im Schwips des Abendgebets und sucht den Stein, auf den er sich brummend setzen kann. Um 6.15 beginnt der Wagen des Winzers Parnassi den Weg zum Dorf hinauf zu klettern, und hinter ihm schreiten fünf der Arbeiter, die lange Jahre am Bau der grossen Staumauer gearbeitet haben. Langsam, langsam klettern sie auf dem engen Bergweg vom Osten her zum Dorf, um den vorbeirasenden Zug besser zu sehen. Zur selben Zeit öffnet sich das Fenster des kranken Ehudi und sein bleicher Kopf sticht nach draussen. Der Waisenjunge Meschulam trabt jetzt zur Brücke und legt Eisenstücke auf die Schienen, und kurz darauf ertönen die Rufe seiner Tante, wie immer zu spät.

Und bereits um 6.22 gibt es niemanden mehr, der nicht seine Hand an die Stirn hält, als Schutz vor der Sonne, die still niederbrennt und mit ihren letzten Strahlen die Brücke blendet. Mit beginnendem Sonnenuntergang stehe ich ruhig auf, in den Händen zwei Fahnen - die grüne geöffnet und die rote verschnürt - ich stehe auf, um den ankommenden Zug zu empfangen. Um 6.24 eilt Siva vom Nachbarhaus zu mir und steht schweigend und bewegt an meiner Seite. Exakt um 6.25 tritt der alte Stationsführer - Herr Arditi - aus dem Bahnwärterhaus. Er geht gebückt mit raschen Schritten und weiss, dass das ganze Dorf ihm gebannt mit den Augen folgt. Er nähert sich den beiden langen grauen Schalthebeln der Geleisesteuerung und stellt sie mit einer einzigen Handbewegung um. Damit schafft er eine einzige Eisenlinie für die Räder des Zuges, die Haupteisenbahnlinie, und merzt jeden Kontakt mit der Nebenlinie aus, der Linie der Station, den nahen, rostigen, moosbedeckten Schienen, die parallel zur Hauptlinie verlaufen und sich rühmen, sie entlang der Brücke ein Stück Weges zu begleiten, doch ihr Ende ist bei der Sperre der dicken Pfähle, ein abruptes und trauriges Ende von angehaltenem Atem. Arditi führt seine kurze Arbeit zuende, zieht die Brauen zusammen und bleibt wartend, während sein Körper sich an die beiden Hebel lehnt, wie um seine Arbeit abzusichern.

6.26. Das Pfeifen des Zuges ertönt von weitem und stummer Schrecken befällt uns. Schnell lasse ich die rote Fahne fallen und erhebe die grüne schräg ausgebreitet in die Luft. Exakt um 6.27 stösst der Zug aus den Bergen heraus und nähert sich uns in brummendem Rhythmus. Lärmend und kochend zieht er pfeifend an uns vorbei und stört mit dem Donner der Motoren die stille, ins Zwielicht gehüllte Welt. Rhythmus der Räder, einheitliche Bewegungen, doch ist er schnell wie ein Blitz. Frau Schriri, Meschulam mit den weitgeöffneten Augen, die Arbeiter des Parnassi ausser einem, sie sind es, die normalerweise winken. Aus dem Zug antworten manchmal einige Menschen, die das Dorf auf der verrückten Fahrt entdeckt haben. Alle Augen begleiten die Fahrt des Zuges entlang der Brücke, bis er an der ersten Biegung entschwindet.

Danach beobachten sich die Menschen gegenseitig mit verhaltener Stummheit und besorgtem Ernst. Eine oder zwei Minuten vergehen dann zerstreuen sich alle, die erste Dämmerung senkt sich über uns. So war es jeden Tag, so ist es jeden Tag und so wird es bis in alle Ewigkeit bleiben.

3

Doch sie denkt nicht so, nicht so denkt Siva, die am Lauf des Zuges aufwuchs, die schön wurde in der langen, täglichen Hoffnung auf die Zeit des Zwielichts, die ihre bösen Gedanken in derselben traurigen und ermüdenden Wiederholung bewahrte, die, in der brennende Unruhe bebte und ihre Augen erleuchtete, ferne Lösungen in den Winden zu suchen, die aus dem Norden kamen, Winde des Zorns. Diese Siva, die ich im Geheimen von ganzem Herzen liebe, und weil sie dies weiss, entschlüpft und entschwindet sie mir. Siva, die sehr gut schweigen kann, bis sie sich heute plötzlich aus ihrem Schweigen aufrafft.

Denn heute, nachdem der letzte Wagen in den Bergen verschwunden ist und die Nachtluft klar wird und einem grossen Orkan entgegengeht, der aus den Bergen auf uns zukommen wird, beobachte ich sie wie gewohnt, die im Dunkeln steht, die grüne Fahne hängt in meiner Hand; Siva kommt ungewohnterweise näher, hebt die rote Fahne vom Boden auf, öffnet vorsichtig die Schnur, die um sie gewickelt ist und breitet sie langsam, wie im Traum auf der Erde aus, hält sie mit beiden Händen fest. Ihr Gesicht nimmt einen fremdartigen Ausdruck an und ihre blauen Augen blitzen. Während sie mich ansieht, beugt sie sich plötzlich zu mir, hebt einen erschreckten und zugleich ernsten Blick zu mir, nimmt den Mut zusammen und sagt: "Die rote Fahne ist wirklich neu." Ich betrachte den roten Stoff und realisiere auf einmal, dass ich sie noch nie so ausgebreitet gesehen habe. "Hat man noch nie mit ihr gewinkt?" forscht sie mit listiger Stimme. "Wem?" wundere ich mich. "Dem Expresszug", antwortet sie schnell und fügt flüsternd hinzu: "natürlich...". Ich schweige. Noch nie hat man im Dorf den Namen des Expresszugs über die Lippen gebracht. Sie spürt meine Furcht, lässt aber nicht locker. Sie richtet sich schnell auf der Stelle auf und fragt naiv: "braucht es die rote Fahne wirklich?" Ich lächle sie verliebt an, doch der Ernst steht ihr in den Augen. Sie erklärt ihre hartnäckigen Worte schnell und bleibt bei ihrer Frage. "Was nützt es, bei einer Gefahr mit der roten Fahne zu winken, wenn der Zug so schnell ist und es keine Möglichkeit gibt, ihn irgendwann anzuhalten?" Die Direktheit ihrer Worte vergrössert nur die Verwirrung und Fremdheit. "Habt ihr (schon) daran gedacht?", fragt sie hartnäckig. "Nein...", stammle ich geistesabwesend, "nein...".

Sie hält kurz inne. "Schau, morgen kommt schon wieder ein Sturm über uns", sagt sie bedrückt und zeigt zum sich verdüsternden Himmel. "So viele Dinge geschehen im Sturm unserer Berge..." Und wie sie mich sieht, verloren und durcheinander von ihren Worten, tritt sie etwas näher und mit leichten Fingern streicht sie über mein Kopfhaar und ihr in Finsternis gehülltes Gesicht flüstert: "Siehst du nicht? Spürst du den Sturm nicht? Und ich sorge mich um den Zug", schliesst sie mit anmutiger Stimme.

Und ich, voller Begehren nach ihrer Berührung und nach den süssen Lügen, hebe einen aufmerksamen Blick, warte auf eine Äusserung von ihr. "Lass uns zum Dorfsekretär, zu Bardon gehen," sagt sie mit einer neuen Frechheit, "wir gehen zu ihm und erzählen ihm, was in unseren Herzen ist. Er wird sicher verstehen." Ich protestiere nicht, dass sie im Plural spricht und schreite verzaubert und still mit ihr zum Dorf, das die Lichter anzündet.

