Kurzgeschichten aus Israel

Jehoshua Kenaz: Henriks Geheimnis


"Wie lange wird er noch mit mir schmollen?" Henriks heisere Stimme, die anfänglich den Klang der Stimme einer alten Frau hatte, bis ich mich an sie gewöhnte und sie mein Ohr nicht mehr verletzte, sondern ernst und direkt klang. "Vielleicht bis Ende Ferien" - kurzes Nachdenken zum vorsichtigen Abwägen - "oder vielleicht danach, ich habe noch nicht entschieden."

Wir sammeln zusammen zwischen den Felsen des Hügels Granatensplitter auf, Henrik erhebt sich plötzlich, richtet sich auf und lässt seine Nase wie ein Kaninchen zittern, wie wenn er seine dicke Brille verschärfen oder den Augen näher rücken wolle. Die beiden Arme seitlich ausgebreitet wie für einen Seiltanz, wo er das Gleichgewicht zu halten versucht - oder besser wie für das Durchqueren eines triefenden Sumpfes, wo jede zusätzliche Bewegung ihn zum Straucheln oder Fallen bringen kann. Die Haut seines Gesicht ist rosa, ein kränkliches Rosa, wie eine zu oft gekratzte oder verbrannte Haut, und sein hellgelbes Haar ist glatt, wie sehr dünne Fäden. Während er so dasteht vor der Sonne, scheint er mir wie ein Foto, das Vater mir gezeigt hat: das Negativ eines Kindes.

"Es ist schon zu lange. Es ist an der Zeit, dass es zuende geht. Und er hat mir noch nicht gesagt, wieso überhaupt er mit mir schmollt." Während er dies sagt, scheint mir plötzlich der gelbe Witzbold vom Negativ wie ein Erwachsener Vorwürfe zu machen, nicht schmollend, sondern geduldig, fast versöhnlich erstaunt. Zwei Stimmen sprechen in ihm, beide heiser und gebrochen, das R rollend, das E zerquetschend, die eine lausbübisch, fast störend und dich mit sich reissend, die andere erwachsen, irgendwie von weitem. Ich entgegne ihm nichts, sondern schreite langsam und gebückt weiter auf der Suche nach den Splittern. Er lässt nicht locker, ein neuer Wind hat von ihm Besitz ergriffen, er will die Gelegenheit nicht verpassen. "Ich will, dass er mir erzählt, jetzt, auf der Stelle, warum er überhaupt wütend auf mich geworden ist. Was hab ich ihm getan? Dass er mir eine einzige böse Tat erzählt, die ich ihm angetan habe."

Vom kleinen Viertel oben auf dem Hügel - die Häuser sind kleine Steinhäuser, viele davon ein, wenige zweistöckig - erscheint die Bucht wie eine Puppenlandschaft, wie zum Greifen nahe: das blaue Meer, die Schiffe, die abfahren und zum Hafen zurückkehren und wie prähistorische Tiere ein langgezogenes Tuten ausstossen, winzige Autos, die auf den Strassen entlang der Vororte fahren, und die zwei Joghurtgläser der Raffinerie, die weisslichen, schwachen Rauch aufsteigen lassen. Und an den Vormittagen ist der Hügel übersät mit Granatsplittern, von denen mir niemand erklären kann, wann sie dort niedergefallen sind.

Ich erinnerte mich gut, was mich wütend machte, aber ich wollte nicht daran erinnert werden. Nicht dass ich ihm nachtrug, doch die Entscheidung, zu einem Sprechen in DuSprache überzugehen, war schmerzhaft, weil der Grund so alt war, dass ein glatter, natürlicher Übergang wie der zur ErSprache nicht möglich war, die voller echtem Gefühl gewesen war.

Einige Wochen davor kam sein Vater am Schabbatvormittag zu uns, um von meiner Mutter die Erlaubnis zu erhalten, mich zu ihnen einzuladen, damit ich Bekanntschaft mit Henrik mache und sein Freund werde. Es gab keine weiteren Kinder in unserem Alter in der Häusergruppe unserer Strasse, und daher freute sich auch meine Mutter über die Einladung, erst recht, da Henriks Vater ihr einen guten Eindruck machte, mit seinen angenehmen Höflichkeiten und der Art, mit der er bat, Bekanntschaft zu machen. Am selben Tag nach der Mittagsruhe ging ich, in den guten Kleidern und sauber gekämmt zum Gebäude hinter dem Lebensmittelgeschäft, zu Henriks Haus. Sein Vater öffnet mir die Tür und schüttelte meine Hand. Er brachte mich ins Zimmer und ich sah das brillentragende, rosahäutige und gelbhaarige Kind an seinem Tisch vor einem Schachspiel sitzen. Ihm gegenüber war der leere Stuhl, auf dem bis zu meinem Kommen wie es schien sein Vater gesessen und mit ihm gespielt hatte. Henrik stand auf, und als mich sein Vater ihm vorstellte, streckte auch er seine Hand aus und wir schüttelten die Hände wie Erwachsene. Henrik war schon genügend mit den lokalen Sitten vertraut, um den Händedruck zu einem kleinen Theater zu machen, er fügte eine Knicks hinzu und verlängerte ihn etwas über das übliche Mass unter Erwachsenen, und als er meine Hand losliess, lächelte er mir wie ein Mitverschworener zu. Er kehrte zum Tisch zurück, liess mit einer einzigen Handbewegung alle Figuren auf dem Spielbrett umfallen und fragte mich mit überraschend heiserer Stimme, ob ich das Spiel kenne. Ich verneinte kopfschüttelnd. "Auch nicht Dame?" fragte er mit einem Unterton von Enttäuschung. Ich schüttelte den Kopf.

Henriks Schwester trat ins Zimmer und Henrik rief sie und stellte sie mir mit Namen vor: Wanda. Sie war viel älter als wir, ein Mädchen in langem farbigem Hauskittel. Wanda lächelte mir freundschaftlich zu und kehrte sofort zum Zimmer zurück, aus dem sie gekommen war (wahrscheinlich die Küche) und ich hörte sie dort mit jemandem in ihrer Sprache sprechen. Einen Moment später kam sie eine Schale mit Bonbons auf den Tisch stellen und Henrik und ich setzten uns an den Tisch.

Aus derselben Tür kam nun Henriks Mutter herein. Eine silberhaarige Frau war sie, sie schien eher seine Grossmutter als Mutter zu sein. Mit erloschenen, irgendwie erschreckten Augen blickte sie um sich, betrachtete das Zimmer, als ob es sie zufällig hierher verschlagen hätte und sie noch nie in ihrem Leben darin gewesen sei, danach begann sie langsam auf mich zuzugehen, als fürchte sie, mir Angst zu machen, wenn sie schnell auf mich zukäme. Als sie vor mir stand, heftete sie ihre Augen auf mein Gesicht und sagte mir etwas in ihrer Sprache. Henrik brach in Lachen aus und als ich fragte, was sie gesagt hatte, erklärte er mir, seine Mutter frage sich, was meine Eltern über den Zustand des Krieges in unseren Tagen sagten.

Er lachte über seine Mutter. Das erschütterte seinen Vater nicht, ein dünner, kahler Mann, der seine Handflächen auf den Tisch legte und auf seine Finger blickte - auch nicht seine Schwester, die neben der Tür zum hinteren Raum stand und das Schauspiel mit vollendeter Gleichgültigkeit betrachtete. Ich vermutete, dass ihnen die Angelegenheit bekannt war oder dass Henrik zuhause alles durfte.

An solchen Sommertagen, an denen die Dunkelheit die Fenster verschliesst und drückende Hitze im Haus steht, pflegte sich mein Vater zu mir zu setzen und mir auf den Landkarten der PearsEnzyklopädie die fremden Länder und den Vormarsch der Truppen zu zeigen. Doch ich sah nur die Form des italienischen Stulpenstiefels und den englischen Hund, der auf seinen Hinterbeinen steht, und den französischen Würfel, der sich wie ein Wunder an die Ecke des spanischen Würfels lehnt, und unser Mittelmeer und das Land Israel, und manchmal pauste ich diese Formen mit einem Kohlepapier auf ein leeres Blatt. Manchmal machte ich es falsch und legte das Kohlepapier umgekehrt hin und durch das Blatt entdeckte ich die Zeichnungen auf anderen Blättern. Mit der Zeit füllte sich so der Atlas der PearsEnzyklopädie mit meinen Kohlepapierzeichnungen und mein Vater blickte auf die verkritzelten Blätter, klatschte aufgeräumt aber machtlos in die Hände und sagte, dass sich auf unseren Karten die Grenzen verschieben und die Länder sich verändern und die ganze Welt total durcheinander sei. Nur Mutter seufzen bitter, und auch wenn sie versicherte, es täte ihr nicht um die Zerstörung der Karten leid, fand ich nur schwer eine andere Erklärung für ihre Seufzer. An vielen Tagen erschien mir der ferne Krieg in Gestalt der verkritzelten Blätter der PearsEnzyklopädie und auf den Umrissen der Länder, die ich darin unwiederbringlich zerstörte.