Bardon, der amtierende Sekretär, sitzt wie gewohnt auf der Terrasse des Rathauses, seines Hauses, raucht seine Pfeife, seine Abendpfeife, lässt viele weisse Rauchwolken seinem dicken Schnurrbart entsteigen und hebt die Augen zum hellen Blau, das nach dem Sonnenuntergang auf der Nacktheit des Himmels geblieben ist. Schweigend treten wir näher, bis wir vor ihm stehen. Er blickt uns noch immer nicht an. Mit ruhiger Stimme und klarer, mutiger Sprache beginnt das Mädchen unsere Befürchtungen unsere Gedanken zu erzählen, gibt Bardon dabei die Gelegenheit, die Dinge selbst zu beenden, die zwischen den Zeilen stehen. Während der ganzen Zeit, in der sie mit ihm spricht, bewegt sich der Mann nicht vom Fleck, sein Blick ist ruhig und vertieft in den Rauch, der aus seiner glimmenden Pfeife fliesst. Als sie endlich ruhig wird, wartet er weiter, dann zieht er seine Pfeife zwischen den Lippen heraus und sagt: "Warum geht ihr nicht zum alten Stationsführer, zu Herrn Arditi selbst, und bittet ihn um eine Antwort auf eure grosse Sorge?"

Siva stockt nicht und rückt nicht ab. Mit derselben Frechheit, die heute in ihr aufgestiegen ist, sagt sie: wir haben uns schon vorgenommen, zum alten Vorsteher zu gehen und haben schon der fortgeschrittene Abendstunde festgelegt für ein Gespräch mit ihm. Aber wir sagten uns: Bardon ist ein Militärmensch, ein arbeitsamer Sekretär, die Angelegenheiten des Dorfes liegen ihm am Herzen. Sicher ist auch in ihm Sogre um den rasenden Expresszug, vor dem sich das ganze Dorf fürchtet, und tagtäglich, nach dessen Verschwinden, bleibt er traurig und deprimiert zurück. Und dieser Sturm, der bald über uns kommt, vergrössert sicher die Trauer in seinem Herzen. Vielleicht kommt er mit, kommt zum alten Arditi, der sich im Stationshaus einsperrt, und zusammen sagen wir, was in seinem, in unserem Herzen ist, während wir morgen herumirren, rat und machtlos, und die Winde im Dorf zittern."

Sie beendet ihre mutige Rede und verschränkt die Arme vor dem Brustkorb. Bardon ist nicht wütend und protestiert nicht, er scheint nicht einmal überrascht. Doch ganz plötzlich steht er auf, ein Licht blinkt in seinen einfachen Augen. Er tritt auf Siva zu und drückt mit starker Hand ihre Schulter: "ich komme..." Er hält inne und unterstreicht seine Worte: "natürlich komme ich..."

4

Zur abgemachten Zeit gehen wir drei auf dem weissen Weg hinunter, durchqueren das Dorf, das bereits in seine Häuser tritt. Dicke Nebelschwaden gleiten locker und feucht von den Bergrücken und ein Vorhang vorüberziehender Wolken zeigt abwechselnd das Licht des kalten Mondes und das über die Umgebung ausgegossene Blinken. Bardon geht als erster, kleingewachsen und breitknochig schreitet er wie immer mutig, seine Augen blicken gedankenverloren angesichts all der Dinge, die er noch tun müsste. Hinter ihm, etwas nachlässiger, geht Siva, ihre mutigen kleinen Füsse halten den ausgelassenen Lauf zurück, der sie beim Abstieg packt. Ich schlurfe hinter den beiden her, versteckte und kalte Schlaffäden wickeln meine von Schlummer fast geschlossenen Augen ein. Wie Freunde der Kälte durchbrechen wir von Zeit zu Zeit den Luftraum. Ich ziehe die Schultern zusammen, die Augen auf die vertrauten grossen Steine des Weges gesenkt, überspringe sie mit strauchelndem Fuss.

Das Stationshaus ist ganz dunkel und wir halten vor der Eisentür an, zögern einen Moment, als ob wir uns selbst klarwerden wollen, ob wir wirklich das Recht hätten, in der Stille der Nacht an sie anzuklopfen. Bardon streicht mit staunender Hand über die beiden taufeuchten Schalthebel, die der Stationsführer in ihren früheren Zustand zurückgelegt hat. Danach erhebt er seine Augen fragend zu Siva, die schweigend dasteht. Diese denkt kurz nach, streckt ihre dünne, weisse Hand aus und klopft leise an die Tür. Die Station bleibt still. Siva klopft ein zweites und drittes Mal, bis ein dumpfes Geräusch im Haus zu hören ist und der Klang der schlurfenden Schritte Arditis ertönt. "Wer ist da?" ertönt eine besorgte Frage. "Wir", antwortet Siva rasch, mit lieblichleichter Heiserkeit, "schnell, mach auf!" Arditi öffnet die Tür, und mit der kleinen Taschenlampe, die in den Händen hält, leuchtet er in unsere Gesichter. Wie er Bardon sieht, erwacht er ein wenig und murmelt benommen: "oh, ... oh ... Bardon", entschuldigt er sich mit zerquetschter Stimme. "es ist schon fortgeschrittene Nachtstunde und ich erwarte gar nicht ... nie ist jemand gekommen ... am Abend..." Bardon fasst angesichts der Verzweiflung des alten Stationsführers Mut, streckt seine breite Hand in einem Anflug von Freiheit aus und packt Arditis Oberarm, schüttelt ihn in aufrichtiger Freundschaftlichkeit und tritt ins Stationshaus ein, Siva eilt hinterher. Als Arditi mich gewahrt - seine treue Hilfe - verdüstert sich sein Gesicht, doch er sagt nichts, sodass Schweigen zwischen uns hängt, denn Langeweile und Routine haben alles, was man sagen kann, geschmälert, und man kann sich darauf verlassen, dass wir einander von der kleinen und mageren Arbeit, die wir gemeinsam für die Bahngesellschaft leisten, schon alles Notwendige gesagt haben, und mehr gibt es wirklich nicht zu sagen.

Arditi sieht in seinem kurzen und zerschlissenen Nachtrock lächerlich aus. Sein gebeugter Rücken ragt aus seinem Hemd und seine weissen Beine erscheinen in ihrer Nacktheit, seine Augen sind noch von Schlaf verklebt, gerötet und tränend. Mit zitternden Händen zündet er die grosse Öllampe neben seinem Bett an, doch mehr als Licht wirft diese Schatten in den grossen Raum. Plötzlich zeigt er sich in seinem ganzen schwerfälligen Alter. Bardon nimmt sofort Platz am grossen Schreibtisch, am Platz des Stationsführers. Siva bringt einen Stuhl vor das Bett und setzt sich kurzerhand darauf, und ich bleibe neben der Tür stehen, lehne mit dem Rücken an die dicke Wand. Als Arditi die Sache mit dem Anzünden beendet hat, setzt er sich auf sein Bett, umschlingt seine nackten Beine, um sie vor der dünnen Kälte zu schützen, die dieses nächtlichen Besuchs wegen zu spüren ist. Seine sich langsam aufreissenden Augen fordern die Öffnung. Bardon begutachtet das Zimmer mit prüfendem Blick, danach lässt er sich hinreissen zu einem Unterton von Gunst: "und Elektrizität gibt es nicht in der Station?" - "Nein", gibt Arditi als Antwort zurück, "die Eisenbahngesellschaft will kein Geld für diese vergessene Station herausrücken." Siva und Bardon tauschen einen Blick freudigen Verstehens, und Bardon weist mit seinem Kopf zu Arditi, wie um ihm das Gesagte zu bestätigen. Danach beginnt er mit einem Blatt auf dem Tisch zu spielen. Niemand öffnet den Mund, und Arditi ist noch voll Erstaunen. Als sich das Schweigen hinzieht, fragt er mit schwacher Stimme: "In welcher Angelegenheit seid ihr gekommen?" - "in der Angelegenheit des Zuges", antwortet Siva schnell, "des Schnellzuges ... natürlich..." Ihre Stimme erstickt.