Henrik erwiderte seiner Mutter etwas und zeigte mit seiner Hand gegen sie, wie um ihr zu sagen, sie solle sich etwas entfernen. Henriks Schwester sagte, ich solle von den Bonbons nehmen, und ich erinnerte mich an die Anweisungen meiner Mutter, nichts anzunehmen, was sie mir anböten, weil sie Flüchtlinge seien und sehr arm. Ihre Armut, aber vor allem ihr Flüchtlingsstatus, prägten sich mir stark ein. Und ohne dass ich überhaupt begriff, was dieser Zustands überhaupt bedeutete, spürte ich im Voraus, dass ihre Bonbons unseren Bonbons zwar glichen, mir aber nicht schmecken würden - wie ein Geruch, der in einem geschlossenen Raum steht, der von verschimmelten Kleidern ausgeht oder vom Körper eines mysteriösen Tieres, das sich irgendwo versteckt.

Ich weigerte mich also von den Bonbons zu nehmen und Henriks Schwester bat mich wieder und wieder eindringlich und ich wich zurück. Wieder sah ich, wie Henriks Mutter langsam, langsam auf mich zu schritt, wie wenn sie mit jedem Schritt Kilometer fressen würde. Ihre beiden Hände streckte sie vor sich aus, und als sie mich erreichte, umfasste sie meinen Kopf, brummte dabei etwas in ihrer Sprache und wiegte mich, als wollte sie mich in ihrem Schoss in den Schlaf wiegen. Als ich es schaffe, mich ihrer Umarmung zu entziehen, sah ich, dass sie weinte. Henriks Vater ergriff ihren Arm und zog sie aus dem Zimmer zur Tür, aus der sie eingetreten war. Ich frage Henrik, was seine Mutter mir diesmal gesagt hätte, doch er antwortete nicht, sondern lachte wieder schamlosvergnügt. Seine Schwester reichte mir eines der Bonbons und ich war gezwungen, mich ihr zu fügen. Ich führte das Bonbon in den Mund lutschte lustlos. Henriks Mutter trat wieder ins Zimmer, in den Händen ein Tablett mit Teetassen für uns vier. Die Tassen waren sehr dünn, rosa und lila Blumen waren auf sie und auf die Untertassen gemalt, auf denen sie standen.

Henrik, der anscheinend befürchtete, dass seine Mutter wieder zu mir käme, um mich zu umarmen, nahm ihr eilig das Tablett ab. Seine Mutter liess ihn, ohne zu fürchten, dass er etwas fallenlasse oder dass ein Unglück geschehe, und Henrik führte seine Mutter am Ellbogen und setzte sie zu einer der Tischecken, und sein Vater und seine Schwester gesellten sich zum Tee. Er stellte das Tablett auf den Tisch und seine Schwester stellte vor jedem von uns seine Tasse auf. Henriks Eltern sprachen etwas in ihrer Sprache, und manchmal sagten ihnen Henrik oder Wanda etwas. Henriks Vater wandte sich an mich und fragte mich über die Schule, an der ich lernte und in der Henrik nach Ablauf der grossen Ferien lernen würde, doch seinen Fragen war zu erkennen, dass er sich nicht für die Schule interessierte, sondern für meine Studienleistungen, wie wenn er schlechten Einfluss auf seinen Sohn fürchtete oder vielleicht wollte er bloss, dass ich nicht schweigend dasass, während sie mit eigenen Interessen und in eigener Sprache beschäftigt waren.

Nach dem Tee sagte Henriks Vater: "Vielleicht geht ihr nach draussen, Rad zu fahren. Der Mann holte einen Schlüssel aus der Schublade des kleinen dunklen Tisches, der unter dem geschlossenen Fenster stand und gab ihn Henrik in die Hand. Er begleitete uns bis zur Tür und bevor sich diese schloss, lächelte er mir entgegen, wie: du wirst gleich sehen, dass dir aus dem neu abgeschlossenen Geschäft kein Schaden entsteht.

Wir gingen in den Hof nahe dem Lebensmittelgeschäft. Dort stand Henriks Fahrrad, das wie neu blitzte und aus irgend einem Grund mit einem Schloss verschlossen war. Henrik öffnete das Schloss und verbarg das Schloss in der Hosentasche, beförderte das Rad auf die Strasse und reichte es mir, um darauf zu fahren. Rad fahren konnte ich nicht, doch es kam mir nicht in den Sinn, Henrik dies zu offenbaren. Stattdessen brummte ich etwas von Abscheu und stiess sein Rad von mir. Keine von uns sagte ein Wort. Henrik setzte den rechten Fuss auf die Pedale und stiess sich mit dem linken mit grossem Schwung vorwärts. Mit einem Sprung setzte er sich auf Rad und begann schnell die Pedalen zu drehen. Er entfernte sich von mir und verschwand in der Strassenbiegung und für einen Moment meinte ich, er würde nicht umkehren an den Ort, wo ich auf ihn wartete. Doch bald sah ich ihn zurückkehren, den Körper nach rechts und links schwankend, das Rad schwankte mit ihm und beschrieb auf der Strasse gefährliche Kurven. Danach richtete er sich auf, drehte an Ort und hielt das Gleichgewicht. Sein gelbes, sehr helles Haar, glatt wie sehr dünne Fäden, flatterte im Wind und glitzerte mit seiner Brille in der Sonne, um seinem Zauberstück Farbe zu verleihen, und er stiess mit heiserer Stimme einen freudigen Schrei aus, vielleicht wie der Schrei eines Wildesels im Wald. Zum Schluss kam er schwungvoll vom Ende der Strasse, drehte noch einmal schnell an Ort und bremste plötzlich, exakt vor meinen Füssen. Während die Räder kreischten, spritzte Sand an den Strassenrand. Sein rosa, immer verbranntes Gesicht lächelte mir zufrieden zu.

Geringschätzig, mit fast verächtlichem Lächeln, blickte ich ihn an und ging mich auf den Baum am Strassenrand zu setzen. Er lehnte sein Rad ans Mäuerchen und kam sich neben mir setzen. "Kannst du nicht sprrrrechen?" fragte Henrik bemutternd wie ein Erwachsener, und es schien, als ob das R lange aus seinem Mund rollte, auch nachdem er zu sprechen aufgehört hatte und die Lippen zusammenpresste. "Ich mag keine Angeber," sagte ich. "Ich bin kein Angeber", protestierte Henrik. "Wir waren einige Zeit in Tel Aviv und ich hatte dort keine Freunde. Jetzt sind wir hier, und auch hier habe ich keine Freunde. Und wenn ich allein bin, weiss ich nicht, was ich tun soll. Entweder spiele ich mit meinem Vater Schach oder ich fahre Rad und lerne alle möglichen Kunststücke."

Ich wollte, dass er wisse, dass auch ich nicht immer in diesem Quartier war, sondern dass wir in Folge der Arbeit meines Vaters in der Armee aus meinem Dorf hierher gekommen waren. Ich erzählte ihm von meinem Dorf und übertrieb, wie wunderbar es sei - oder es erschien mir so in jenen Tagen, wo ich so weit weg von ihm war. Zwei, dreimal im Jahr fuhren wir zum Dorf. Einmal machten wir den Weg im Zug, und als wir auf die Plattform stiegen und von ihr in den Waggon, bahnten wir unseren Weg zwischen einem Dutzend Bettler, die anders waren als die Araber, die ich kannte, sie sassen in ihren Lumpen auf dem Boden, tausende von Fliegen bedeckten sie, flogen auf, wie ein schwarzer, lebender Vorhang, klebten an ihren kränklich triefenden Augen und ein entsetzlicher Geruch umgab sie, ein Geruch von Schmutz und schlechtem Schweiss. Meine Mutter machte damals ein seltsames Gesicht, ich wusste nicht, ob sie in Weinen oder Lachen ausbrechen wollte, und Vater sagte, dies sei das letzte Mal, dass wir im Zug gefahren seien.

Die nächsten Male fuhren wir tatsächlich im Autobus. Auf einer Fahrt sass im hinteren Teil des Autobusses ein grosser Mann, der eine zerschlissene Schirmmütze und einen wilden, rötlichen Bart trug und den ganzen Weg nicht aufhörte zu schreien: "Alle bumsen, auch ich will bumsen! Auch ich habe ein Recht zu bumsen! Es gibt Blondinen und Brünetten, es gibt schlanke und dicke Mädchen, es gibt gross und kleingewachsene Mädchen, es gibt zarte Mädchen und Mädchen, die Hosen tragen, und auch Salzheringe. Und ich habe kein Mädchen zum Bumsen! Alle bumsen, auch ich will bumsen! Auch ich habe ein Recht zu bumsen!" Er wich praktisch nicht ab vom Text und wiederholte ihn wieder und wieder. Die Reisenden lachten oder bedeckten beschämt das Gesicht oder setzten ein erstarrtes Gesicht auf und stellten sich fremd (wie meine Eltern zum Beispiel). Der Fahrer sagte, der Mann sei in Zfat in den Autobus eingestiegen, und er wisse nicht, was anzufangen mit ihm. Ich fragte meinen Vater, was der Mann sage, und Vater antwortete mir: "Sieh mal, du siehst ja, dass er verrückt betrunken ist." - "Aber was will er?" bohrte ich nach. Meine Mutter stellte sich zur Verfügung zu helfen: "Unsinn will er! Er ist nicht normal, das ist er." Sie hoffte, damit sei die Sache erledigt, dass ich aufhöre mit meinen Fragen, oder dass er aufhöre mit seinen Schreien. Doch der Mann hörte den ganzen Weg über nicht auf und ich starrte ihn an, gepackt von Schreck und Zauber. "Alle bumsen Mädchen, auch ich will bumsen! Auch ich habe ein Recht zu bumsen!" Vater und Mutter verlangten, dass ich ihn nicht weiterhin anstarre. Sie erklärten, dass dies nicht nett sei und dass ich ihn beleidige und wenn er bemerken würde, dass ich ihn anstarre, würde er vielleicht wütend werden, weil er verrückt betrunken sei, man könne nicht wissen, wie er reagiere. Schreck durchdrang mich wie ein fürchterlicher, unterdrückter und erstickter Schrei und Mutter flüsterte in Vaters Ohr, der eine Reihe vor uns sass, dass sie wieder nicht sicher sei, ob die Fahrt im Autobus besser sei als die Fahrt im Zug. Der Mann stieg schliesslich an einer der Haltestellen in der ScharonEbene aus. Die weinerliche Stimme hallte in meinem Ohr noch viele Jahre nach, und jedesmal, wenn wir ins Dorf hinausfuhren, meist für Pessach oder das Neujahrsfest, suchte ich in der Menge der Fahrgäste im Autobus den Mann mit der verschlissenen Schirmmütze und dem wilden rötlichen Bart, doch ich sah ihn nie wieder. Aber bis zum heutigen Tag, an dem ich diese Dinge aufschreibe, höre ich deutlich, wenn ich mich einen Moment konzentriere, seine sägende Stimme einige Meter hinter meiner rechten Schulter, genau wie damals zur späten Abendstunde im Autobus, als er von Zfat zu einer der Ortschaften in der ScharonEbene gefahren war, er öffnet den Mund für die bittere Klage eines Verwöhnten, wie ein minderwertiger Theaterschauspieler, der keinen Spezialeffekt auslässt, um das Herz seiner Zuschauer zu erobern, doch je mehr er sich anstrengt, ihr Herz zu erobern, desto mehr verachten sie ihn für sein Spiel.

Ich sagte Henrik, dass wir nach dem Krieg ins Dorf zurückkehrten und das sei vielleicht bald. Henrik lachte, anscheinend war er über den Zustand des Krieges bewanderter als ich. Wir kehrten in den Hof seines Hauses zurück und Henrik stellte sein Fahrrad an seinen Platz, zog Schloss und Schlüssel aus der Tasche und schloss es ab. Ich erzählte ihm von den Splittern, die auf dem Hügel zu finden seien. Er begriff nicht, woher die Splitter kamen, da doch in der Umgebung keine Bomben fielen. Ich tat mich schwer, es ihm zu erklären, bis heute weiss ich den Grund nicht. Doch er liess nicht ab davon, die Frage beschäftigte ihn. Auf jeden Fall gingen wir zum Hügel um zu suchen. Als Henrik seinen ersten Splitter fand, untersuchte er ihn mit grösster Konzentration, drehte das gezähnte Eisenstück von Hand zu Hand und betastete seinen vielen Zacken mit den Fingern, als versuche er, seinen Weg hierher zu ergründen.

Beim Einbruch des Abends verdunkelten sich die Fenster der Häuser und Dunkelheit beherrschte die Strasse. Nur am Himmel erschienen die beiden Strahlenbündel der Scheinwerfer, die hin und herwanderten, sich einen Moment lang an einem Punkt der Anhöhe aufhielten, weiter wanderten, für eine knappe Stunde verschwanden und wieder auftauchten. Henrik blickte zum Himmel und sagte: "Man hat sowas wie spezielle Ballone gegen Flugzeuge erfunden. Im Dunkeln sieht man sie nicht, und wenn die Flugzeuge mit ihnen zusammenprallen, verheddern sie sich, explodieren und stürzen sofort ab. Ich bin sicher, dass auch jetzt der Himmel voller solcher Ballone ist." Ich blickte nach oben und versuchte, Henriks Ballone zu sehen. Für einen Moment schien mir, dass ich am dunklen Himmel oben luftblasenähnliche Kugeln erkannte, doch sie verschwanden sofort wieder vor meinen Augen. Ich blickte auf Henrik, er staunte in Richtung des dunklen Meeres am Fusse des Hügels, das zu jener Stunde schon für die Dauer der Nacht mit dem Meer verschmolz, und sagte: "und in der Bucht bauten sie sowas wie Schornsteine, aus denen, wenn ein Flugzeug kommt, Rauch entsteigt und den ganzen Hafen und die ganze Umgebung bedeckt, und ihre Flugzeuge können nichts mehr sehen und werfen die Bomben ins Meer. "

"Mein Vater arbeitet bei der Armee, doch er hat mir dies nicht erzählt", sagte ich Henrik. "Vielleicht weiss es dein Vater nicht", antwortete Henrik schlicht, wie wenn dies wirklich möglich und sogar selbstverständlich wäre, und ich schwieg und glaubte ihm nicht mehr. Auch die Sache mit den Ballonen wurde mir zweifelhaft. Und praktisch im selben Atemzug, in dem er das über meinen Vater sage, fügte er plötzlich die Frage an: "und was machen wir mit all diesen Splittern?" Da ich keine Antwort wusste, hob ich die Augenbrauen, denn schon waren sie nichts mehr für ihn als bloss grobe Eisenstücke, die niemand wollte. "Wir sammeln sie", sagt ich. "Möchtest du gemeinsam sammeln?" - "Das geht nicht", sagte ich. "Ist es nicht so, dass ich schon lange sammle und schon viele habe und du erst beginnst und noch nichts hast - wie können wir also gemeinsam sammeln?" Henrik streckte mir die Splitter entgegen, die er an jenem Tag gesammelt hatte und sagte: "Dann nimm sie für dich. Ich kann nichts damit anfangen."

Bevor wir jeder zu sich nach Hause gingen, sagte Henrik: "Komm auch morgen zu mir nach Hause. Wir werden uns Splitter suchen." - "Aber nicht am Nachmittag", teilte ich stolz mit, "Am Sonntag arbeitet Vater nicht und wir gehen in der Stadt flanieren und Five o'clock im Café Panorama."