Eine dunkle Wolke legt sich auf Arditis Gesicht. Bardon dreht nervös seinen dicken Schnurrbart. Dann zieht er seine kleinen Augen zu einem Blick in die Ferne zusammen, wendet sich an Arditi und sagt Klarheiten: "Wir wundern uns, Arditi, und daher sind wir zu fortgeschrittener Abendstunde gekommen, ob jene rote Fahne in der Hand deines ergebenen Gehilfen einer Gefahr entgegentreten kann, die irgendwann auf den Abendzug wartet?" - "Die rot Fahne?", wundert sich der Vorsteher. "Die rote Fahne, gewiss!" ruft Siva mit blitzenden Augen, "die rote Fahne, die (nutzlos) wie ein Stein daliegt." Erschreckt sucht Arditi mich, doch weil ich in den Schatten neben der Tür verborgen bin, wendet er den Kopf zurück zu Bardon. Vor lauter Erstaunen kennt er seine Seele nicht mehr. Der Sekretär bemühte sich, die Sache genau zu erklären: "Glaubst du denn nicht, dass auch dem rasenden Zug ein Unglück geschehen kann?" Das Gesicht des Stationsführers erbleicht.

"Schau, er rennt in vollem Lauf," führt Bardon Sivas wunderbare Ideen fort, "und es liegt nicht in der Macht der roten Fahne, ihn bei Gefahr anzuhalten. So lässt er unsere geliebten Fahrgäste im Stich, die sicher sind in ihren Waggons auf ihrem Weg, bis das Unglück geschieht und sie jeden Abend zu ihrem Elend zugrunde richtet, ohne dass man sie auch nur warnen kann."

Arditi fürchtet sich vollends, denn er spürt, dass die Dinge zu seltsamen und anderen Angelegenheiten führen, da Bardon wie gewohnt vorsichtig bleibt. Er senkt seinen in Schatten gehüllten Kopf. Denkt kurz nach. Dann antwortet er simpel: "Deswegen hast du dich belastet, Bardon? Weisst du denn nicht? Züge kippen nicht mehr um. Es gibt keine Unfälle mehr. Der Zug ist sicher auf seinen langen Wegen; die Räder eilen schön auf den glatten Schienenstängen. Dieses ganze Fahnenwinken ist nichts als ein alter Brauch aus grauer Vorzeit. Das heisst: wie eine Begrüssungszeremonie, die an sich überflüssig ist, völlig überflüssig." Die Gesichter von Bardon und Siva beginnen zu leuchten, der Sekretär spürt seine Ansichten zu einer immer grösseren Sicherheit ziehen. "Schön hast du das gesagt, Arditi, schön hast du das gesagt. Überflüssig, alles ist überflüssig. Auch wir, die wir am Rande stehen, die Zuschauer, auch wir sind überflüssig. Denn dies ist nichts als eine abgelegene Bahnstation ... die Landschaft zieht vorbei alles ist also in Ordnung. Der Zug fährt vorbei, fremd und fern sind wir, die Bewohner des Bergdorfes, richten uns selbst in Beharrlichkeit und Glauben nach dieser guten Stunde aus, die heute mit dem letzten Licht herabgestiegen ist, um den Zug zu beobachten. Daher," die Stimme des Sekretärs zittert besonnen, "daher ist alles schön."

Stille herrscht im Zimmer. Arditi weiss nicht, was er antworten soll. Er legt die Hände übereinander und senkt seine Augen. Siva ist gefangen von Zauberfesseln. Erstarrt sitzt sie, hält den Kopf zwischen den Händen und ihre blauen Augen sind gegen den sprechenden Bardon aufgerissen. Plötzlich fällt Bardon über den Tisch, streckt seine kurze, kräftige Hand gegen Arditi aus und schreit mit der Heiserkeit eines Schreis, den er (bisher) zu unterdrücken vermochte: "Und wenn, hast du daran gedacht, Arditi, worauf warten wir dann Abend für Abend?" Arditi schweigt. Bardon richtet sich auf, verschränkt die Hände vor seiner Brust, seine in Dunkelheit gehüllte Gestalt spricht wie zu sich selbst: "Schau, die Antwort ist einfach", hier zögert er kurz, "auf das Unglück..."

"Auf das Unglück..." murmelt Siva zu sich selbst und strahlt zart. "Auf das Unglück...", schliesse ich mich auf der Schwelle an, meine Augen kleben am schönen Nacken des Mädchens."Auf das Unglück...", der Stationsführer beugt seinen greisen Kopf, bis er realisiert und stutzt: "auf das Unglück???"

"Ja, Arditi", antwortet der Sekretär in seiner heldenhaften Begeisterung, "schau, es bleiben keine anderen Hoffnungen; andere Hoffnungen lassen uns die Menschen der geehrten Bahngesellschaft nicht. Und unsere Berge sind schön für Unglücke. Die felsigen Abhänge ... die engen Wadis ... die verschrobene Bahnlinie ... und schlussendlich die Brücke, die Brücke, die über Abgründe gespannt ist..." Bardons Worte werden von der Aufregung erstickt, die sie hervorgebracht hat.

Arditi zittert. "Aber warum?" schreit er leise, kneift die Augen zu, als sei er blind geworden, "warum?" Bardon bückt sich über ihn. "So einsam sind wir hier, geehrter Arditi, so abgelegen. Die grossen Kriege jenseits des Meeres sind an uns vorübergegangen. Nie hatten wir echte Sorgen, ein wirkliches Unglück..." - "Und die Fahrgäste? ...und die Menschen selbst? ..." Schreck überwältigt Arditi, staunend und menschlich. Der mutige Sekretär unterbricht sich hier. "Schau, diese Menschen wollen wir, jene, die Abend für Abend an unseren Häusern vorbeiziehen, die fremden Menschen, die an uns vorübergehen. Und was wollen wir, wenn nicht, sie kennenzulernen, sie zu kennen, ihr Schicksal zu beweinen?" - "Neue Menschen", fügt Siva an, gurgelt begeistert, "neue Menschen, Arditi, ganze Welten."

Wieder fällt Schweigen über uns. Der müde und erschöpfte Stationsführer umschlingt fest seine Füsse. Für einen Moment suchen seine Augen mich - seine stille Hilfe - doch ich drücke mich in den grossen Türbogen. So führt er seine grauen Augen zu Bardon zurück und fröstelnd fragt er: "Also?"

Bardons schwere Stunde ist gekommen. Er steht auf, geht zum Fenster, öffnet es weit, und wir folgen seinen sicheren Bewegungen. Die klare Nacht fliesst ins Zimmer und Strahlen von dünnem Nebel beginnen um uns herum zu tanzen und zu weben. Das Dorf ist schon ganz dunkel, es drückt sich an die Bergseite, wie Felsen und Steine. Dünne Stille herrscht im Zimmer, sie umwickelt neue Kälte. Bardon beginnt langsam zu sprechen, wie wenn er die Dinge nicht ordnen könnte. "Wieder kommt ein grosser Sturm hierher ... und auch morgen sind wir alleine hier, mit den Winden in den Bergen..." Sivas Hände fallen nachlässig zur Seite, bewegt von den Worten. "Sturmzeit ist schön für Unfälle", fährt Bardon fort und sein Gesicht wendet sich nach draussen, in die Nacht, "wie schrecklich, den Zug zur Zeit des Sturms unserer Berge entgleisen zu sehen ... und wie gross wird die uns auferlegte Verantwortung sein, die Reisenden vom Zugsunglück zu retten..." Er dreht sich schnell zu Arditi, flüstert mit um Erbarmen flehender Stimme, wie einer, der ein Geheimnis hat: "du stellst die Schalthebel morgen nicht um ... es sei ein Irrtum ... unser Schnellzug zerschmettert an den Abhängen ... angewiesen auf unsere Hilfe ..."

Das Geheimnis des Sekretärs ist offenbart.

Arditi springt wie von einer Schlange gebissen auf, zornig und entrüstet bricht er mit seiner ganzen geschlagenen Seele aus und stösst gegen den schweigenden Bardon aus: "Auf welche Weise? Wie soll es möglich sein, Bardon? Wie? Wie?" schreit er mit widerspenstiger und alter Wut. Es ist klar, dass er als Stationsführer nicht dafür geschaffen ist, in die Tiefe der Absichten des arbeitsamen Sekretärs hinabzusteigen. Er beginnt in verrückter Aufregung, die sich auf ihn gelegt hat, im Zimmer herumzugehen, wutentbrannt: "Bosheit", keift er gegen Bardon und die entspannt dasitzende Siva, "ob ich dem Schnellzug Unglück bringen werde? Ich, der jeden Tag hier gearbeitet hat, der ich nicht einen einzigen Tag ausgelassen und mich aufrichtig um den Lauf des Zuges gesorgt habe?" Hier hält er inne, wirft uns einen fremden Blick zu, und seine Augen füllen sich mit Blut: "Nein! Nein!"

Bardons Kopf senkt sich leicht, ein schiefes, spöttisches Lächeln in den Mundwinkeln. Vergeblich wandern die Augen des Bahnangestellten umher, um Zustimmung für seine humanen Gedanken zu finden. Sivas Augen sind gesenkt, sie füllen sich langsam mit Tränen über die verlorenen Träume, und ich, bescheiden und gut, brumme vor Begehren nach der, die mit hängenden Schultern dasitzt.

Unruhig wird Arditi mit dem Schweigen, das wir voreinander nicht verbergen, und plötzlich rafft er sich gegen Bardon auf, als ob er sich erinnern würde, und sagt mit funkelnden Augen: "Der Herr wird morgen kommen, der Generalinspektor der Eisenbahn. Weil er an jedem Sturmtag Yatir besucht. Dies wird eine besondere Sache für ihn - das sind neue Gedanken ..."

Ein Beben packt Bardon und Siva, als sie diese Nachricht hören. Der Generalinspektor des Bezirks Gasiv ist bekannt für seine Pedanterie und unbeschränkte Zuverlässigkeit für die Eisenbahn. Arditi hängt ängstlich an seinen Lippen, zweifellos wird er sie an ihn ausliefern. Bardon tritt leise an Arditi heran, der fest dasteht. Er legt seine Hand auf die alte Schulter, drückt sie in latentverzweifeltem Zorn. Danach spricht er mit klarer, verständlicher Stimme: "Sind wir Abenteurer? Bergmenschen sind wir und diese Wildnis gehört uns. Das geliebte Land ist hier, das wirklich geliebte Land, und weil wir es lieben, wollen wir daran festhalten und es nicht verlassen, das wollen wir mit dem Kummer, mit der Verantwortung, die auf unsere wilden Schultern gelegt ist."

Er hört auf zu sprechen. Die Öllampe ist schon fast dunkel und das Licht verlöscht langsam. Es ist schon spät und für den morgrigen Tag steht uns ein Sturm an. Arditi bleibt verblüfft stehen, denn noch nie haben wir, weder er noch wir, den Sekretär in einer Krise gesehen. Siva steht langsam auf, als ob sie sich weigert, sich vom Schattenzimmer zu trennen, und in ihrer Frechheit wirft sie Arditi einen anklagenden Blick zu. Ich öffne die Haustür.

Wir gehen schweigend in die Nacht hinaus, unsere Augen suchen den Weg, der ins Dorf hinaufführt. Bardon geht rasch und mit kräftigem Schritt voran. Siva und ich bleiben zurück, wir schlendern jugendlichruhig. Plötzlich wende ich mich zu ihr, nehme ihre kleine, brennende Hand und murmle: "Geliebte..." Doch sie entzieht sich mir erschöpft und listig, lehnt das Angenehme ab: "nicht jetzt ... nicht jetzt ... noch haben wir nichts erreicht." Beschämt begleite ich sie noch ein Stück Weges.

5

Der Morgen steht schon im Zeichen des bevorstehenden, trüben Nordsturms, der an die hohe Mauer der Berge schlägt und donnert und das bergige Land wegzuspülen trachtet. Massen und Massen von Wind sammeln zur Zorneszeit gewaltsam und bösartig den Sturm an den Rändern der deformierten Felsen der Nordberge. Zu den Pärken hin zerbricht eine Woge von Winden die Schutzmauer, und siegesstampfend wütet er im Dorf mit kräftigem Tosen, sammelt Herden von zerstreuten und vertriebenen Wolkenfetzen zum verschwindenden, grauen, südlichen Horizont hin ein. Die vergessene Sonne bricht durch den Vorhang des dunklen Himmels hervor. Verfolgt und aufgewühlt kämpft sie verzweifelt um ein kleines bisschen matthellblauen, am Boden zitternden Lichtes, obwohl klar ist, dass sie am Ende zulassen muss, dass der so kaltregnerische Tag siegen und sich verdunkeln wird.

Seit dem Morgengrauen sitzen Arditi und ich auf der Steinbank des Bahnhofplatzes und warten wie gewohnt schweigend auf den Generalinspektor, Herr Kanot. Wie gewohnt voneinander abgewandt und wie in uns selbst zurückgezogen, hören wir auf den Blechstummel auf dem Stationsdach, der zornig in jedem Lüftchen schlägt und vergeblich Schutz vor dem Wüten der Winde sucht. Meine Augen brennen wegen der aufgewirbelten Staubwolken und meine Kehle ist ganz ausgedörrt und schmerzt, doch ich rücke nicht von der Stelle, ruhe locker auf der Bank, den Kopf an den hohen Kragen meines zerschlissenen Mantels geschmiegt, beobachte träumend den Haufen verwelkter, trockener Blätter, die auf den Bahnhofplatz geblasen wurden.

Arditi ist sehr aufgeregt. Man merkt, dass er mit mir reden will, doch da wir einander schon alles gesagt haben, was man sagen kann, hält er die Worte zurück. Zutiefst beängstigt wartet er auf den Herrn Inspektor, geht dürr und gebückt auf dem Platz umher, hält seine Hand schützend an seine faltendurchfurchte Stirn, strengt seine brennenden Augen an, um zu sehen, ob die ersehnten Schritte des Generalinspektors näherkommen. Bis schliesslich, zur fortgeschrittenen Morgenstunde, in der Ferne entlang der Schienen, die sich mit Staub vernebeln, ein roter Fleck erscheint. Es ist derselbe rote Fleck, der nur an Sturmtagen zu uns kommt. Arditis Gesicht überzieht sich mit gewaltiger Freude, er geht auf dem kleinen Platz auf und ab und zischt bewegt vor sich hin: "da kommt er ja ... da kommt er ja ... endlich", und sofort hebt er sein ängstlichbekümmertes Gesicht zu mir. Ich richte mich langsam auf, wische mit den Fäusten meine tränenden Augen und gehe behutsam zum Rand des Platzes, doch ich entgegne ihm nichts.

Der Generalinspektor Herr Kanot ist eine äusserst bekannte Gestalt. Seit sehr vielen Jahre waltet er schon in diesem Amt, jedermann in den Bergen weiss dies vom Tag seiner Erwachsenenreife an, und daher wird er in den Augen vieler zum Allmächtigen stilisiert, auch wenn es welche gibt, die an ihm zweifeln. Er kennt seine Arbeit bis ins Detail und nichts entgeht seinen eindringlichen Augen. Denn er herrscht mit erhobener, starker Hand, auch wenn er den Menschen nicht viel mitteilt. Er führt ehrwürdig und pedantisch zugleich und spricht auch den Allergeringsten per Sie an. Aber wenn es nötig ist, hält er sich nicht zurück, Grosse und Kleine zu schmähen und zu beschimpfen, sein pedantisches Festhalten an Ordnung und Brauch gilt als Beispiel, sodass sein Verhalten so etwas wie gerecht ist.