Am nächsten Vormittag, als ich auf die Strasse ging, fuhr Henrik schon auf seinem Fahrrad auf und ab und demonstrierte wieder all seine verschiedenen Kunststücke. Als er mich sah, schlug er mir schlicht vor, dass er mich radfahren lehre. "Ich kann es, aber ich mag nicht", sagte ich. "Macht nichts", stellte sich Henrik naiv, "steig auf, ich halte dich von hinten fest." Die Sache begeisterte mich und ich verzichtete auf meine Ehre. Ich setzte mich auf sein Fahrrad und Henrik hielt mich von hinten. Er lehrte mich, wie ich die Füsse auf die Pedalen zu legen und mich fest an der Lenkstange festzuhalten habe, und begann hinter mir herzurennen, während ich das Gleichgewicht bewahrte. Einige Dutzend Schritte fuhr ich so, bis ich Henriks heisere Stimme hinter mir fragen hörte: "loslassen?" Und ich antwortete: "Ja, loslassen"" Noch während ich die Antwort beendete, lag ich schon auf die Strasse, Henriks Fahrrad unter mir. Henrik rannte zu mir, stellte mich auf die Füsse und versuchte herauszufinden, ob ich verletzt sei. Ich warf ein Auge auf sein Fahrrad und sah, dass das Schutzblech des Hinterrads verbogen war. Als ich dies sah, fasste ich mit der Hand das aufgeschürfte Knie und kniff die Augen vor Schmerz zu, tauchte zwei Finger in Speichel und säuberte die Wunde von Blut und Erde. Henrik bückte sich und untersuchte meine Schürfung. "Das ist garrrr nichts", sagte er und rollte das R auf seine nervende Art.

"Gar nichts!", schrie ich, und mein Hass brannte zerstörerisch. "Gar nichts! Du hast es absichtlich getan! Absichtlich hast du das Fahrrad zur Seite geschubst, damit ich Kopf und Beine breche, damit ich am Nachmittag nicht zum Five o'clock ins Café Panorama gehen kann!" - "Nicht wahr!", protestierte Henrik und sein Gesicht war teilweise erschreckt. "nicht wahr, ich tue sowas nicht." Mit einer nervösen Bewegung rümpfte er seine Nase wie ein Hase, um die Brille den Augen näherzurücken. "Weshalb soll ich dich zum Fall bringen, bist du nicht mein Freund!" Er hielt sein Fahrrad fest und schaute nicht auf das verbogene Schutzblech. "Ich bin nicht dein Freund und ich will nicht mir dir reden", sagte ich und humpelte in erbarmungswürdiger Weise nach Hause. Ich blickte nicht zurück, um Henriks Reaktion auf meinen Wutausbruch zu sehen, doch ich wusste, dass er mit seinem Fahrrad auf der Strasse stand und mir nachblickte, wie ich mich mit meinem gekünstelten Humpeln heimwärts entfernte und er allein blieb, wie er in Tel Aviv gewesen war, wie er immer war.

Am Nachmittag zog ich meine guten Kleider an und ging mit Vater und Mutter in der Stadt spazieren und mich um Five o'clock im Café Panorama zu amüsieren. Zuerst fuhren wir in die Unterstadt und spazierten wie jeden Sonntag um diese Zeit in der Königstrasse. Wir sahen die arabischen Herren in schwarzem Anzug und Krawatte und Mutter seufzte wie immer vor Verwunderung, wie sie fähig seien, in der Sommerhitze so herumzugehen. Mit den Herren, oder knapp hinter ihnen, gingen die Damen, hauchdünne schwarze Schleier vor ihre Gesichter gehüllt, damit die Weisse des Gesichts nicht durch Sonnenstrahlen zerstört werde - so erklärte mir meine Mutter; Männer mit Fez drehten mit ihren Fingern Bernsteinketten hinter ihrem Rücken; Dörfler mit weiten aufgeblasenen Pluderhosen und Dörflerinnen, die Gewicht auf ihren Köpfen trugen, Offiziere der Armee in ihren Uniformen gingen an uns vorbei und Menschen der Regierung in weissen Korkhüten und Tropenkleidung. Manchmal traf mein Vater Leute von seiner Arbeit, ein Mann aus der englischen Armee oder ein arabischer Angestellter, und stellte ihnen meine Mutter und mich vor. Einer der Militärs, den wir trafen, bückte sich zu mir und fragte mich etwas in englisch, und Vater flüsterte in mein Ohr: "Sag 'George'" Ich brummte etwas, was nicht 'George' und nichts anderes war, und Angst packte mich, da ich nicht wusste, was die Frage war, die mir gestellt worden war, und was die Antwort bedeutete. Ich fühlte, als ob Vaters Wohl von der richtigen Antwort abhing, doch das Wort steckte in meiner Kehle und weigerte sich herauszukommen. Wieder flüsterte Vater in mein Ohr, diesmal etwas ungeduldig: "Sag 'George', sag 'George'" - doch ich zuckte mit den Schultern, blickte abwechselnd auf Vater und Mutter und sagte nichts. Der Militär stand auf, streckte sich und tauschte noch einige Worte mit meinen Eltern, und ich, ich war wie vergessen. Doch das Wort 'George', das in meiner Kehle steckte, liess mir keine Ruhe. Ich machte einen weiteren Versuch, es auszusprechen, obwohl der Militär und meine Eltern bereits die Hände zum Abschied schüttelten, doch das Wort weigerte sich zu entschlüpfen. "Warum hast du nicht 'George' gesagt?" fragte mein Vater, nachdem der Militär gegangen war. Ich schwieg beschämt und erregt. Und Vater erklärte mir, dass der Militär mich geprüft und nach dem Namen des Königs gefragt habe.

Auf der Säule mitten in der Kreuzung gegenüber dem Hafen stand ein Polizist mit schneeweissen Ärmeln und kurzen Hosen und lenkte den Verkehr. Unweit davon stand der Autobus, der auf den Hügel fuhr und zum Café Panorama.

Schon aus einiger Distanz hörten wir das Spiel des Orchesters, Mutter sagte freudig: "schau, sie spielen schon all die Schlager." und summte die Melodien mit. Als wir in den Garten des Cafés eintraten, rannte ich wie gewohnt sofort zum Pavillon des Orchesters, um die Musiker von nahe zu sehen, bis mich Vater und Mutter zu ihnen an den Tisch riefen, mich an dem, was uns aufgetragen war, zu bedienen. Vater und Mutter standen auf um zu tanzen, und ich eilte wieder in die Ecke neben dem Pavillon des Orchesters. Als die künstlerischen Darbietungen begannen, kehrten die Tänzer an ihre Plätze zurück.

Die Pfeiferin Klara Imas pfiff Stücke leichter klassischer Musik und die Menge antwortete mit tosendem Applaus. Sie trillerte pfeifend und ahmte Vogelzwitschern nach und endete mit Djarodj Hungari, indem sie das Heulen der Zigeunergeige nachahmte. Nach ihr trat der Schauspieler Michael Gur auf, der ein paar Chansons sang und danach seinen meistgeliebten Sketch zum besten gab: aus seiner Rocktasche zog er einen kleinen schwarzen Kamm und kämmte sein Haar in die Stirn, bis es beinahe die Augen bedeckte, die Ecke des schwarzen Kamms legte er wie ein Schnurrbart über die Oberlippe und so glich er erstaunlich stark der Fratze Hitlers, die sich auch aus dem richtigen Falten eines Blatt Papiers ergab, auf dem vier Schweinchen gemalt waren. Der Schauspieler Gur ahmte Hitlers Schreie und verrückten Reden nach, und die menge antwortete mit wieherndem Gelächter und begeistertem Klatschen. Wieder liess das Orchester Tanzmusik ertönen; ich blickt zu den Sitzenden im Cafégarten und sah plötzlich an einem der Tische in der Ecke Henriks Schwester sitzen. Ich erzählte Mutter davon und sie machte Vater aufmerksam. Die beiden blickten einen Moment lang auf das Mädchen und Mutter erzählte Vater von Henriks Vater, der uns zuhause besucht und mich eingeladen hatte, der Freund seines Sohnes zu sein. Meine Eltern blickten einen Moment auf Henriks Schwester und staunten über ihre Schönheit. "Wie heisst sie?" fragte mich Mutter. "Wanda", sagte ich. "Die schöne Wanda", sagte Mutter, "sie ist so schön." Vater stimmte ihr bei und sie lächelten einander kurz geheimnisvoll zu.