Das Dorf Yatir besucht er wenig, denn es ist das entfernteste. Und auch wenn er es sehr und im verborgenen liebt, zieht er dem alten Arditi, denn auch bei seinen kurzen und seltenen Besuchen in Zeiten des Sturms findet er nichts, das er ihm sagen könnte, als wenig Bekanntes und Langweiliges. Daher pflegt er die ganze Zeit seines Besuchs am grossen Pult zu schlummern, während Arditi und ich still vor ihm sitzen. Denn das ist Kanots Art, welcher der Bahngesellschaft gegenüber wach, arbeitsam und ergeben ist. Aber wenn er zufällig am Pult vorbeikommt und Menschen vor ihm sitzen, überfällt ihn vor grosser Müdigkeit sofort ein Tiefschlaf.

Das rote Wägelchen kommt und bremst seinen schnellen Lauf, während es sich der Station nähert. Erstaunlich exakt hält der Generalinspektor neben uns an. Mit geschickter Hand stellt er den Motor ab und steigt leichtfüssig herab, wie üblich eingehüllt in einen weiten Mantel. Ein grosser, seltsamer Hut steckt auf seinem ein wenig flachgedrückten Kopf, der auf den rundlichen Körper gestützt ist. Und bevor Arditi und ich uns demütig verneigen, damit wir mit Begeisterung seine kleinen dicken Hände ergreifen können, murmelt er mit dicker, seltsamer Stimme zu sich selbst, und rollt uns mit seinen schielenden und feuchten Augen entgegen: "ein regenkalter Tag ist das, ein Windtag ... pfui, was für eine abgelegene Station ... was für eine Distanz!"

Danach entzieht er uns schnell seine Hand und geht mit kleinen, hüpfenden Schritten zur Station, die Ärmel seines Mantels amüsieren sich im Wind. Wir gehen bewegt hinter ihm her. Mit zitternder Hand schliesst Arditi die Tür hinter uns und wirft ein ungeduldiges Auge auf den Inspektor, der sich so, wie er ist, in Mantel und Hut, auf den breiten Stuhl am Pult des Stationsführers wirft. Bis Arditi bewegt das dicke Stationsbuch bringt, zieht der Herr eine schwarze und zerdrückte Pfeife aus der Tasche, zündet sie umständlich an, während er durch seine riesigen Nüstern ein und ausatmet. Danach, als er es geschafft hat, aus seinem Mund ein paar dicke Rauchwolken zu paffen, als Weihrauchduft seiner Nase entsteigt, und es ihm schmeckt, lässt er die erlöschte Pfeife im Mund und beginnt, schon halb dösend, im Stationsbuch zu blättern, blättert langsam mit den grossen Seiten. Arditi lässt ihn nicht aus den Augen. Aufmerksam und streng sitzt er auf seinem schmalen Eisenbett, als ob er auf ein Urteil werten würde. Bald ermüdet der Herr von seiner Inspektion, stösst das Tagebuch von sich und macht es sich in seinem Stuhl vollendet gemütlich, wirft uns ein ernstes lächeln zu und bedeutet sich selbst, ein kleines Nickerchen zu machen. Langsam lockern sich seine Augenlieder und fallen über seine glasigen Augen. Die fetten Gesichtsfalten fallen aus derselben tiefen Müdigkeit mehr und mehr zu, und seine weiche, vor ihm ausgestreckte Hand beginnt vor drückender Schwäche auf das kleine Bäuchlein zu sinken.

Die Stille lastet schwer im Raum. Von Zeit zu Zeit zittern die Fenster wegen des Sturms, der draussen wütet, und WandBlechDach der Station klopft hörbar von weitem. Die schweren Atemzüge des Herrn steigen uhuend im Zimmer auf. Arditi und ich halten den Atem an, um seine Schlafruhe nicht zu stören. Obwohl Arditi die ganze Zeit etwas zu sagen versucht, das in ihm eingeschlossen ist, wagt er den Mund nicht zu öffnen. Still nagt er an seinen Fingern, hält sich mit der selben Disziplin zurück, zu der er selbst verpflichtet ist.

Nach einer knappen Stunde kommt Bewegung in die schlafende Gestalt, und der Herr beginnt sich aus seinem Schlaf hochzuräppeln. Er reisst seine schweren, müden Augen weit auf, lässt sie durch den Raum schweifen, führt sie dann zu Arditi zurück, der mit offenem Mund schweigend und erwartungsvoll dasitzt, fragt mit gnädiger Überheblichkeit: "und so, Herr...Ar...di...ti...", und führt sofort seine Augen zurück, da er weiss, dass Arditi nichts zu sagen hat.

Doch Arditi wirft ihm einen glühenden Blick zu, dann nimmt er seinen Mut zusammen und bricht mit feurigem Gesicht aus: "Mein Herr, mein Herr Inspektor! Man plant Böses für den Expresszug, für den Schnellzug ... gestern Nacht ... ein bösartiger Gedanke..." Der Alte verstummt mit einem unterdrückten Seufzer. Man erkennt seinen grossen Seelensturm. Der schlafende Block auf dem Stuhl bewegt sich nicht. Es ist klar, dass diese bewegte Sprechweise nicht nach seinem Geschmack ist. Noch mit geschlossenen Augen hebt der Herr müde die Hand, als ob er den ausbrechenden Stationsführer unterbrechen wollte. "Was ist Herrn Arditi zugestossen?", fragt er schwer, "was ist geschehen, das man nicht in ruhiger Sprache von Menschen ausdrücken kann?"

Arditi schluckt, richtet sich auf, dann flüstert er schnell: "In Yatir gibt es einen bösen Plan. Vielleicht ist er schon seit Jahren hier gewachsen. Die Menschen des Dorfes wollen ein Unglück ... wollen Kummer ... jenen Kummer, den man ihnen mit den Kriegen jenseits des Meeres nicht gegeben hat. Sie sind gelangweilt und vernachlässigt deswegen, deshalb wollen sie den Expresszug umstürzen. Unseren schönen Schnellzug!". Stille überfällt den Raum. Der Herr hebt langsam seinen schweren Kopf, neigt sein schwerfälliges Ohr und fragt mit fliessender Stimme, die verlangt, dass sich die Neuigkeiten setzen: "Umstürzen, Herr...Ar...di...ti...?" - "Jaja", antwortet jener, "zerstören". Der Herr neigt seinen schweren Körper vor: "zerstören, Herr...Ar...di...ti?", fügt er an, um in seiner müde klingenden Stimme zu forschen, irgendwie strömt die Sache einer dunklen Angelegenheit entgegen. "Aber ja doch", antwortet der Alte flammend, als absolute Bestätigung. "Sie wollen ihn bei der Brücke hinunterrollen. Von mir, von mir", seine geballte Faust schlägt auf die Brust, "von mir verlangten sie, dass ich am Abend nicht hinausgehe, um die Weichen umzustellen."

Der Herr kneift seine tränenden Augen zusammen und lässt sich in schweren Schlummer sinken. Er lässt den Kopf auf seine Brust fallen, sein Mund öffnet sich weit zu einem Seufzer. Plötzlich bricht ein kurzes, leichtes Lachen heraus und ergiesst sich über sein grobes Gesicht. Er hebt seine Hand und stellt sie als Stütze auf den Tisch, dann legt er den erschöpften Kopf darauf, öffnet seine glasigen, schielenden Augen, richtet sie zu Arditi, der in Bewunderung verharrt, und schliesst mit heiserer Stimme: "Das sind aber nette Sachen, Herr...Ar...di...ti..., das sind nette Sachen, es ist an der Zeit, dass ich solch lobenswerte Dinge höre..." Arditi kennt vor lauter Verwirrung seine Seele nicht mehr. Seine grauen Augen blitzen vor Anstrengung. "nett?" flüstern seine Lippen. "Natürlich," antwortet jener langsam, während er Arditi mit sphingenhaften Pupillen fixiert, "Sind sie etwa erstaunt? Stolz trabt er blankgeputzt entlang der Bahnlinie, und hier ist ein einsames Dorf, genauso wichtig wie die weissen Felsen am Weg..." Arditi droht zusammenzubrechen. Der Inspektor verdaut den Gedanken nochmals kräftig. Danach schliesst er mit wachträumerischer Stimme: "Eine grossartige Idee..." und plötzlich richtet er seinen beobachtenden Blick an mich: "und wenn er, der junge Mann, der wichtige Denker ist?" Ich lächle ihm bescheiden zu, bis ein abschätziges, kurzes Lächeln meinen Lippen entsteigt, doch der Herr versteht mich nach seiner Art. Mit seinen kurzen, fetten Fingern weist er auf mich: "zu Grossem geschaffen... zu Grossem".