Auf die runde, niedrige Bühne trat der Sänger Josef Golani, sowas wie ein Fez auf den Kopf, zwei gelockte Pejes hingen von seinen Ohren herab, er begann das Lied zu singen, das ich liebte, von "Sa'adja der Jemenitin, die die Schuhe bbuzzt". Doch ich hörte dem Lied schon nicht mehr zu, sondern betrachtete die schöne Wanda, die die Beine übereinandergeschlagen am Tisch in der Ecke des Gartens sass, und es war nicht zu erkennen, ob sie alleine gekommen war oder ob ihre Begleitung für einen Moment aufgestanden war. Der Sänger beendete sein Lied und begann mit dem nächsten und ich liess kein Auge von Henriks Schwester, der schönen Wanda.

Die Tatsache, dass sie schön war, verwirrte mich. Schönheit war für mich eine absolute Eigenschaft, die ich von meinen Eltern erhielt, und wenn Mutter und Vater über einen Menschen oder Gegenstand oder Landstrich in der Natur sagten, er sei schön, war die Angelegenheit für mich fix wie eine endgültige Tatsache. Ich bemühte mich bloss, die Ausstrahlung dieser Schönheit des betroffenen Menschen, Gegenstands oder Landstrichs zu analysieren, um mich dieser Gewissheit meiner Eltern anschliessen zu können. Ich versuchte zu spüren, was die spezifische Eigenschaft seiner Schönheit sei, wie sie zum Ausdruck komme, wie es möglich sei, sie zu erkennen, ihr Anzeichen zu geben, die mich leiten könnten, irgendwann in er Zukunft selbst zu urteilen, d. h. den Satz meiner Eltern im Voraus zu erraten, auch wenn sie nicht bei mir wären. So untersuchte ich Wandas Gesicht und versuchte, das Geheimnis ihrer Schönheit zu erraten, herauszufinden, wodurch es sich vom Gesicht anderer unterschied, was die Zeichen waren, dass es so schön war. Der Sänger beendete seine Lieder, das Orchester spielte wieder Tanzweisen und Vater und Mutter standen auf zum Tanz.

Wandas Haar war braun und gelockt, ihr Gesicht schmal. Im Unterschied zu ihrem Bruder hatte sie einen dunkleren Teint. Ihr Kinn war spitz, ihre Lippen schmal und mit Lippenstift bemalt und zwei dünne, schwarze, gewölbte Augenbrauen betonten ihre grossen dunklen Augen, die von einzigartigem Glanz funkelten. Ihre Augen, sagte ich mir, Wandas Augen waren hauptsächlich Zeichen ihrer Schönheit, ihr einzigartiger Glanz und die dunklen Wimpern, die sowas sie einen Schatten auf ihr Gesicht warfen, als sie ihren Blick zum Tisch hin senkte. Und ebenso ihr gelocktes, dichtes Haar und die glänzenden Ohrringe in ihren Ohrläppchen, die den Rahmen für ihr Gesicht zu bilden schienen. Ich versuchte mir auch die Schönheit ihres Mundes zu erklären, von dem mir ebenfalls bekannt war, dass er schön sei, wie alles an Wanda, doch er machte mich irgendwie unruhig, weckte sowas wie eine matte Sorge, deren Ursache ich nicht kannte, ebenso die schmalen, mit kräftigem Lippenstift bemalten Lippen und ihr schmales, spitzes Kinn. Der Geschmack des Bonbons, das ich von ihr verweigert hatte, stieg meinen Gaumen hoch, und der Geruch des verschlossenen Zimmers, von dem der Geruch schimmelnder Kleiden oder dem Körper eines versteckten Tieres ausströmte. Ich wurde nicht müde, Antworten und Überlegungen aufzuwerfen, denn aus irgend einem Grund schienen mir Wandas Lippen und ihr Kinn zum Gesicht eines anderen Menschen zu gehören, sie drohten, der Vollkommenheit des echten Gesichts, das sich dahinter verbarg, obwohl es mich auch irritierte, eine vollständige Erklärung für die Aussage meiner Eltern gefunden zu haben und sicher zu sein, dass ich sie gut verstanden hatte.

Bis in meinem Kopf die Entdeckung aufblitzte, dass die Lippen und auch das spitze Kinn, die an ihr Gesicht geklebt waren, um ihre Schönheit zu entstellen, Henrik gehörten, und die Erinnerung an den Vormittag, wie ich vom Fahrrad fiel, kehrte zurück und stieg in mir hoch, nachdem ich sie vollständig vergessen hatte. Und als ich mich wieder konzentrierte, um Wandas Schönheit zu untersuchen, war die ganze Ordnung irgendwie gestört und ich musste ganz von vorn beginnen: das Haar, die Brauen, die Augen, die Ohrringe ... das ganze Format und seine Richtigkeit war neu zu organisieren. Doch ich vermochte diese zerstörte Schönheit nicht mehr zusammenzufügen, das Geheimnis, das mir einen Moment lang enthüllt gewesen war, verschwand. Und plötzlich trafen sich unsere Augen aus den beiden Winkeln des Caffeehausgartens. Wandas Blick ruhte auf mir und ich wusste nicht, ob in seinem Ausdruck ein Hinweis von glücklichem Lächeln oder von Überraschung, von Rechtfertigung oder von Verlegenheit lag. Vielleicht von allem etwas. Sie hob ihre dünnen, gewölbten Brauen und runzelte die Stirn ein wenig. Ihr Gesichtsausdruck hellte sich kurz auf, konzentrierte sich kurz, ihr ganzes Gesicht fragte jetzt: "Kind, was willst du?"

Ich spürte, dass die Frage an mich gerichtet war und dass ich sie nicht beantworten konnte. Wie im Moment, als ich zum Militär, der mich auf englisch nach dem Namen des Königs gefragt hatte, nicht "George" hatte sagen können, und mein Vater ein, zweimal in mein Ohr flüsterte und mich so sehr bat, das Wort zu sagen und seine Ehre gegenüber seinem Arbeitskollegen zu retten und mich gar irgendwie ungeduldig drängte, doch das Wort hatte meine Gurgel verstopft und sich geweigert zu entschlüpfen, und jetzt war nicht einmal jemand da, der die richtige Antwort auf die Frage in mein Ohr flüsterte, die im Gesicht der schönen Wanda stand.

Sie hob ihr Täschchen auf und stellte es auf den Tisch. öffnete es und begann darin zu suchen. Für einen Moment hielt sie inne und hob wieder ihren Blick zu mir, um zu sehen, ob ich sie noch immer anstarrte, als hinge davon ab, ob sie das Gesuchte noch immer finden müsse. Sofort wandte ich das Gesicht von ihr ab, eine weitere solche Begegnung unserer Blicke schmerzte ich plötzlich, als wäre ich irgendwie schuldig, aber unfähig, es zu vermuten. Einen Augenblick lang dachte ich an einen Zusammenhang mit meinem Streit mit Henrik vom Vormittag, Henrik, dessen schmale Lippen und spitzes Kinn plötzlich ans schöne Gesicht seine Schwester geklebt war. Doch er Schmerz war tiefer als das, zu geheimnisvoll, als dass ich ihn erklären konnte, vollständig aus einem Gebiet, das mir zu verstehen noch nicht bestimmt war, den ich dennoch schon mit aller Schärfe spürte, er kam bei mir zum Ausdruck im Vergehen, dass ich die Ordnung der Schönheit von Wandas Gesicht zerbrochen hatte und in der Seelenruhe, in der sie zerbrochen war, während sie dasass an ihrem Tisch in der Ecke des Caffeehausgartens. Als wäre mir ein Gefäss zerbrochen, an das ich gestossen war, und das eigentliche Vergehen lag nicht im Unglück. Sondern im Übertreten eines strengen Gesetzes, das mir nicht bekannt gewesen war, an das zu halten ich aber trotzdem gezwungen war.