Ich senke meine Augen zufrieden, danach werfe ich Arditi einen Blick zu, der noch völlig aufgewühlt ist und voll Verzweiflung mit gequetschter Stimme und immer stärkerer Rührung murmelt: "Und ich habe gesagt, dass ich es ihm erzähle... ihm, dem Generalinspektor ... ihm, der alles weiss ... der über alles herrscht, er, der allein ist ... und der Glaube an ihn wuchs von Tag zu Tag..." Herr Ardon strengt sich sehr an, das verstärkte Lob zu hören. Er hüllt sich eng in seinen Mantel ein, zieht den Kopf zwischen die Schultern, wütend und zornig unterbricht er den lamentierenden Arditi: "lass mich diesmal bitte in Ruhe ... lass mich bitte in Ruhe..." und plötzlich steckt er wieder in kurzen Schlaf. Und wieder herrscht Stille im Raum und Arditi und ich verfolgen unseren Herrn besorgt. Schliesslich wirft dieser einen kurzen Blick auf seine grosse Armbanduhr, schliesst sofort seine Augenlider, bedeutet sich, aufzuwachen, denn viel ist zu tun in der Welt. Als er das ängstliche und zornige Gesicht des alten Stationsführers sieht, lächelt er ihn langsam klebrigbewundernd an, bis Arditi am ganzen Körper zittert von dankbarem Brummen über den Liebeskummer und sich sofort seltsamhartnäckig beeilt, zitternd das zu offenbaren, was ihm auf dem Herzen liegt: "und die grosse Pflicht, mein Herr? Meine tägliche Pflicht? Der Herr richtet sich auf, schüttelt die letzten Schlaffäden aus seinen verschleierten Augen, geht auf den Alten zu, der sich sofort zur Ehre erhebt, und nimmt den verblichenen Knopf eines zerschlissenen Mantels - Arditis Dienstmantel - und während er kräftig an ihm zieht, beginnt er ihm erste Dinge zuzuflüstern, Arditi macht sich dabei in Unterwerfungsgestus aus der aufrechten Position heraus immer kleiner: "Und wenn schon, was kommt ihm in den Sinn, die Pflicht in Erinnerung zu rufen? Sieht er denn nicht, dass sie schon zur grossen Qual geworden ist? Auch wenn er treu und ergeben ist, ist er doch dafür geschaffen, sich selbst eines schönen Tages sterbend an der Stationstür zu sehen, und kein Mensch ist bei ihm, kein Mensch. Und dieser Schnellzug fährt vor seinen erloschenen Augen vorüber. Und hat nicht die Gnade, nicht einmal einen einzigen mitleidigen Blick, obwohl er sich tagtäglich um ihn gesorgt hat."

Arditi fasst mit zitternder Hand in sein gelocktes Haar und streicht schwach darüber. Erstickte Stille liegt im Raum, bis die Gesichtszüge des Herrn auf einmal einen ernsten Ausdruck annehmen, er weist zur Tür und öffnet sie weit. Das Zimmer füllt sich mit starken, verrückten Winden. Draussen tobt sich der Sturm schon mit seinem ganzen Zorn aus. Ja, ein schwerer und anstrengender Tag erwartet uns. Ich lege den Arm vor das Gesicht, um mich vor dem Orkan zu schützen; Arditi flattert im Wind. Nur der kleine Mann steht schweigend und fest den Winden gegenüber, während er freudigfeierlich auf den weiten Vorplatz blickt. Plötzlich wendet er sich Arditi zu und sagt ihm mit lauter Stimme, die sich im Wind hebt und senkt: "Das ist ein grosser Sturm ... verflucht! Und hinter der Nebelhülle wird die Verantwortung zum erstaunlichen Schicksal. Heute Abend will ich schnell von hier weggehen. Heute Abend, geliebter Arditi!"

Und erstaunlich schnell fasst er Arditis Hand, schüttelt sie herzlich, gibt mir ein ernstes Zeichen und verzieht sich in den Sturm hinaus, zum wartenden Wägelchen, sein Mantel hebt sich wie eine lange Schleppe hinter ihm, schlägt im Wind und im Nebel, und schwebt doch dauernd hinter seinem energischen Besitzer. Geschickt steigt der Herr ins Fahrzeug hinunter, stellt es innert wenigen Sekunden mit geschickter Hand an und verschwindet in der Biegung des Berges.

Die Tür schliesse ich mit grosser Anstrengung. Arditi ist noch an seiner Stelle erstarrt, gefesselt durch seine Treue zum Herrn. Ich hebe den Blick zum leeren Stuhl, zum grossen Stuhl am Pult. Schnell schlüpfe ich zum Pult, zum Pult des Stationsführers, und setze mich biegsam auf den Stuhl, der noch warm ist von der Körperwärme des stürmischen Herrn. Langsam mache ich es mir darauf bequem und strecke meine beiden Füsse in derselben Freiheit und Verantwortungslosigkeit aus. Kälte dringt in meinen Körper und meine Zähne klappern aneinander. Langsam langsam, mit dem bisschen Wärme, das nicht finde, rücke ich den Stuhl zum Pult.

Arditi beobachtet mein Tun mit schweigendem Kummer. Er versucht mit mir zu plaudern, und vielleicht versuche auch ich ihm ein Wort zu sagen, doch wir haben uns wirklich schon alles gesagt, was man sagen kann, es gibt wenige Themen und die Dinge wiederholen sich mit stummem Schrecken. Ich rücke auf dem Stuhl hin und her. Ich kneife die starren Augen zusammen, lasse den Kopf auf die Brust fallen, lösche meinen Willen aus. Weniger als eine Stunde vergeht, und schon schlummere ich zur rauschenden Stimme des Sturms der in den Bergen rollt.

6

Eingehüllt in dicke Mäntel steigen schon die ersten der Kinder, die ihren Unterricht beendet haben, zum Dorfbrunnen hinunter. Mit grossem Aufwand schafft es Frau Schriri, den Laden des Fensters zu öffnen, der zur Brücke blickt, die Winde haben die leichten Strohstühle umgeworfen, die sie auf die Terrasse gestellt hat. Bis 6.00 öffnen sich die restlichen Fenster, die zur Bahnlinie blicken und eingehüllte Köpfe lugen aus ihnen. Die Gruppe der Jungen und Mädchen kommt zur bekannten Zeit an, und Dardaschi sitzt schon bei ihnen. Um 6.10 geht die Sitzung des Dorfrats zu Ende, die Tür bricht mit einem Schlag auf und Bardon eilt als erster nach draussen. Sehr schwer ist der Weg des Winzers Parnassi die Anhöhe hinauf, das müde Pferd kämpft gegen den heulenden Sturm, bis es in der letzten Biegung stillsteht. Im Nebel könnte man die fünf Arbeiter erkennen, die am Bau der Staumauer tätig waren, während sie langsam vorwärtsschreiten. Das Fenster des kranken Ehudi öffnet sich zur Zeit mit einem Schlag gegen die Hausmauer. Schon steigt der Waise Meschulam mit nackten Füssen hinunter und legt seine Eisenstücke auf die feuchten Schienen. Die Schelte seiner Tante, wie immer zu spät, wird vom Wind verschluckt.