Ich suchte mit meinem Blick Vater und Mutter in der Menge der Tanzenden in der Entfernung, und ich sah sie lachen und sich amüsierten. Obwohl darin eine Hauch von Furcht lag - vielleicht würden sie meine Schuld entdecken, fühlte ich zum ersten Mal in meinem Leben, dass sie nicht mehr bei mir seien und nicht bei mir stehen würden in meiner Not, so sehr sie auch wollten und sich bemühten und hätten müssen. Ich führte meine Augen zu Wanda zurück, die in ihrem Täschchen suchte und fragte mich, was sie darin suchte und ob sie mir etwas Böses antun wolle damit. Sie hob ihre Augen zu mir und wieder trafen sich unsere Blicke, doch nur für einen Augenblick, und ich war jetzt schutzlos gegen sie. Sie suchte weiter in ihrem Täschchen, bis sie ein kleines Döschen herausnahm, es öffnete, in die Innenseite des Deckels schaute (ich wusste, dass darin ein Spiegel war, wie bei Mutter) und ihr Gesicht begutachtete. Sie entnahm dem Döschen das Puderkisschen und verbesserte etwas an ihrem Gesicht. Wieder begutachtete sie sich im Spiegel, legte das Kisschen zurück an seinen Platz, schloss das Döschen und legte es ins Täschchen zurück. Mit kurzem Zögern blickte sie in die Tasche, richtete den Kopf auf und wieder trafen sich unsere Blicke. Dann wurde ihr Gesicht ernst und nahm einen festen und entschlossenen Ausdruck an. Sie zog aus der Tasche einen kleinen Geldbeutel, entnahm ihm einige Münzen und legte sie auf den Tisch. Danach verstaute sie den Geldbeutel in ihrer Tasche, schloss die Tasche und stand von ihrem Platz auf. Sie senkte ihren Blick, untersuchte ihr Kleid und zupfte etwas zurecht, hob ihren Kopf und ging mit schnellen Schritten aus dem Caffeehausgarten.

Das Orchester unterbrach sein Spiel und meine Eltern kehrten zum Tisch zurück. Ihre Stimmung war gehoben und als ich ihnen mitteilte, dass Wanda gegangen sei, begriffen sie erst nicht, was ich erzähle, und als sie begriffen, bagatellisierten sie die Sache schulterzuckend und kehrten zu ihren Geplauder und Gelächter zurück. Ich wusste, dass ich allein und im Stich gelassen war und darüer hinaus in einer Pattsituation, in die ich selbstverschuldet gelandet war, und dass ich niemanden hatte, mit dem ich dieses Unglück teilen konnte. Ich war sehr verwirrt, und als wir im Autobus ins Quartier hinauffuhren, füllten sich meine Augen mit Tränen. Vater, der neben mir sass, drückte meine Schulter und legte meinen Kopf an seinen Oberarm. Mutter sagte: "er ist müde", und ich öffnete den Mund und sagte: "George, George, George, und seine Frau heisst Elisabeth, Elisabeth..." Meine Eltern brachen in Gelächter aus und die Erinnerung an diese Stunden der Einsamkeit blieben mir unvergesslich.

Als ich am nächsten Morgen in die Strasse hinausging, stand Henrik ohne Fahrrad gegenüber meinem Haus und blickte zu mir und wartete ab, wie ich mich ihm gegenüber verhalten würde. Weil ich zu humpeln vergass, zeichnete sich Hoffnung in seinem Gesicht ab, doch ich erinnerte mich auch nachträglich und machte ein saures Gesicht. "Wo ist sein dreckiges Fahrrad?" fragte ich. "Zuhause", antwortete Henrik und erinnerte sich nicht an das verbogene Schutzblech. "Möchte er mit mir Splitter sammeln kommen?" - "Ich kann mit diesen Splittern nichts anfangen", sagte Henrik. "Aber ich brauche sie", sagte ich. "Das ist sicher etwas Geheimes", spottete Henrik. "Ja, es ist geheim."

So stiegen wir zum Hügel hinunter, um Splitter zu suchen. Während wir uns bückten und die Erdoberfläche absuchten, richtete sich Henrik plötzlich in seiner eigenen Art auf, hob den Kopf dem Himmel entgegen, rümpfte seine Nase wie ein Hase, um die Brille den Augen näherzurücken und breitete seine Arme seitlich aus, wie um das Gleichgewicht zu halten. "Was für ein Dummkopf, was für ein Dummkopf bin ich!" sagte Henrik. "Was ist los?" fragte ich. "Jetzt begreife ich, jetzt begreife ich, was mein Fehler war." Er schwieg eine Moment lang und blickte zum Himmel, so konnte er sich anscheinend besser konzentrieren und fuhr fort: "Jetzt begreife ich, was mein Fehler war, gestern Abend, als ich mit meinem Vater spielte. Wenn ich jenen Fehler nicht gemacht hätte, hätte er mich nicht besiegt. Ich dachte nicht daran." Er ging sich auf sein Felsstück in der Nähe setzen, und ich setzte mich auch zu ihm. Er schlug sich mit den geballten Fäusten an die Schläfen, als wolle er sich selbst für seinen Fehler bestrafen, und sagte: "Was für ein Dummkopf, was für ein Dummkopf!" Dann schwieg er und ich nahm einen Splitter, den wir gefunden hatten, und vergrub ihn in der Erde vor unseren Füssen. Um ihn abzulenken, erzählte ich ihm vom Mann mit dem roten, wilden Bart, der im Autobus geschrien und geweint hatte: "Alle bumsen, und auch ich will bumsen! Auch ich habe ein Recht zu bumsen!" Henrik blickte mich an und fast leuchteten seine Augen, und schon interessierte ihn sein Fehler im Schachspiel mit seinem Vater nicht mehr. Wir kicherten lange und Henriks Augen schweiften irgendwie in weite Ferne und die Bilder, die er dort sah, bereiteten ihm sehr wahrscheinlich grosses Vergnügen. Er stand vom Felsstück auf und stellte sich wieder in der vorherigen Position hin. "Ich weiss Flüche und fürchterliche Gassenausdrücke, wie es sie in Ivrith nicht gibt", sagte er. "Er soll erzählen", bat ich. Er breitete seine Hände seitlich aus und öffnete seinen Mund und mit all seinen Kräften rief er gegen den Himmel die fürchterlichsten Dinge, deren Bedeutung ich nicht verstand, weil sie in seiner Sprache waren, doch schon der fremde Klang war genug, um eine Gänsehaut von verbotenem Vergnügen und ein Gefühl von Gesetzlosigkeit und Schmutz zu erregen. Das war etwas wie "Patschra kaschsdaz naschpartsch dazchuschtsch ..." und es ging einige Minuten lang ununterbrochen weiter, bis Henriks Gesicht vor Anstrengung und Begeisterung rot war, und als er fertig war, war er atemlos. In der Stille rollten in der Luft die Endungen der Klänge und Gassensilben noch nach, in denen eine Kraft verborgen war, die sehr dunkel und gefährlich war, und doch die Seele aufreizend weckte. Henrik blickte mich mit siegesgewissem Lächeln an und ich unterdrückte meine Bewunderung nicht, ich verachtete nicht mehr, dass er mir auf dem Fahrrad seine Kunststücke vorgeführt hatte. Er kam an seine Platz neben mir auf dem Felsstück zurück und wir hoben unsere Augen zum Meer. "Hat er sein Fahrrad repariert?" fragte ich, "das Schutzblech hat sich verbogen, als ich fiel." - "Das ist nichts", sagte Henrik, "ich bog es auf dem Heimweg zurecht." - "Hat man ihn deswegen zuhause ausgeschimpft?" - "Sie haben nichts gesagt." - "Ich möchte, dass er mir diese Flüche beibringt", bat ich. Und er liess mich sie hören und repetierte Silbe für Silbe, und ich versuchte sie nachzusprechen und mit meiner Zunge zu rollen und diese wunderschönen Klänge zwischen den Zähnen zu sprechen, und Henrik brach bei jedem Fehler, den ich machte, in heiseres Lachen aus.