Alle warten schon an ihrem Platz. Die Uhrzeiger bewegen sich langsam Arditis üblicher Erscheinungszeit entgegen. Schon hüpft Siva schnell zu mir, ein dünnes Kleid über sich, vor Kälte zitternd. Die beiden Schalthebel stehen noch aufrecht, Arditi ist nicht da und ein unterdrücktes Raunen steigt aus dem von Menschen wimmelnden Dorf. Alle Blicke kleben am Platz, der verwaist und leer scheint. Alle heben bewegt die Augen zu den beiden in Stahl gegossenen Schalthebeln. Die mit ziehenden Wolken beschäftigte Sonne überflutet den ganzen Berg mit rotem Glanz. Jenseits des Sturms, jenseits der Winde, jenseits der tobenden Brandung ein stiller und ferner Sonnenuntergang. Das Licht ist über Sivas Gesicht gegossen, mit ihrer Handfläche schirmt sie ihre Stirn ab, während sie ihren Block zum lärmenden Dorf hebt.

Arditi kommt heute nicht! Arditi kommt heute nicht!, singt ein neues Lied in der Dicke des Nebels, der jedes Verantwortungsgefühl auflöst. 6.25, ganz und festgesetzt. Siva eilt begeistert zur roten Fahne, die wie gewohnt auf die Erde geworfen ist, trennt schnell die Verschnürung auf und breitet sie aus. Meine Augen suchen Arditi, doch Stille ruht auf dem Stationshaus. Das Pfeifen des Zuges ertönt in der Ferne, rollt in den Bergen, als ob er nicht vorhätte, zu kommen. Siva gibt mir die rote Fahne in die Hand, und sofort lasse ich die richtige, die grüne Fahne fallen, und mit beiden Händen packe ich die neue Fahne und winke mit ihr zu den Leuten des Dorfes. Ein ernstes Flüstern entsteigt der regungslosen Zuschauermenge, keiner rührt sich von der Stelle. Nur die Augen strahlen durch den Sturm, um bloss nicht das kleinste Detail zu verpassen von den glänzenden Schienensträngen, die über die Brücke ausgebreitet sind. Der Himmel bezieht sich plötzlich, als ob er auf den Sonnenuntergang verzichtet. Dunkelheit kommt immer näher und Himmelsnebel fällt ohne Unterlass, sattgetrunken und feucht, inspirieren die Trauermomente des letzten Lichtes. Das Zuggeräusch wird lauter und lauter, lärmt und wütet aus den nahen Bergen, die Echos gehen dem Zug voran. Entgegen meiner Gewohnheit steige ich auf einen Stein und erhebe mit meiner ganzen Kraft die rote Fahne als Zeichen der Gefahr.

Auf einmal durchbricht die Lokomotive den Nebelvorhang, als sie in ihrem Galopp in die letzte Kurve einbiegt. Sie richtet ihren Lauf zu uns aus, schlägt rhythmisch auf die blitzenden Schienen, kraftvoll trabend, und hinter ihr kleben gehorsam die Wagen. Zwei von den Laternen geworfene schwache Lichtbündel beleuchten die Lokomotive, während sie ruhig den festgesetzten Weg suchen. Das Zwielicht gefällt ihnen. Sivas Kopf ist gesenkt, die Augen aufgerissen, und ein kleines erstarrtes Lachen ist über ihr Gesicht gegossen. Die rote Fahne versucht, die Heftigkeit des Windes zu zerreissen.

Der gelangweilte Lokomotivführer bemerkt mich, doch er ist nicht bereit, zu begreifen, was geschieht. Er hupt mir aus Protest entgegen, doch ich winke hartnäckig mit der roten Fahne - als unklare, fremde und ferne Antwort. Die Sonne, die plötzlich den Wolkenverschluss durchbricht, strahlt auf die Fensterscheibe der Lokomotive. Das verängstigte Gesicht des Lokomotivführers ist zu mir gesenkt, er weicht von seinem Lauf ab, fährt im Flug an mir vorbei und betritt mit neuem, verborgenem, klopfendem Geräusch die Geleise des Dorfes Yatir, unsere kurzen Geleise. Das Geräusch der Räder (tönt) fremd auf den rostigen Schienen, doch die Wagen wechseln einer nach dem andern auf die verlassenen, moosüberwachsenen Schienen und das gewaltsame Klopfen (ertönt) wieder und wieder, wieder und wieder. Schreie von flatternder und erstickter Freude brechen aus - "zu uns! Zu uns kommen sie, auf unsere Geleise!" - doch diese (=Geleise) sind zu kurz und zu schwach, um die um die grosse Fülle zu tragen, die über sie einbricht, und ihr Ende zeichnet sich auf den nahen Balken ab, die sich der rasenden Lokomotive entgegenstellen, die vergeblich ihren verrückten Lauf zu stoppen versucht. Und als sie sich mit ihrer kraftvollen Spitze entsetzlich schnell nähert, stösst sie die letzte Schranke in Splitter, die sie zu bremsen versucht, und fährt schwankend von den Schienen. Ihre grossen, polierten, treuen Räder entgleisen eines nach dem andern. Sie verliert ihr Gleichgewicht und fährt schnell in die nebelerfüllte Tiefe.

Die Leute vom Dorf stehen alle auf, die Hände zum Zug ausgestreckt, der vor ihren Augen verendet, sie brüllen und schreien wie Verrückte. Doch für den Zug gibt es keine Rettung, denn die Wagen folgen ihr alle und können nicht abgetrennt werden, das (gleiche) Schicksal für alle. Einer nach dem andern entgleisen sie, schlagen einer den andern, brechen aus, werden zerstört, verändern sich, entzünden sich und verenden. Alles an unseren Klippen, an den zornigen Granitfelsen des Abhangs unserer jämmerlichen Häuser. Schon vergeht der Lärm der zerborstenen Motoren und eine dünne Stille steigt aus den umherziehenden Nebelschwaden zu einem neuen Abendgebet.

Die Leute des Dorfes rennen zum Abhang, ganz plötzlich stossen sie aus ihren Löchern und erscheinen aus allen Winkeln. Mit erschreckender Eile (in erschreckter Eile?) springen sie zum Tal hin, riskieren ihre Leben, eilen zum Neuen. Erste Gestalten der Fahrgäste steigen aus den hintersten Wagen, der am Rande des Wadis hängt, verwirrt und verletzt suchen sie Rettung, und schon stossen die ersten Leute vom Dorf zu ihnen, nehmen sie auf und beruhigen sie, und mit dem sinkenden Zwielicht sammeln sie die Geschlagenen unter ihren Fittichen. Eine schwarze Nacht steigt vom Fusse der Berge auf und erste Fackeln tauchen im erwachenden Dorfe auf.

Siva steht noch immer neben mir. Die rote Fahne hängt in meiner Hand und ich blicke sie mit sehnsüchtiger Erwartung an. Bleich und zitternd steht sei da, betäubt angesichts des lebendigen Unglücks. Ich strecke die Hand nach ihr aus und beruhige sie mit einem leichten Lächeln: "schau, Geliebte..." Doch sie schaut mich wie eine Fremde an, ihre Lippen flüstern wortlos, sie ringt ihre Hände vor Verzweiflung, rettet sich leichtfüssig zum Tal hin, das von Menschen wimmelt.

Langsam ziehe ich meine Füsse zur dunklen Station, und als ich bei der Tür ankomme, trete ich leicht verängstigt ein. Die geöffneten Fahnen werfe ich neben die Schwelle, und ganz leise schliesse ich hinter mir die Eisentür. Arditi sitzt an seinem Platz am Pult, seine grauen Augen weit geöffnet in ihren Löchern, sein Kopf ist gesenkt und in seine Hände gestützt. Ich ziehe eine zerbrochene Koste von ihrem Platz und stelle sie aufrecht vor das Pult. Arditi beachtet mich und mein Tun nicht.

Lange, lange zieht sich die Stille hin. Lange Zeit herrscht nur Stille zwischen uns, nur kraftloses Schweigen, Schweigen des Üblen. Doch jetzt ist das Schweigen sehr schwer, erstickt. Mit Notstimme durchbreche ich sie: "Ein neuer Tag ist zu uns gekommen, Arditi ... nie wird er vergessen werden..." Die dürren Schultern des Stationsführers zittern vor Angstkrämpfen, er hebt seine schmerzhaft geöffneten Augen zu mir. "Der Herr," beben die Worte flüsternd, "der Herr Inspektor ... wann wird er kommen? Kommt er überhaupt?" - "Sicher wird er kommen," antworte ich flammend, "schau, überall, wo ein Unglück geschieht, ist er. Alles ist unter seiner intelligenten ... exakten ... müden ... Schirmherrschaft."

Arditi senkt seinen Kopf auf den Tisch. Das Alter lastet schwer auf ihm. Seine schwielige Hand fällt schwer auf den Tisch, kraftlos hängt sie vor ihm. Vorsichtig heuchlerisch lege ich meine Hand auf sie und drücke sie zärtlich.

Der bleiche Mond geht im Osten auf. Stimmen der Menge hallen schwach, aber wiederholt von der Unglücksstelle bei der Brücke wider. Viele neue Menschen überschwemmen das Dorf. Lange Zeit bleibe ich beim alten Stationsführer, bis ich ihn verlasse und mich zum Unglücksort verziehe.

7

Mondsüchtig und taumelnd steige ich ins Tal hinab. Zwischen den Trümmern des zerstörten Zuges schreite ich und strauchle zwischen den Bruchstücken der Bäume und der umgestürzten Wagen. Ungeduldig und vergeblich suche ich Siva. Alle Leute vom Dorf sind da, keiner fehlt. Brennende Fackeln werden durch die Kinder des Dorfes in die Hände genommen, die ernst hinter ihren Eltern hergehen, die von ganzem Herzen Rettungsdienst leisten. Seelenbeladen begnügen sich diese mit Worten und Rufen und füllen die menschlichen Trümmer mit Ernst und pedantischer Ordnung. Grüppchenweise beteiligen sie sich mit Stricken und Arbeitsgeräten in den Händen an der Räumungsarbeit, in einer Hektik, die in diesem Dorf schon seit langer Zeit nicht mehr gesehen wurde. Einzelne legen noch feuchte Tücher auf Rauchbrände, während begeisterte Junge mit all ihren Kräften die brennenden Fackeln hochheben, um mit all ihrer Macht zu helfen und einen Lichtstrahl auf die arbeitenden zu werfen. Von Zeit zu Zeit rettet sich ein Ruf aus einem der dunklen Ecken und die schweren, bewegten Stimmen der nahen Leute aus dem Dorf schliessen sich ihm an. An einem der Rettungszentren, wo ein umgestürzter Wagen Rauch aufsteigen lässt, erkenne ich die kräftige Gestalt Bardons, der kühlen Gemütes und aufmerksam Anordnungen erteilt. Es ist zu erkennen, dass er schon lange von diesen Dingen gewusst und sie bei sich behalten hat.

Ich nehme eine halbe brennende Fackel in die Hand und beginne zwischen den Menschen herumzugehen, spüre im Dunkeln nach Siva. Die Leute vom Dorf machen mir ehrfurchtsvoll den Weg frei, denn heute ist mein Ansehen gestiegen. Bis ich sie schlussendlich erkenne, weit weg in der Tiefe des Tales, bei einer der hohen Wände, wie sie sich über einen sterbenden verletzten Fahrgast bückt. Die Fackel zwischen den Steinen flackert und wirft tanzende Schatten auf ihre wohlgeformten Gesichtszüge. Ihr Mund verzieht sich in tiefem Kummer und ihre blauen, eingesunkenen Augen sind tränenverschleiert. Mit weicher Hand streichelt sie das verbundene Gesicht des Sterbenden, während sie in vollständiger Hingabe über das junge Leben den Schmerz schluckt; sehnsüchtig saugt sei das furchtbare Unglück auf. Für einen kurzen Moment stehe ich schweigend vor der einsamen Gestalt, und die Fackel verlöscht schief in meiner Hand. Doch schliesslich raffe ich mich in einem Wutausbruch auf. Ich gehe zu ihr und packe sie bei der Schulter. Sie wendet mir ihre hellen, verweinten Augen zu und flüstert: "Schau..." Doch meine Augen sind kalt und trocken, als ob mich Zorn gepackt hätte , lang und erobernd. Ich werfe die Fackel vor mich hin, werfe meine Hände an ihr Gesicht, an ihren Hals, fordere meine Schuldigkeit.

"Komm mit mir!" zittert meine Stimme. "Jetzt?" Der Schrecken über mich weigert sich. "Komm!" wiederhole ich hartnäckig und ich stütze sie, halte sie fest und richte sie auf. Sie lässt vom Verletzten ab und schlurft unwillig hinter mir her. Doch ich lasse nicht von ihr ab, und mit kräftiger und glühender Hand ziehe ich sie auf den erst(best)en Weg nach oben, über den von Dunkelheit überzogenen Hügel.

Zwischen den Felsen steigen wir leichtfüssig die bekannten Wegen hinauf. Die abkühlende Nacht, die den Tagessturm schon abgebaut hat, schlägt uns ins Gesicht, und die WüstengisnsterSträuche verbreiten ihren Duft vor uns, wir keuchen und treiben uns etwas an, über die schwarzen Felsen aus ausgegossenem Granit zu springen, und es ist, als wir uns einflössen würden, die mit dem Glanz der Vergnügen der Nacht bekrönten Gipfel erklimmen, zu den irgendwo über unseren Köpfen verborgenen Bergrücken. Die Lichter des Dorfes erlöschen bereits, und meine reine Einsamkeit überflutet uns.

Bei einem alten Olivenbaum halte ich an und ziehe sie wild an mich. Ich ziehe ihren grossen Kopf zu mir und spüre ganz und gar ihre rebellische Jugend. Ihre entblösste weisse Schulter weckt in mir heisses Verlangen. Ich umarme sie, und während ich wie ein wahnsinniger ihren Hals küsse, vernebeln sich meine Augen und ich sinke mir ihr hin, vergessend und beglückt, streichle, lasse mich verwöhnen, gebe mich hin.

Die Stille umwickelt uns mit Banden einer kalten Nacht. Liebend liegen wir am Fusse des niedrigen Baumes auf der schwarzen, von Wurzeln umschlungenen Erde, beschirmt von dickem Schatten. Ruhig ruht sie mit geschlossenen Augen in meinen Armen und denkt weiter nach. Dann öffnet sie ihre Augen zu mir, streichelt mit sanfter Hand mein Haar und sagt, was sie denkt: "Das Unglück ... das Unglück ... wie schrecklich es ist ..." und ihre Augen nehmen einen neuen, fremden Farbton an.

Ich schweige.

"Die Zerstörung ... die Vernichtung ... hunderte von Toten", fährt sie ruhiger fort, "die ganze Nacht wird im Lichte von Fackeln gearbeitet." Ein Kälteschauer durchfährt mich. Ich lasse von ihr ab, als ob ich versuchte, (mich) von ihrem besorgten, blauen Blick zu retten, doch sie führt ihre glatte, ausgestreckte Hand an meine Brust und langsam erreicht sie ein neuer Gedanke: "und was geschieht mit ihm?" - "Mit wem?" Sie hört nicht. Wie im Traum fährt sie fort, Gedanken zu spinnen. "Man wird ihn einsperren ... er kann nicht mehr frei herumgehen ..." Ein schrecklicher Verdacht stiehlt sich in mein Herz. "Wer?" schreie ich mit verhaltenem Flüstern, "Wer?" Sie schaut mich mitleidig an. "Der alte Arditi natürlich." Ihre Augen betrachten dunkle Weiten, die sich plötzlich vor ihrem Gesicht öffnen. Ich ziehe sie an mich und atme betrunken den Wohlgeruch der Nacht, der auf dem vielgewundenen felsigen Boden des geliebten Landes wimmelt.


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