An den folgenden Tagen sassen wir oft auf diesem Felsstück, blickten bis zum Abend zum Meer und lehrten meine Zunge die Gassenflüche rollen, bis ich sie alle auswendig konnte und auch bei ihrer Aussprache keine Fehler mehr machte, wenn ich auch nicht Henriks Niveau erreichte. Aber noch immer sprachen wir in der ErSprache und Henrik machte keine Bemerkung darüber, als ob man so und nicht anders sprechen müsse. Ich kenne die Scham, die in den ersten Momenten nach dem Übergang zur DuSprache liegt. Aber warum war ihm die Sache so wichtig und so eilig? Meine Weigerung betrübte ihn und forderte mit ernster Stimme, die mich an die Stimme einer alten Frau erinnerte, wie in den Tagen, als ich sie zum ersten Mal hörte, als ich zu ihm nach Hause kam und ihm vorgestellt wurde. "Ich will, dass er mir sagt, jetzt, auf der Stelle, warum er mit mir schmollt. Was habe ich ihm getan? Er soll mir eine einzige schlechte Tat sagen, die ich gegen ihn getan habe." Ich wusste nicht, was zu antworten. Die Nachmittagsstunden zogen sich in die Länge und vergingen und wir sprachen nicht. Auf unserem Fels gegenüber dem Meer sassen wir, Henrik stützte sein Gesicht in die Handfläche. Er presste seine Finger an sein Gesicht, drückte weisse Spuren in seine rosa gereizte, wie stets verbrannte Haut. Er sass und schwieg und ich wusste nicht, was er plötzlich hatte. Ich brach die Stille mit der Kette von Flüchen, doch er unterbrach mich in der Mitte: "Ich werde überhaupt nicht mehr mit ihm sprechen, bis er aufhört, mit mir zu schmollen. Ich werde nichts mehr antworten. "- "Aber was geht's ihn an?" schrie ich, "ist er nicht mein bester Freund?" - "Wie lustig", sagte Henrik, "mein bester Freund, mein bester Freund, und spricht so mit mir." Wir schwiegen wieder lange Zeit und ich hatte Angst, dass Henrik aufstehen und weggehen würde, und wir uns nie wieder sehen würden. Diese Angst brachte ihn meinem Herzen näher als irgendwann. Ich fürchtete, dass er auch nicht mehr mit mir zu den CharlesChaplinFilmen kommen wollen würde, die wir uns am Abend im Volkshaus ansehen gehen wollten. Plötzlich sagte Henrik: "Wenn er mit mir Frieden schliesst, verrate ich ihm ein Geheimnis, das nicht einmal mein Vater und meine Mutter wissen." Das schien mir ein möglicher Ausweg. Ich stimmte dem Geschäft zu. "Nach dem Film verrate ich es ihm", sagte Henrik.

Zur abgemachten Zeit gingen wir zum Volkshaus und setzten uns auf einen der Holzbänke, um die Unterhaltungsfilme zu sehen. Wir sahen Chaplin zwischen den Waggons auf den Schienen herumwatscheln, Polizisten verfolgten ihn, er entkam ihnen, versteckte sich und machte verrückte Sachen und die ganze Menge lachte und lauter als alle war die heisere Stimme Henriks, de neben mir mit grossem Gelächter muhte. Ich gab mir Mühe, in sein Gelächter einzustimmen, obwohl ich nur wenige der Szenen des Films verstand und auch nicht der Witz, der in ihnen lag. Und Henrik schlug mir seinen Händen auf die Knie und auf den Kopf und fand vor lauter Lachen kaum Platz auf der Bank. Ich schnitt Grimassen des Lachens, doch ich wusste, dass dies nicht genug war. Ich schämte mich, Henrik zuzugeben, dass ich nichts verstand, und innerlich bat ich, dass diese Filme bald zuende gehen mochten. Henriks Lachen schmerzte mich, der auf einmal seinen Zorn über unser Schmollen vergessen hatte und den nichts mehr interessierte. So schnell waren für ihn die Sachen vergessen, die sein Gemüt ein, zwei Stunden davon noch getrübt hatten. Jetzt war er bei sich und bei Charlie Chaplin, und vielleicht hatte er sogar vergessen, dass ich neben ihm sass und er mir nach dem Film ein Geheimnis verraten wollte, und vielleicht lohnte es sich für ihn schon nicht mehr, mir das Geheimnis zu verraten, da ich in seinen Augen sowieso keinen Wert mehr hatte - ich nicht und mein Schmollen nicht.

Unterdessen hatte ich die Filme satt und je mehr Henrik lachte, desto mehr hasste ich den verunstalteten Menschen, der mit seinem Stock und seinen Lumpen, watschelte und sprang, seinen hässlichen Verfolgern vor unseren Augen entkam, deren Gesicht voller Haare war, und die Aussicht auf schwarze Eisenbahnwaggons und die staubige Luft der Umgebung und das trübe Licht, das von einer gekrümmten Laterne im Hintergrund einer Abfallhalde ausging - all dies mit dem muhendem Gelächter der Menge und insbesondere Henriks, riefen in mir mit Abscheu die Erinnerung an das dreibeinige Huhn wach, das man vor langer Zeit, am Todestag meines Grossvaters in Jardenis Spelunke im Dorf gezeigt hatte, und ich erinnerte mich an die Menge, die um den Käfig stand lachend und dem Ungeheuer Provokationen zurufend.

Als der letzte Film zu Ende war, standen wir von der Bank auf, Henriks Augen waren vom Lachen gerötet und zugekniffen vom Übergang vom Dunkel zum Licht, das im Saal anging. Ich wunderte mich, ob Henrik wieder bei mir war oder schon wieder weit weg, oder ob er wieder nichts dachte ausser Charlie Chaplin und seine abscheulichen Streiche und ob er die Sache mit dem Geheimnis bereute. Ich fragte ihn nicht und ich versuchte ihn nicht daran zu erinnern. Als wir auf den Wasserturmplatz des heraustraten, hielt er mich an zu warten, und wir standen und warteten. Die Menge verzog sich, der Platz leerte sich und Henrik sagte: "Er soll jetzt kommen." Ich folgte ihm, wusste aber nicht, was die ganze Zeremonie sollte.

Wir erreichten ein Restaurant und Henrik legte den Finger auf seine versiegelten Lippen, um mir zu zeigen, dass ich schweigen sollte. Wir betraten den vernachlässigten, leeren, dunklen Garten vor dem Restaurant und hörten Tanzmusikklänge und Gelächter von Menschen aus dem Haus. Wir gingen um die Wand des Restaurants herum und erreichten den Winkel eines geöffneten Fensters, dort bückte sich Henrik und ich tat es ihm nach. Er deutete mir, am Ort sitzen zu bleiben, richtete sich langsam, langsam entlang der Mauer und des Fenstersturzes auf, blickte nach vorn und bedeutete mir, aufzustehen. Ich stand auf und sah den Saal des Restaurants, in dem bunte, matte Glühbirnen auf einer von Wand zu Wand gespannten elektrischen Leitung schön gegen die Dunkelheit aufgehängt waren, und Zigarettenrauch wurde im Raum aufgewirbelt, wie wenn ebnen erst dort ein Brand gelöscht worden wäre. Soldaten lümmelten sich auf den Stühlen und tranken, und einige von ihnen tanzten mit Mädchen zu den Klängen des Grammophons, der auf einem der Tische stand. Unter den Mädchen war die schöne Wanda, umfangen in den Amen eines der Soldaten.

Henrik liess sich vom Schauspiel fesseln, und ich sah seine Schwester Wanda, die ohne Unterlass ziemlich laut lachte, sie bewegte ihre Schultern hin und her im Versuch, sich aus der groben Umarmung des Soldaten zu retten, doch es gelang ihr nicht. Ihr gelocktes, üppiges Haar wippte mit den Tanzbewegungen mit und ihre Achselhöhlen befleckten ihr buntes Kleid mit Schweiss. Ich konnte diese Wanda nicht mit der Wanda, die ich im Café Panorama gesehen hatte, mit der Wanda, von der meine Eltern gesagt hatten, sie sei so schön, in Zusammenhang bringen, auch wusste ich nicht, wie ich auf das Schauspiel reagieren sollte. Ich blickte zu Henrik, er war wie gefesselt vor Zauber, vielleicht hatte er schon wieder vergessen, dass ich neben ihm war.

Der Tanz war zu Ende und jemand stand auf, die Platte auf dem Grammophon zu wechseln, doch der Soldat wollte Wanda nicht in Ruhe lassen und sie stiess ihn mit Kraft von sich. Er schwankte einen Moment und fiel zu Boden. Seine Kameraden brachen in lautes Gelächter aus. Wanda ging sich auf einen der Stühle setzen, atmete schwer und wedelte mit der Hand vor ihrem brennenden Gesicht. Wie im Café Panorama öffnete sie ihre Tasche und zog die kleine Dose heraus, betrachtete ihr Gesicht im Spiegel und richtete etwas mit dem Puderkissen. Henrik stand noch immer wie festgewachsen an seiner Stelle, seine Augen waren mit einem Blick voller Zärtlichkeit und aufopfernder Liebe auf seine Schwester geheftet. Ich legte meine Hand auf seine Schulter, um ihm mitzuteilen, dass ich neben ihm sei und auch, um ihm eine andere Mitteilung zu machen, deren Formulierung ich noch nicht kannte, und er wich erschreckt zurück und blickte mich an wie einen Fremden. Noch nie sah ich ihn so blicken - sehr ernst, erwachsen und sehr weit von mir entfernt. Ich nahm meine Hand von seiner Schulter und er blickte um sich, um zu sehen, ob nicht jemand käme, um uns zu fassen. Wieder blickte er nah vorn und wieder war derselbe Blick voller Zärtlichkeit und Aufopferung in seinen Augen, als e seiner Schwester zusah, wie sie mit dem Puderkissen irgend etwas an ihrem Gesicht weiter ausbesserte. Mit ihr neigte er das Gesicht zur Seite, hob das Kinn, wie wenn er ihr bei der Schminkarbeit helfen wollte, wie Mütter, die mit ihren Mündern Kaubewegungen machen, während sie ihr Baby füttern, vielleicht hoffen sie, ihrem Baby das Schlucken der Nahrung zu erleichtern. Wanda legte die kleine Dose in ihre Tasche zurück, stand von ihrem Platz auf und ein anderer Soldat ging mir ihr zur Bar. Sie erhielten zwei Gläser Getränk und standen, um zu trinken, zu reden und zu lachen. Henrik beteiligte sich weiter an ihren Gesichtsausdrücken, lächelte mit ihr, wenn sie lachte und nahm einen fragenden Gesichtsausdruck an, wenn sie etwas fragte und auf die Antwort des Soldaten wartete.

"Komm lass uns weggehen", bat ich. "Noch einen Moment", sagte er und beobachtete weiter. "Man wird uns schnappen und uns den Kopf zerschmettern." Er schwieg und liess kein Auge von ihr. Ich setzte mich unter das Fenster und wartete, bis er fertig beobachtet hatte, und ich war wütend, da das Versprechen schon erfüllt war und es nichts mehr zu sehen gab. Nach einigen Minuten setzte auch er sich neben mich und sagte nichts. So sassen wir gegenüber der Hecke des Restaurants und lehnten uns an die Wand, Dunkelheit umgab uns, nur durch das Fenster über unseren Köpfen wirbelte Zigarettenrauch nach draussen, ritt auf den schwachen Lichtbündeln, die aus dem Saal traten, und auf den Klängen der Tanzmusik des Grammophons und des Gelächters der Soldaten und Mädchen.

Henrik sass schweigend und plötzlich hörte ich ihn flüstern, er zischte zwischen seinen Zähnen die Kette der Flüche in seiner Sprache, doch diesmal nicht mit siegesgewissem Jubel und Provokation angesichts der ihnen innewohnenden verborgenen Kraft, sondern fast gleichgültig, sehr skeptisch, mit dem Gefühl, dass sie nichts als bloss Worte waren, die nichts änderten. Als er die Kette beendet hatte, wiederholte er sie noch einmal mit demselben enttäuschten und schwachen Unterton, und als er zum zweiten Mal fertig war, stand Henrik auf und ich auch und gebückt gingen wir der Mauer entlang und durchquerten den dunklen Garten, bis wir am Wasserturmplatz anlangten.

Henrik ging schweigend und ich auch neben ihm. Ich wusste nicht, was ich ihm sagen konnte. Wir gingen die leere, dunkle Strasse hinunter, an seinem Haus vorbei, gingen weiter, an meinem Haus vorbei, gingen weiter, bogen zum Hügel ab und kamen bei unserem Fels an. Dort setzten wir uns und Schweigen war zwischen uns. Nach einer langen Weile sagte ich: "Denkst du, dass auch jetzt Ballone gegen Flugzeuge am Himmel sind?" Henrik hob den Kopf zum Himmel, schaute einen langen Moment und sagte: "Ich glaube schon." - "Aber man kann sie nicht sehen im Dunkel", bemerkte ich. "Sie haben sie absichtlich so gemacht, dass die Flugzeuge sie nicht sehen können." - "Es kann sein, dass der Himmel jetzt voller solcher Ballone ist", sagte ich, "bis einer den andern berührt." Die beiden Lichtbündel der Scheinwerfer wanderten langsam über den Himmel in die beiden Ecken des unsichtbaren Horizonts, doch auch in ihrem Licht schafften wir es nicht, die Ballone zu sehen. Die Stunde war schon fortgeschritten, doch keiner von uns stand auf, um nach Hause zu gehen, auch wenn wir wussten, dass unsere Eltern uns suchten.

Henrik stand aus seinen Gedanken auf. "Es war's heute nicht wert", stellte er fest, "bei den früheren Malen war es viel lustiger." und er begann, in sich hinein zu lachen. Aber ich konnte nicht mit ihm lachen. Aus irgend einem versteckten Winkel in mir, der Henriks Geheimnis kannte und an ihm teilnahm, seither und schon immer, noch bevor er es mir erzählt und mich mitgenommen hatte, die lustigen Dinge zu sehen, stieg das Bild vor meine Augen, das mich fesselte und es nicht serios bleiben liess: die lachende Wanda in den Armen des betrunkenen Soldaten, schön wie nie zuvor, viel schöner als sie in Wirklichkeit an jenem Abend im Restaurant gewesen war, zum Fürchten schön, wie ich schliesslich zu begreifen lernte, bewegte sie sich langsam, als ob sie in Ohnmacht fallen würde, durch einen Traum hindurch, eingelullt in bunte und angenehme, leuchtende Melodien - und ihr gegenüber Henrik, der von draussen durchs Fenster blickte, seine Augen zusammengekniffen, vielleicht schaute er, vielleicht wachträumte er, süchtig in der Sehnsucht nach der Art jeder ihrer Bewegungen, nach jedem ihrer Momente, als ob er sie aus irgendeiner Gefahr erlösen wollte, indem er sich an ihre Stelle stellte und die Schläge auf sich nähme die ihr aus Bosheit zugefügt würden. Und schon war er nicht mehr das Kind, das ich kannte, denn die Gefahr war durch sie provoziert, irgendwie lullte sie auch ihn ein in die Aura von Traum und Schönheit. Dies war nicht das Kind, das mir in ebendiesem Moment auf dem dunklen Hügel gegenüber stand und lachte, den Arm auf meine Schulter legte und mit seiner alten, heiseren Stimme lachte: "wie lustig, wie lustig!", in die Hände klatschte, auf seine Knie schlug und ohne Unterlass lachte, mich aus meiner Erstarrung aufzurütteln versuchte, sich wieder und wieder anstrengte, um mich aus dem fesselnden Bild zu reissen. Als seine Anstrengungen mich nicht zum Lachen bringen konnten, hörte auch er auf zu lachen, trat ein paar Schritte zurück und erforschte mein Gesicht. Wir standen einander einen Moment lang schweigend gegenüber, der wie eine Stunde dauerte, plötzlich kam er näher, hob die Hand und gab mir eine schallende Ohrfeige. "Warum lachst du nicht? Lach doch! Lach!" rief Henrik und schlug mich weiter.

Meine Wangen glühten. Ich drehte mein Gesicht weg und kehrte langsam auf dem Weg zurück, der den Hügel hinaufführte. Ich wusste, dass er stehenblieb und mir bald folgen würde. Ich drückte meine Hand aufs brennende Gesicht, und als ich die Strasse hinaufging, fühlte ich mich sicherer, auch wenn alles um mich herum dunkel war und die Häuser nichts von ihrem Innern preisgaben. Nach einem Moment hörte ich seine Sandalen einige Schritte hinter mir auf der Strasse kratzen, er atmete schwer. Als ich an meiner Haustür ankam, hielt ich an und schaute, ob er an mir vorbeiging. Er kam an der Tür an, hielt neben mir, schwieg und atmete. Doch in der Dunkelheit konnte ich nicht erkennen, was hinter seinen Brillengläsern vorging.


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